DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD


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Neurosis Austriaca

Am 20. Jänner 2010 war auf der Titelseite der österreichischen Tageszeitung Der Standard zu lesen: „Homepage des Parlaments versteckt braune Flecken.“ Der dazugehörige Bericht im Blattinneren nennt eine Mehrzahl von Beispielen, bei denen in den Kurzbiografien der Parlamentsabgeordneten deren Funktionen und Aktivitäten während der Zeit des Nationalsozialismus ausgespart sind. Wie weiter berichtet wird, war diese Tatsache den Verantwortlichen zwar bekannt, aber man verwies auf die bevorstehende Neugestaltung des Webauftritts des Parlaments, in dem diese Lücken geschlossen werden würden.

So weit – so ungut, wenn man bedenkt, was alles nicht geschehen wäre, wären diese Lücken gar nicht entdeckt worden. Der österreichische Wesenszug des Verdrängens wäre weltweit gegenwärtig, doch unbemerkt geblieben.

Verdrängung ist ein psychischer Vorgang, bei dem unangenehmen Erinnerungen der Weg ins Bewusstsein versperrt wird. Gerade in Zeiten existenzieller Krise kommen Verdrängungsprozesse vermehrt zum Tragen. Das Schicksal Österreichs in den vergangenen rund einhundert Jahren ist eine Abfolge solcher Krisen und nicht wenige Publizisten, die sich mit Österreich beschäftigten, machten sich der Verdrängung schuldig.

Einer der meistgelesenen Verdränger war Anton Wildgans (1881-1932) mit seiner 1929 verfassten »Rede über Österreich«. In ihr beschrieb Wildgans „den Österreicher“ als einen „Menschen, der sich hineindenken konnte, ja, hineindenken musste in fremde nationale Gefühlswelten, in fremde Volksseelen, so wurde er Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner, mit einem Wort: Psychologe. Und Psychologie ist alles! Und Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Menschen und Völker! Das Unheil, das immer wieder in Gestalt von Kriegen oder Klassenkämpfen die Welt überflutet, es stammt zumeist von dem Mangel an Psychologie, von dem fehlenden Willen zur Psychologie, von der Trägheit der Geister und der Herzen, die sich mit bloßen Gerüchten über den anderen und mit Lügen über den anderen begnügen, anstatt ihn zu erkennen und dadurch in seiner Wesensart, in seinen Leidenschaften, Empfindlichkeiten und Ansprüchen zu begreifen. Dieses Erkennen und Begreifen nun ist sozusagen die historische Natur des österreichischen Menschen.“

Wie groß die Verdrängungsleistung Wildgans’ bei der Niederschrift dieser Zeilen gewesen ist, wird so richtig klar, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Ereignisse des 15. Juli 1927 kaum zwei Jahre zurücklagen. Damals kamen bei Demonstrationen gegen ein politisch motiviertes Fehlurteil, in deren Verlauf der Justizpalast brannte, 89 Menschen durch die Schüsse der Polizei ums Leben. Aber auch schon früher, zu Zeiten, an die sich Wildgans hätte erinnern müssen, zeigte sich „der Österreicher“ keineswegs so einfühlsam, wie es der Dichter darstellt. Es sei nur an 1895 erinnert, als „österreichische Menschen“ bedenkenlos eine Staatskrise herbeiführten, um die Einrichtung eines slowenischen Gymnasiums in Cilli, heute Celje, zu verhindern, oder an die Krawalle des Jahres 1897 als Antwort auf die Sprachenverordnungen des Ministerpräsidenten Graf Badeni oder an die Tatsache, dass von 1918 bis 1929 in Österreich bei politischen Aufmärschen und Auftritten rund 180 Menschen zu Tode kamen und rund 440 schwer verletzt wurden.

Zwei Bürgerkriege und zwei Weltkriege haben den österreichischen Hang zur Verdrängung keineswegs beendet. Wurde er staatsoffiziell? Die Unabhängigkeitserklärung der Provisorischen Staatsregierung vom 25. April 1945 unter der Federführung von Karl Renner legte sich allen Ernstes auf folgende Worte fest: „Angesichts der Tatsache, dass der Anschluss des Jahres 1938 nicht, wie dies zwischen zwei souveränen Staaten selbstverständlich ist, zur Wahrung aller Interessen durch Verhandlungen von Staat zu Staat vereinbart und durch Staatsverträge abgeschlossen, sondern durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepresst, endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist [...] und endlich angesichts der Tatsache, dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, […] zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat [...]“ und so weiter und so weiter.

Was solcherart vorgetragen wurde, ist zwar rund wie eine Bühnenrede, spart aber eine Menge historischer Fragen aus: Waren es etwa keine „wahren Österreicher“, die 1934 aufeinander schossen? Waren es keine „wahren Österreicher“, die zu Hunderttausenden 1938 die Rückkehr des „österreichischen Katholiken“ Hitler (ein Wort von Friedrich Heer) in ganz Österreich bejubelten? Waren es keine „wahren Österreicher“, die wenig später Jüdinnen und Juden zu „Reibepartien“ zusammen trieben, um sie die Parolen der ständestaatlichen Regierung vom Pflaster wegwaschen zu lassen? Und waren und sind das keine „wahren Österreicher“, die damals wie heute von Katzelmachern und Tschuschen redeten und reden – und das ganz ohne „Gefühle der Feindschaft und des Hasses“?

Die Verdrängung ist hierzulande verbreitet und sie ist nicht harmlos. Sie führt zu Neurosen, die Sigmund Freud als „das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte“ beschrieben hat, dessen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit völlig nebensächlich ist. Ja, mehr noch – der Wahrnehmung der Wirklichkeit wird entschiedener Widerstand entgegen gesetzt. Wie heftig dies geschehen kann, zeigte sich am 4. November 1988, als rund 500 Menschen vor dem Burgtheater gegen die Aufführung von Thomas Bernhards »Heldenplatz« protestierten und dabei eine Fuhre Pferdemist vor dem Theatergebäude abluden. Sie bedachten wohl nicht, dass dieser Mist als Symbol für jenen Schmutz stand, den sie und ihre Vorfahren im Geiste seit Generationen unter den Teppich zu kehren pflegten.

Wesentlich wirklichkeitsnäher als Anton Wildgans und Karl Renner traf Jörg Mauthe in seinem 1974 erstmals erschienenen Roman »Die große Hitze oder Die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi« das österreichische Wesen, als er schrieb: „Unser [der Österreicher] ganzes Interesse gilt der Vergangenheit. Und zwar einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat und die nur ein Mythos ist, eine Legende von Heiterkeit und Würde […]. Ja, wir wollen jene nie vorhanden gewesene Vergangenheit wiederherstellen, in der zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Tat und Wort, zwischen Märchen und Sachbericht, zwischen Phantasie und Logik keine Trennung bestand.“

Schöner kann man das Wesen der Neurose kaum beschreiben – aber trotzdem: In einer Zeit der Globalisierung und der rasch zunehmenden Vernetzung auf allen Gebieten, sollte man doch endlich die Augen öffnen und der Wirklichkeit ins Auge sehen.

Anton Szanya


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