DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Mythographia Austriaca

Von Reichsträumen und Traumreichen

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts trafen manche Historiker bemerkenswerte Feststellungen über Österreich und seine Bevölkerung.

So ließ beispielsweise Hugo Hantsch seine »Geschichte Österreichs« mit den Worten ausklingen: „Der Österreicher muss wissen, woher er kommt. Er muss seine Geschichte kennen und sie lieben. [...] Dazu gehört aber auch, dass er dem Herrscherhaus die Achtung und Ehre zollt, das ihn zu einer großen Auffassung seiner Existenz erzogen, das ihn mit so herrlichen Kulturgütern bereichert und ihm jenen Sinn für einen echten Universalismus überliefert hat, der ihn befähigen kann, der beste Europäer zu sein.(1)

Etwas nüchterner schloss Erich Zöllner seine »Geschichte Österreichs«, als er schrieb: „Zweifellos aber gilt es, in einem Zeitalter großer weltpolitischer und ideologischer Konflikte eine aufgeschlossene, tolerante und wahrhaft weltbürgerliche Gesinnung zu wahren, die seit je den besten Traditionen des Österreichertums entsprach.(2)

In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Rolf Bauer, der am Ende seiner Darstellung der Geschichte Österreichs diesem bescheinigte, es verfüge „über den Vorteil einer langen Erfahrung im Umgang mit verschiedenartigen europäischen Völkern“, woraus er dann ableitete: „Der deutsche Österreicher hat dieses Vermögen als Erbschaft aus den Jahrhunderten der Habsburger-Monarchie in die Gegenwart herüber gerettet und in der zähen und doch glücklichen Anvisierung des Staatsvertrages schon einmal erfolgreich unter Beweis gestellt.(3)

Zwar in unterschiedlicher Wortwahl, aber dem Sinne nach übereinstimmend zeichneten die drei Historiker von den Österreichern und Österreicherinnen das Bild eines weltoffenen, toleranten und einfühlsamen Volkes. Man fragt sich, wie sie zu diesem Bild kommen konnten angesichts der Gewaltausbrüche im Verlaufe des so genannten Oktoberstreiks des Jahres 1950, angesichts der Ermordung Ernst Kirchwegers bei einer Demonstration gegen den politisch weit rechts stehenden Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz oder angesichts der in weiten Kreisen verächtlich als „Tschuschen“ bezeichneten „Gastarbeiter“, die in den sechziger Jahren ins Land geholt worden waren.

Für die beschönigende Sicht der Dinge mögen psychologische Ursachen Ausschlag gebend gewesen sein. Es ist denkbar, dass die Historiker sich als Vertreter des von ihnen beschriebenen „Österreichertums“ fühlten und die vorhin kurz angedeuteten hässlichen Seiten desselben bewusst oder unbewusst aus ihrer Beschreibung ausblendeten. Sie standen somit in einem „Konflikt zwischen bewussten und unbewussten Tendenzen in [ihrem] Inneren“(4), wie Erwin Ringel diesen Vorgang beschrieb. Dieser Konflikt trübt die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sigmund Freud erläuterte hierzu: „Die Neurotiker leben in einer besonderen Welt, in welcher […] nur die ‚neurotische Währung‘ gilt, das heißt nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen Übereinstimmung mit der äußeren Realität aber nebensächlich.“(5) So besehen liegt den eingangs wiedergegebenen Äußerungen der Historiker eine Realitätsverweigerung zu Grunde.

Auf welche Realität der Blick verweigert wurde, lässt sich leicht erkennen: Es ist die wenig erhebende Wirklichkeit eines zur Bedeutungslosigkeit geschrumpften Kleinstaates in Europa. Um das Unbehagen über diese Tatsache zu überdecken, versuchten Hantsch, Zöllner und Bauer, etwas von dem Glanz der untergegangenen Habsburger-Monarchie in ihre matte Gegenwart herüber zu retten. Sie standen damit nicht allein. Der Erfolg der damals gedrehten »Sissi«-Filmen oder später die teilweise staatsoffizielle Anteilnahme am Begräbnis der letzten Kaiserin Zita im Jahr 1989 wie auch an der Hochzeit des „Kaiserenkels“ Karl Habsburg-Lothringen im Jahr 1993 zeigten, dass viele Österreicherinnen und Österreicher sich nach all den seither vergangenen Jahrzehnte noch immer in einem Kakanien beheimatet fühlten, das gleichsam im milden Abendlicht verklärt wie ein verlorenes Paradies erscheint.

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Eine Ausnahme unter den Historikern war damals Alphons Lhotsky. Er sah im derzeitigen territorialen Bestand Österreichs die Wiederherstellung eines bereits im 15. Jahrhundert erreicht gewesenen Zustandes. „Eine ‚Geschichte Österreichs‘“, schrieb er im Jahr 1967, „darf heute nur noch demjenigen Territorialkomplex gelten, der sich im Laufe des Mittelalters durch spontane Konvergenz der Landschaften in weitgehender Identität mit der politischen Gestaltungskraft dreier Dynastien zu einer lebenskräftigen Einheit entwickelte, die über zahllose Krisen hinweg ihre Daseinsberechtigung erwiesen hat. Die Republik Österreich der Gegenwart ist nichts anderes als das nur wenig modifizierte ,Haus Österreich‘ der Zeit Friedrichs III.“(6)

Die Formulierung Lhostkys von der über zahllose Krisen hinweg erwiesenen Daseinsberechtigung des kleinen Österreich öffnete aber doch wieder die Schleusen für eine mythologisierende Geschichtsschwadronistik, die im Interesse einer nüchternen, der Wirklichkeit verpflichteten Geschichtsschreibung längst überwunden hätte sein sollen. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür bietet Georg Wagner mit einer sich auf Lhotsky berufenden bemerkenswerten Geschichtsdeutung: „Was sind diese Worte anderes als die kaum verhüllte Konzeption der österreichischen Staatsidee, die sich doch wie ein roter Faden durch Entstehen, Entwicklung und Wesen des alt-neuen norisch-rätischen, ostalpin-danubischen, dann bajuwarisch-fränkisch-slawischen, romanisch-germanischen, kulturell multinational angereicherten Österreich hindurchzieht, das in die Erste und Zweite Republik und 1955 in einen nunmehr endlich geklärten Staatssinn (Neutralitätsstatut) mündete.“(7) Bemerkenswert an dieser Suada ist neben ihrer Schwülstigkeit auch die darin enthaltene Anschauung von einem nunmehr erreichten „Ende der Geschichte“, mit dem Österreich nun endlich zur Ruhe gekommen wäre.

Dieses Bild von dem mit der Neutralität endlich erreichten Ende der Geschichte fügte sich nahtlos in eine andere, in weiten Kreisen verbreitete Vorstellung ein, nämlich in das Bild von Österreich als einer abgelegenen, von den Stürmen der Geschichte unberührten Insel. Diese Vorstellung reicht bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als Anton Wildgans seine berühmte »Rede über Österreich« mit den Worten schloss: „In diesem Sinne, daß unser mit allen Gotteswundern der Schönheit begnadetes und von freundlichen Menschen bewohntes Land auch weiterhin ein Eiland des Gesanges sei und daß von ihm die edle Heiterkeit und die starkmütige Ergriffenheit menschlicher Herzen ausgehe, in diesem Sinne wollen wir Österreicher Phäaken sein und bleiben!“(8) Unter dem Einfluss dieses Bildes von der Insel der Phäaken gewann die politische Neutralität Österreichs in den Köpfen seiner Bewohnerinnen und Bewohner seltsame Wesenszüge. Einerseits bot sich die Neutralität als Stütze an, an der sich ein eigenständiges österreichisches Nationalbewusstsein empor ranken konnte. Nachdem sie nicht mehr kaiserlich oder deutsch sein konnten und auch nicht mehr so ergeben katholisch sein wollten, hatten die Österreicherinnen und Österreicher nun etwas, woran sie sich halten konnten – sie waren neutral, was immer sie darunter verstehen mochten. Auf jeden Fall bot die Neutralität die Rechtfertigung für den Wunsch, sich aus der Weltgeschichte zu verabschieden und damit überall beliebt zu sein und von niemandem bedroht zu werden. Als Papst Paul VI. gegenüber Bundespräsident Franz Jonas im November 1971 das Wort von Österreich als „Insel der Seligen“(9) prägte, erfuhr der österreichische Eskapismus damit gleichsam seine Rechtfertigung aus allerhöchstem Munde.

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Früher oder später zerschellt das „intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte“ jedoch an der Wirklichkeit. In den weitaus meisten Menschen bewirkt die Zerstörung ihrer neurotischen Scheinwelt Angst. Mit der Erkenntnis, dass Österreich keine Insel ist, sondern eingeflochten in die Vielfalt von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen, sehen sie sich den ins Land strömenden Ausländern, den undurchsichtigen Machinationen der Finanzwelt oder der unverstandenen internationalen Politik – auf den Punkt gebracht in dem Kürzel „EU“ – schutzlos ausgeliefert. Sie flüchten sich in Wunschgebilde idealer Gemeinschaften wie der Nation oder kultureller Identität. Dort gibt es noch Vertrautheit, Ordnung und Überschaubarkeit und aus deren Kraft und Größe strömt dem bedrohten einzelnen neue Kraft zu. „So finden wir psychodynamisch im Kern von Fremdenhass und Nationalismus mächtige Vorstellungen von Reinheit, Ganzheit, Unversehrtheit und ununterschiedenem Einssein“, erläutert hierzu Werner Bohleber. „Diese sind deshalb so dominant, weil sie der Abwehr von Phantasien und Ängsten über Versehrtheit, Beschädigung und Begrenztheit, Trennung und Ausstoßung dienen [...] Selbstbehauptungswünsche und Insuffizienzgefühle bilden auf diese Weise eine explosive Mischung, die sich im Fremdenhass gewalttätig entladen kann. “(10)

Das heißt also: Die Zerstörung einer neurotischen Scheinwelt führt häufig zum Aufbau einer anderen Scheinwelt. Ein sehr konservativer Medienzar und ein ständig die Geschlechtsreife signalisierender Oppositionspolitiker tragen das ihre hierzu bei.

Anton Szanya

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1) Hugo Hantsch: Die Geschichte Österreichs. Bd 2. Graz, Wien, Köln 31962, 546.
2) Erich Zöllner: Geschichte Österreichs; Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 31966, 573.
3) Rolf Bauer: Österreich; Ein Jahrtausend Geschichte im Herzen Europas. München 1980, 449-450. Die erste Auflage erschien 1970.
4) Erwin Ringel: Friedrich Heer als Therapeut der österreichischen Seele. In: Wolfgang Mattl (Hg.): Politik in Österreich; Die Zweite Republik. Bestand und Wandel. Wien, Köln, Graz 1992, 841. Hervorhebungen im Original.
5) Sigmund Freud: Totem und Tabu; Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main 81997, 375.
6) Alphons Lhotsky: Geschichte Österreichs seit der Mitte des 13. Jahrhunderts (1281-1358). Wien 1967, 5-6.
7) Georg Wagner: Österreich – Profil zweier Jahrtausende; Uralte Kontinuität mit einigen Halbzäsuren. In: Georg Wagner (Hg.): Österreich; Von der Staatsidee zum Nationalbewusstsein. Wien 1982, 22.
8) http://www.antonwildgans.at/page87.html. Zugriff am 6.3.2010.
9) Hellmut Andics: Die Insel der Seligen; Österreich von der Moskauer Deklaration bis zur Gegenwart. Wien, München 1976, 180.
10) Werner Bohleber: Nationalismus, Femdenhaß und Antisemitismus; Psychoanalytische Überlegungen. In: Psyche; Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 8 (1992), 707


















 

 

 

 

 

 

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