"Was war, was bedeutete die Organisation der Freidenker? Der moderne Kapitalismus hat das Dasein der Volksmassen umgewälzt. Er hat den Bauern- den Keuschlersohn von der Scholle der Väter losgerissen, in die Großstadt, in das Industriegebiet getrieben. Er hat das alte Handwerk ruiniert und die Söhne der Handwerker in Proletarier verwandelt. Er hat die Arbeiter in der Fabrik die ständige Umwälzung der Technik, den ständigen Wechsel der Konjunkturen erleben lassen. Diese ungeheure Umwälzung des Daseins der Menschen hat auch ihre Denkweise verändert. Millionen haben den ihnen überlieferten Glauben ihrer Kindheit verloren. Hunderttausende von ihnen haben eine neue Weltanschauung gesucht. Eine Stätte dieser Suchenden, dieser nach einem neuen Weltbild Ringenden, war der Freidenkerbund. Der Arbeiter, der an der Maschine moderne Technik, Anwendung der modernen Naturwissenschaft erlebt hat, hat sich aus moderner Naturwissenschaft ein neues Weltbild zu gestalten gesucht. Tausende haben, ringend mit der allzu dürftigen Volksschulbildung, die sie genossen hatten, nach schwerer Tagesmühe in den Abendstunden lesend und hörend, die Erkenntnisse moderner Geologie und Biologie, Ethnologie und Urgeschichtsforschung gierig in sich aufgenommen und sich aus ihnen ihr Weltbild geformt. Was die großen Befreier des Menschengeistes von Giordano Bruno und Spinoza, von David Hume und den Enzyklopädisten, von Holbach und Helvetius, von Feuerbach und Engels bis zu den Mach und Poincare unserer Zeit gelehrt, darum rangen tausende Arbeiter in der Gemeinschaft des Freidenkerbundes. [...] Zehntausenden Arbeitern ist diese Gemeinschaft des Freidenkerbundes, die ihnen die Verkörperung ihrer schwer erarbeiteten, von ihnen als geistige Befreiung empfundenen Weltanschauung gewesen ist, so wert, so heilig gewesen, wie nur je einem Gläubigen seine Kirche. Diese Gemeinschaft ist jetzt mit einem Federstrich ausgelöscht."
Dieser Nachruf, den die Arbeiter-Zeitung am 21. Juni 1933 anlässlich des Verbotes des Freidenkerbundes Österreichs durch die christlich-soziale Regierung DolIfuß veröffentlichte, charakterisierte den Freidenkerbund - vielleicht unabsichtlich, aber durchaus zutreffend - als Gegenkirche.
Der Umstand, nicht nur eine Bildungsbewegung, sondern auch eine Kampfgemeinschaft gegen Austrofaschismus und Klerikalismus zu sein, gab dem Freidenkertum eine gemeinschaftsbildende Kraft, die den hergebrachten religiösen Traditionen ebenbürtig, ja überlegen sein sollte. Studieren und sich weiterbilden kann jeder Mensch für sich allein, aber um in einem Kampf die eigenen Lebensgrundlagen oder sogar das Leben aufs Spiel zu setzen, dazu bedarf es auch starker Gefühlskräfte, die bei der abendlichen Lektüre daheim oder im Lehrsaal der Volkshochschule nicht entstehen können.
Dabei widerstritten in der Arbeiterbewegung in dieser Frage zwei einander entgegen gesetzte Denkschulen. Die Vertreter der reinen Lehre waren der Meinung, dass ein konsequenter Sozialist sich über den Zweck seines Lebens bestimmt, am Aufbau der neuen, besseren Gesellschaft mitzuwirken. Ein solches Leben war ausschließlich auf die Zukunft gerichtet. Feste, die an bestimmte Ereignisse der Vergangenheit gebunden waren, sei es im persönlichen Bereich etwa der Geburtstag, sei es im öffentlichen Bereich der Jubiläumstag eines bestimmten Ereignisses, waren einer derartigen Lebensauffassung entgegengesetzt. Derartige Feiern enthielten in der Meinung der Puristen die Gefahr der selbstzufriedenen Rückschau auf Erreichtes oder der Überbewertung der Individualität gegenüber der Gemeinschaft. - Auf der anderen Seite standen die Lebenspraktischen, die die gemeinschaftsbildende und kraftspendende Wirkung von Feierlichkeiten gut kannten, die regelmäßig wiederkehrende Höhepunkte im Einerlei eines überwiegend freudlosen Alltages sind. Umzüge, gemeinsame Gesänge, das Erlebnis, Teil eines großen Ganzen zu sein - all das sind wichtige Anstöße zur Ausbildung eines Gruppenbewusstseins, das dem einzelnen Mut und Kraft gibt und den Zusammenhalt der Gemeinschaft festigt.
Aus dem Widerstreit dieser Gegensätze entstand letztlich eine Festkultur von merkwürdiger "puritanisch-promethischer" Gestalt. In einer Festlichkeit, die sich an diesem Leitbild orientierte, sollten die überschäumenden, alle individualistischen und eskapistischen Elemente ausgeschaltet und "Sozialistische Gefühlsbildung" als andere Seite von Bewusstwerdung und Bewusstmachung organisiert sein. Bestandteile derartiger "rationalisierter" Feste waren Rezitationen, Sprechchöre, Musikdarbietungen, Ansprachen, turnerische Vorführungen und dergleichen. Die Freidenker erwiesen sich dabei als tüchtige Organisatoren derartiger Festlichkeiten.
Die voll entfaltete freidenkerische Festkultur der frühen dreißiger Jahre umfasste schließlich einen reich ausgestalteten Festkalender. Vom Frauentag und den Gedenktag an die Gefallenen von 1848 im März über den 1. Mai, den Tag des proletarischen Kindes im Frühling, den Gedenktag an den von den Faschisten ermordeten Giacomo Matteotti am 10. Juni, die Republikfeier am 12. November bis zu einem entkirchlichten Weihnachtsfest als Fest der Menschheitserlösung im proletarischen Sinne umspannte er das ganze Jahr. Dieser Festkalender der Arbeiterbewegung hatte nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten mit dem kirchlichen Festkalender, sondern er entsprach auch dem gleichen mythischen Grundmuster, nämlich das Leiden, die Erniedrigung und den letztendlichen Triumph des Heros widerzuspiegeln. Im Falle des freidenkerisch-sozialistischen Mythos war der Heros nicht eine Einzelperson, sondern das Proletariat als solches.
Der historische Materialismus eines Karl Marx war zu einem mythischen Materialismus des Freidenkertums geworden. Zwar hatte noch Friedrich Engels betont, dass die "marxistische Theorie eine lebendige Theorie" sei "und nicht eine Sammlung von Dogmen, die auswendig zu lernen und aufzusagen sind." Aber schon Vladimir I. Lenin legte den Grundstein zur Überleitung dieser lebendigen Lehre in den Mythos als er sie im Jahre 1908 folgendermaßen charakterisierte: "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, mit keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt." Diese Behauptung der Allmacht einer Lehre und ihrer Fähigkeit, ein geschlossenes Weltbild zu vermitteln, war der erste Ansatz, aus der wissenschaftlichen Theorie eine Religion zu machen, die auf dem Mythos der Menschheitserlösung durch den Kampf, die Leiden und den schließlichen Sieg des Proletariates beruhte. Diese Wandlung zum Mythos fand durchaus Anklang. Ein Beispiel hierfür liefert die prominente Freidenkerin Angelica Balabanoff, die in den zwanziger Jahren wiederholte: "Dank Marx [...] dem größten aller Materialisten [...] hat sich die materialistische Philosophie zu einer geschlossenen, harmonischen und konsequenten Weltanschauung entwickelt", um dann fortzufahren: "Heißt es an der Front des Klassenkampfes Klasse gegen Klasse, so muss es an der Ideologie Weltanschauung gegen Weltanschauung heißen."
Hiermit schließt sich der Kreis. Das Freidenkertum hatte sich selbst im Kampf gegen die Religion zur Quasi-Religion gemacht. Wie schon die Arbeiter-Zeitung in ihrem eingangs zitierten Nachruf auf den Freidenkerbund ausgeführt hatte, war der Freidenkerbund für seine Mitglieder eine gleichsam "heilige" Gemeinschaft geworden. Joseph Buttinger beschrieb die geistige Krise, in die viele Sozialdemokraten nach der Vernichtung ihrer Partei gestürzt worden waren, sehr anschaulich: "Die Auflösung der Partei war [...] für die gläubigen Mitglieder und Vertrauensmänner der Sozialdemokratie, selbst wenn sie ihre wirtschaftliche Existenz unberührt ließ, ein brutaler Eingriff in ihr persönliches Leben. Der mögliche Verlust einiger Schillinge in der Woche bedeutete ihnen nichts, die nun um ihren ganzen Lebensinhalt bangten. In den Fahnen und Symbolen, den Abzeichen und Bildern, den Liedern und Legenden des ‚Freiheitskampfes der Arbeiterklasse’ hatten viele Ersatz für die verlorene Religion [...] gefunden."
So schön und so bezaubernd war dieser Mythos vom leidenden und siegenden Proletariat, dass ihn viele über die Katastrophe des Jahres 1934 in Österreich und die noch größere der Jahre 1938 bis 1945 in ganz Europa hinüberretteten und bewahrten. Inspiriert von diesem Mythos schloss noch in den sechziger Jahren Herbert Marcuse, einer der führenden Köpfe der Kritischen Theorie, seine pessimistischen Studien über den "eindimensionalen Menschen" mit den Worten des ungebrochenen Glaubens an die Auserwähltheit des Proletariates: "Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, dass sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen." Auch der innerweltliche Mythos kennt die Sehnsucht nach dem Martyrium.
So lange der Hauptinhalt der Freidenkerei im Atheismus besteht, wird sich diese ursprünglich emanzipatorische Haltung von ihren eigenen, eo ipso geschaffenen Mythen nicht befreien können. Denn der Atheismus ist auf Theismus fixiert und dieser gibt die Spielregel des Denkens vor. So lange theistische Religionen von sich behaupten, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein, wird das Freidenkertum im Atheismus die alleinige Wahrheit verkünden.
Der Freidenkerei steht eine zukunftsweisende Alternative offen. Unter dem Eindruck der historischen Erfahrung vom Scheitern der revolutionären Massenbewegungen und dem Sieg der auf die Autonomie des Individuums bauenden demokratischen Gesellschaft wurden auch andere Visionen des modernen, Menschen entworfen. "Ein Revolutionär", schrieb beispielsweise in den 1960 er Jahren Erich Fromm: "ist ein Mensch, der sich von den Bindungen an Blut und Boden, an Vater und Mutter, von der Loyalität gegenüber dem Staat, der Klasse, Rasse, Partei oder Religion gelöst hat." Nur ein Mensch dieses Schlages wird der Versuchung zur Mythologisierung der Welt entgehen können.
Anton Szanya
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