Manfred Prisching, der Volkswirtschaft und Jus studierte und sich später als Soziologe habilitierte, schrieb ein soziologisches Buch über Selbstverständnis (des Einzelmenschen) in den Ländern des Westens: Das Selbst Die Maske Der Bluff, Wien – Graz – Klagenfurt, 2009
Das Buch erhebt nicht den Ehrgeiz, den Individuen zu sagen, wie sie leben sollen, den Politikern, wie sie richtig zu handeln hätten, oder den Journalisten, was sie schreiben müssten. Es dient nicht als Rezeptbuch zur Rettung der Welt oder als Blaupause für die Gestaltung einer anderen Gesellschaft. Es versucht, zu verstehen, was im Grund vor unseren Augen geschieht, aber was wir, im Strom des Geschehens befangen, nicht immer in seinen großen Konturen sehen. Diese sympathische Selbstbeschränkung ist zugleich eine Beschreibung von „Zeitdiagnostik“. Ein Soziologie wie Prisching verliert sich nicht in Einzelforschungen, die dann eine Maßnahme rechtfertigen oder eine Marktforschung unterstützen, er will auch nicht das Ganze revolutionieren, er möchte begreifen, wie das Ganze funktioniert. Das ist Soziologie, wie es sie von Anfang an gab, wie sie seit langem (1950) angesichts moralisch-kultureller Dinge eine gute Nachdenklichkeit entfaltet und wie sie heute noch ihre Analyse mit historischen Daten verbindet.
Wer historische Materialien heranzieht und ergo historisch vergleichen kann, ist überhaupt zu einer umfassenden Kritik fähig: Die Politik will nicht „gestalten“, sie orientiert sich am Prinzip der Machterhaltung bzw. der Wählerstimmenmaximierung. Die Bildung zielt nicht mehr auf die Reife der Persönlichkeit, sondern pragmatisch auf die Vorbereitung zum Arbeitsmarkt. Die Religion hat nicht mehr viel mit Transzendenz, Erlösung und Gnade zu tun, sondern legitimiert sich durch karitative Handlungen. Hier zeigt sich der Vorteil einer solchen Soziologie, dass sie an den ursprünglichen Sinn der Tätigkeit erinnert und die neue Tätigkeit bei Beibehaltung des alten Namens kulturkritisch aufzeigt. Der ursprüngliche Sinn aber ist das Ganze, die vollständige Bedeutung des Wortes, die nunmehr erodiert ist.
Die kulturkritische Soziologie etwa in der Art von David Riesman, die die Innovation in wichtigen Bereichen nicht wünschte (z.B. keine Religion, die sich säkularisierte, oder keine Kunst, die den geschlossenen Werkcharakter aufgab), beschrieb dennoch die Veränderung möglichst sachlich und bejammerte keinen Verfall.
Prisching schließt hier an. Er liefert echte Aufklärung, auch wenn die Identität, die Kontinuität und die Ganzheit, die ihm wichtig sind, im Unterschied zu Kirche und Adel nur noch Abstraktionen mit einem guten Klang sind. Er beschreibt, wo sie überall schon fehlen, als regulatives Prinzip der Vorstellung respektive der Definition. In der Politik, in der Bildung, in der Religion. Hinter seiner Sachlichkeit sind echte Aufreger versteckt. Ein Satz wie zB. Dass den Menschen die Künstlichkeit dieser Welt bewusst ist, stimmt nicht (Prisching) ist von großer Tragweite, weil er die effektive Wirkung der Werbung meint und das Kleinreden dieser großen Nutzleistung kritisiert. Weil Erwachsene angeblich so erwachsen und bewusst dahinleben, wird – nicht zuletzt auch von Wissenschaft – unhaltbar behauptet, dass die Konsumenten von Werbung zwischen Wunsch und Wirklichkeit klar unterscheiden.
Phänomene des Narzissmus werden bei Manfred Prisching mit Hilfe soziologischer Befunde überdacht. Er fasst in den Schlussbemerkungen seines Buches die eigentümliche Hilflosigkeit des Menschen mit der „halben Individualität“ zusammen:
Die Gegenwartsgesellschaft schafft es hervorragend, den Menschen trotz aller Individualisierungsbegeisterung die gängigen Verhaltensmuster so einzubläuen, dass sie norm- und marktgerechtes Verhalten geradezu als Ausdruck ihrer Einmaligkeit und Spontaneität verstehen. Das ist die wahre Kunst: die Menschen auf Spur halten, sie auf Schienen setzen, sie in ihrem Verhalten zurechttrimmen und ihnen gerade diese integrationsnotwendige Anpassung als ersehnte Spontaneität, als realisierte Selbstentfaltung, als wohlgelungene Individualität zu verkaufen: „Konformisierung aus dem Hinterhalt.“ Wir haben es als konformistischen Individualismus oder individualistische Konformität bezeichnet. Daran ändert der Umstand nichts, dass den spätmodernen Individuen die permanente Reflexion über alles und jedes nachgesagt wird, das dauernde Nachdenken und Hinterfragen, weil doch nichts mehr selbstverständlich ist; denn diese Reflexion reicht selten bis zur Wahrnehmung, wie sehr in der Alltagspraxis das Originalitätsbewusstsein mit der Konformitäts-Wirklichkeit verträglich ist. Günther Anders hat es den Kongruismus genannt. Das Seelenleben deckt sich mit den zugedachten Inhalten. Jeder benötigt, was ihm aufgenötigt wird. Jeder denkt, was ihm zugedacht wird. Jeder tut, was ihm angetan wird. Jedem ist so zumute, wie es ihm zugemutet wird. Der Mensch ist nicht seelenlos geworden, vielmehr ist die Seele des Kongruisten furchtbar überfüllt, da sie doch von der in sie einströmenden Welle (der Waren, Gefühle, Events, Sensationen) ununterbrochen vollgeflutet wird.
„Kongruismus“ ist ein theologisch-gnostisches Wort, das man unbedingt erklären sollte: Die Gnade Gottes und der Wille des Menschen stimmen überein. Jeder benötigt, was ihm aufgenötigt wird. Das kennt man aus der Produktwerbung. Jeder tut, was ihm angetan wird. Das kennt man aus der Kriminologie. Jedem ist so zumute, wie es ihm zugemutet wird. Das kennt man von den großen Festen. Jeder denkt, was ihm zugedacht wird – Was könnte das bedeuten? Die Leute denken an berufliches Fortkommen, an Geldvermehrung, an Hebung der Bequemlichkeit, an Frieden, an Verbesserung der Gesundheit, an ein schmerzfreies Sterben. Aus. An etwas anderes zu denken, wird den Menschen öffentlich nicht empfohlen. Und das Anratende ist niemand anderer als die privilegierte (die bezahlte) Meinungsmacherei, die dem Einzelmenschen nach Verlassen des Elternhauses, der Schule, des Heeres und der Kirche das Sinnvolle Tag für Tag „hineindrückt“.
Martin Luksan, April 2011
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