DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Wo Kunst und Literatur die Klassizität verachten

Zur Zeit des alten Lessing war für Angehörige der europäischen Eliten das große Wesen bereits auf einen Schöpfer eingeengt, der zwar alles geschaffen hatte, aber nun seine Ruhe haben wollte. Das hatte für den Künstler zur Folge, dass er für die Vollkommenheit des Werkes selber zu sorgen hatte. Er konnte zum Beispiel kein langes Gedicht schreiben, es durch die Form einer Messe gliedern und mit Gebetsformeln voll stopfen. Es war einfach unmöglich, dass ein damaliger Künstler sich an sich selber wandte, um seine Form anzuspannen, und an den Allmächtigen gleichzeitig. Der im Deutschunterricht der 1960 er Jahre unfreiwillig „ausgetriebene“ Franz Grillparzer durchschaute die Problematik von Form und Inhalt in der Kunst bereits im österreichischen Biedermeier fast perfekt. Andernfalls wäre er zu einer derart tief greifenden Aussage nicht fähig gewesen: „Nun beruht alle Kunst nicht auf der Ausdehnung, sondern auf der Erfüllung. Sie ist ein Gestalten, ein Form geben, ein Lebendigmachen (Hervorhebung durch M.L.). So wenig du in einem Lebenden einen leeren Raum findest, so wenig kann ein solcher in einem Kunstwerk zugestanden werden. Jede Lücke ist sein Tod."

Die Klassik des „Weimarer Kreises“ (von etwa 1786 bis 1805) gestand im Grunde nur der Kunst die Möglichkeit zu, den Menschen mit sich Goethes Schreibtischselbst und mit der Wirklichkeit zu versöhnen. Das aber war Sache der Religionen gewesen. Nun breitete sich der mehrfach befähigte Mensch, der Künstler und Philosoph in jedem Fall war, in Räumen der Theologie und der Religion eo ipso aus. Die Kunst wurde für das Leben dieser Künstler derart zentral, dass spätere Historiker versucht waren, die Kunst der Menschheit erst um 1750 beginnen zu lassen. Sogar Franz Grillparzer fühlte sich seltsam jung, als er darüber nachdachte, ob der erste deutsche Dichter Klopstock oder Lessing gewesen war. Die Menschheit hatte ihre eigenen Archive noch nicht aufgearbeitet, als sie in „edler Einfalt und stiller Größe“ schwelgte und die Erziehung zum Schönen gleich als emanzipatorischen Prozess begriff.

Wir wollen an dieser Stelle sagen, dass im Habsburger Reich der klassische Überschwang in den Bildungseliten so wenig verbreitet war, dass etwa Grillparzer, der eine oder andere seiner Förderer, Beethoven und der halbe Schubert-Kreis als totale Goethe–Anhänger ein Rätsel darstellen. Wie konnte Grillparzer, der im Vorhof der österreichischen Hocharistokratie lebte, zu dem Ausspruch finden: „Wer kein Verehrer Goethes ist, für den sollte kein Raum sein auf der deutschen Erde“? In Europas katholischer Mitte wurde jedenfalls die neue politische Kultur aus dem Westen besonders heftig und nachhaltig abgewehrt. Man denke nur an die 1790 er Jahre im Habsburger Reich, dann wieder an die Zeit nach dem Wiener Kongress. Die katholische Romantik wurde schon vor 1814 nach Wien gebracht. Es gab einen Kreis von ehemaligen Protestanten in Wien und in deutschen Städten, die der Kunst nicht mehr den ersten Rang einräumten und ihr dennoch eine verrücktere Funktion zuschrieben als die Weimarer Dichterfürsten. Man wollte jetzt katholisches Ahnen und Fühlen fördern, nicht mehr Wissen und Können - die Kunst sollte vom Göttlichen, nicht vom Schönen künden.

Die Idee des „Gesamtkunstwerks“ ist eine philosophische. Sie drängt sich beim Malen eines Bildes, beim Fügen eines Gedichtes auf dem Papier, beim Komponieren eines Tanzstückes auf dem Klavier usw. nicht auf. Sie wurde aus dem Schoße der Romantik geboren. Mit dem katholischen Hintergedanken, die Ausdifferenzierung der Künste zu stoppen und sie allesamt für die Schaffung der göttlichen Einheit zu vergattern. Daniel Bell, der Kulturkritiker, gab den Hinweis, dass die Kunstreligionen erst entstehen konnten, als an den Universitäten das Wissen der Theologen belächelt wurde (um 1850). James Webb, der Esoterik-Kenner, präsentierte das Jahr 1890 als „Höhepunkt der okkulten Hysterie im 19. Jahrhundert“ sowie als esoterischen Affront gegen die größte Kirche. Schon an den unterschiedlichen Jahreszahlen erkennt man die Kompliziertheit der Entwicklung. Zuerst dachten sich restaurative Katholiken etwas aus, dann sank der ganze Katholizismus in die Knie und zuletzt spornte das „Gesamtkunstwerk“ alle möglichen Kirchenverächter in den Künsten an.

Um 1865 hatte ein Wiener Journalist, der kein Wagnerianer gewesen war, die Verbauung des Glacis das „Gesamtkunstwerk Wien“ genannt. Das war ein guter Witz gewesen. Nach Richard Wagner kam der deutlichere Parkring WienFriedrich Nietzsche und mit ihm die Eliminierung christlicher Elemente aus Malerei, Bildhauerei und Literatur. Die „Umwertung der Werte“ zeitigte um 1900 zwei gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite „vergottete“ man den Menschen, was im Jugendstil geschah, auf der anderen Seite wurde der riesenhafte Mensch in Frage gestellt und als Mensch im Zentrum durch „Natur“ oder durch „Nichts“ ersetzt. Karl Kraus und Adolf Loos brachten Argumente gegen das Gesamtkunstwerk vor, das seit der Kunstaktion von 1902 (Max Klinger, Gustav Klimt, die Secessionisten und der Schluss der 9. Symphonie von Beethoven) wieder ein Hauptthema der Kunstgespräche war. Man bejubelt Wien um 1900 als „Wetterecke der Moderne“ – doch um 1900 und in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg erzeugten gerade hier die Diskussionen um Mann und Frau, Dekadenz, Blonde Bestie und Gesamtkunstwerk ein Getöse im Blätterwald, in dem die andere Richtung der Moderne, die bei der Cezanne´sche Ablehnung der „Mimesis“ nicht stehen bleibt, ungehört unterging. Gemeint ist jene Kreativität, die in Malerei und Poesie die Testreihe, das Durchprobieren, praktiziert. Für eine kreative Haltung dieser Art war Wien der falsche Ort, die Stadt war für Künstler vom Typus Picasso und Klee, Mallarmee und Joyce nicht günstig.

Die katholische Mentalität mit ihrer Vorliebe für wundersame Synthesen, ihrer Neigung zu Tricks, die Einheit stiften, hatte schon die secessionistische Malerei nicht gewollt - der Geist der Naturwissenschaft in den Künsten war ihr gänzlich fremd. In der bildenden Kunst ist zu sehen, dass die abstrakte Malerei in Österreich in den 1920 er und 30 er Jahren nur von einer Handvoll Frauen betrieben wurde, von denen Erika Giovanna Klien heute die bekannteste ist. Der Expressionist Werner Berg, der für den Katholikentag 1933 ein weißes Jesuskind gemalt hatte, wurde von der Jury in Wien als „zu modern“ abgelehnt. Er wurde später von den Nazis verboten. Die lyrische und epische Dichtung jener Jahre, drehte sich um Stadt und Land, Heimat, Schicksal, Anfechtungen und Gott; und die Damen und Herren der Poesie formulierten bis auf ganz wenige (und jüdische) Ausnahmen nicht geschmeidiger als Wildgans auf dem Höhepunkt seines Schaffens.

Neue GalerieNach 1945 war in Kunst und Literatur der Nullpunkt angesagt. Otto Mauer übernahm von Otto Kallir die „Neue Galerie“ in der Grünangergasse und benannte sie in „Sankt Stephan“ um. Er hatte junge und moderne Maler um sich versammelt, die entschlossen waren, alle Werkeffekte von der Art und Weise des Malens ausgehen zu lassen. Das war die „große Freiheit“. Der Betrachter sollte stimuliert und entzückt, desorientiert und herumgewirbelt werden – das alles auf der Basis eines ungegenständlichen Bildes.Mathieu und Prachensky 1954 wurde diese Galerie neu eröffnet. DieSpanne von 1945 bis1954 wird nicht allein durch die karge Zeit erklärt, es spielt auch mit, dass Otto Mauer die modernen Kunstprinzipien ursprünglich nicht kannte. Es dauerte eine Zeit, bis die Argumente von „abstract expressionism“ und „action painting“ nach Österreich gedrungen waren.

Auch in der Literatur wurde das Manko an Modernität durch Nachholaktionen beseitigt. Größere Werke der Dichtung benötigen die Welt des Nachdenkens, der Begriffe, in der sich ein Maler nicht notwendig aufhalten muss, um etwa die Lächerlichkeit einer Bildaussage zu vermeiden. Junge Maler in Österreich um 1950 verhielten sich wie junge Maler der „New York School“. Sie wiesen mit der Ablehnung des gegenständlichen Malens gleich das Erlernen von Zeichnen und Malen mit ab. Im Unterschied dazu beendete Ingeborg Bachmann zuerst ein Studium der Philosophie, ehe sie sich voll der Literatur zuwandte.

Die alliierte Liste der verbotenen Bücher nach 1945 enthielt eine Menge Werke der später nach Pürgg geladenen und von Hans Weigel betreuten Dichterinnen und Dichter. Doch das dramatische Werk von Rudolf Henz war nicht auf dieser Liste, weil es ja „nur“ ständestaatlich-vaterländisch, nicht nationalsozialistisch konnotiert war. So erklärt sich, dass ein eminent politischer Autor, ein katholischer Fundamentalist, der seine Dichtung nach liturgischen Prinzipien gestaltet hatte, ein Radiodirektor in Österreichs 2. Republik werden konnte. Wie Weigel und Torberg und Wolfgang Kraus stand auch er hinter Zeitungen und Editionen, die – nicht anders als die Ausstellungen von Otto Mauer – eine in Österreich traditionslose Kunst bevorzugt förderten. Abstrakte Malerei, Absolute Malerei, Aktionismus, konkrete Poesie.
Man konnte die Moderne Kunst gegen Kleine Leute-Mentalität und Journalismus in Schutz nehmen, aber man hätte sie nicht vor jene andere Kunst stellen dürfen, die nicht unter dem Novitätsdiktat steht.

Von den genannten „Herren“ des österreichischen Literaturbetriebs hat keiner je an einem „schreibbaren Text“ gebosselt, das „Entgleisen der Sprache“ studiert, oder am „Gesprochenwerden durch Sprache“ gelitten - und dennoch haben sie das Moderne mehr Franz Grillparzeroder weniger explizit zum Vorbild aller Literatur erklärt. Wie war ihnen das möglich? Sagten sie sich „Jeder Zeit ihre Kunst“? Oder wollten sie die Aufgabe von Politikern erleichtern, Österreichs Kultur „von oben her“ zu modernisieren? Wie auch immer - 1955 präsentierte die Österreich-Abteilung beim PEN Kongress in Wien Franz Grillparzer als Nationaldichter. Das war genial, weil Grillparzer trotz seines Habsburg-Opportunismus und seiner Deutschen-Schelte mit jener echten Klassizität zu tun hat, die in Österreich stets vernachlässigt wurde. Durch ihn konnte man eine Beziehung zur Aufklärung und zum Realismus herstellen, während das Spezielle, das Abseitige und das Verspielte (an dem die moderne Kunst gerade arbeitete) scheinbar in den Hintergrund geschoben war.

Wenn man bedenkt, dass die „Umwertung der Werte“ in der österreichischen Malerei nur durch einen katholischen Priester rasch bewerkstelligt werden konnte, darf man das Trickreiche der österreichischen Kulturpolitik nicht zu gering veranschlagen. Diese vielen Doppelstrategien, unerwarteten Durchbrüche und riesenhaften Erfolge in subventionierten Bereichen, in denen es kein Kommen und Gehen der leitenden Personen gibt, sind irritierend, empörend, anregend. Da geschieht viel von oben und wird zugleich den Künstlern, von denen nur wenige wahrgenommen werden, hingeschoben. Scheinbar entwickelt sich die Kunst auch in Österreich von unten, doch alle Star-Künstler hängen mit großen Medien zusammen, sind p.r. Talente in eigener Sache. Die Größe des Publikums für modernistische Texte entspricht der Größe dessen, was der Literaturbetrieb inszenieren kann.

Ein kleiner, aber fixer Stern des Betriebs ist Gerhard Rühm, der Literatur, Bildende KunstGerhard Rühmund Musik zueinander in Beziehung setzt. Die Kritik bewundert an ihm, dass er „Listen, Vokabularien und Kataloge“ so verwendet, dass dadurch eine „ganz neue Art der poetischen Freiheit erwächst“. Freiheit ist immer gut. Aber wird man durch die Texte von Rühm bereichert? Dazu Grillparzer, indem er von Goethe schwärmt: „er wusste, dass eine Form, die sich vom Stoffe beherrschen lässt, statt ihn zu beherrschen, den Keim der Fratze notwendig in sich trägt; wusste, dass nicht die Ausdehnung, sondern das Erfülltsein den Gehalt bestimmt; wusste, dass Künstler machen, Andeuten und Anregen aber die Sache des Stümpers ist.“

© August 2011, M. Luksan