Ein Künstler nimmt benutzte Teller und Gläser, fixiert sie auf einer
Unterlage und hängt das Ganze wie ein Bild an die Wand. Warum?
Er reißt uns aus einer Routine. Er zeigt Dinge des alltäglichen Lebens,
die nicht mehr bewusst wahrgenommen werden, arrangiert sie
und erklärt sie zum Kunstwerk (Daniel Spoerri). Dieser Kunstgriff,
„neuer Realismus“ genannt, lässt vergessen, dass es für alle
Maler unmöglich geworden ist, ein Stilleben „Nach der Mahlzeit“ zu
malen, egal in welchem Stil.
Andererseits, jenes Beispiel einer Bewusstmachung verrät eine
Gleichgültigkeit gegen die wilde oder die feine Farb- und
Formfindung, gegen die Esoterik, die Ornamentik, die Leere der
Abstrakten Kunst, auf die immer mehr Künstler selber mit Sarkasmus
und „schlechtem Geschmack“ reagieren. Bei „Viennafair 2009“
wurde der momentane Vorrang des Gegenständlichen in der
Bildenden Kunst von den Galeristen zugegeben; er war auch
deutlich sichtbar. Mit Neo Dada, Neuem Realismus, Pop Art
usw. stiegen in den 1960 er Jahren die Gegenständlichen langsam
auf und formulierten trotz ihrer Ironisierung der banalen Wirklichkeit
immer auch ein Nein gegen reine Abstraktion.
Der die Natur kopierende Maler wird übrigens nicht erst seit Cezanne
negiert. Zum Beispiel Conrad Fiedler, ein besonders klarer Kopf,
entdeckte die „autonome Kunst“ und verband sie mit einer frühen
Theorie der Wahrnehmung. Wort und Begriff sind bei ihm „Erzeugnisse
des inneren Lebens“, also auch die Vorstellungen, die wir uns von
den Dingen machen. Frei nach Fiedler wird ein Kunstwerk weniger
von den fließenden Dingen der Außenwelt beeinflusst als von
rational geleiteten Vorstellungen, die letztlich die gleichen sind, mit
denen wir uns die eigene Welt, die jeweils gültige Wirklichkeit,
aufbauen.¹ Das Kunstwerk ist dann ein von innen her
geschaffenes Objekt mit einer seltsamen Ganzheit, die es nirgendwo
sonst gibt.
Fiedler hat das „Dokument“ noch nicht gekannt, das die homogene
Bildfläche aufbricht oder zumindest beunruhigt. Er war noch 19.
Jahrhundert. Werner Hofmann hat das Dokument als eine eigene „Wirklichkeitsschicht“ beschrieben, durch die das Klebebild das Tafelbild
zerstört, weil die Pinselkunst des Malers stellenweise ausgetauscht
wird. Durch einen Inhalt, der seine Form nicht vom Bildschöpfer
hat. Hofmann beschrieb das Prinzip der Collage an dem Bild
„Stilleben mit einer Flasche Vieux Marc“ von Picasso (1913).²
Der Maler zeigt die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem er Teile
einer Zeitung („LE JOUR“ ist gerade noch zu lesen) sowie die
Fetzen einer Tapete mit einer bauchigen Flasche „Vieux Marc“
kombiniert. Die Flasche hat Picasso nur mit Umrisslinien
gezeichnet. Bei diesem Beispiel für zwei Wirklichkeitsebenen
in einem Bild fragt man sich, wieso Picasso ausgerechnet die
Zeitung und die Tapete und eben nicht die Flasche als Dokument
gewählt hat. Darauf gibt es keine Antwort, aber die Frage weist
auf die arationalen Entscheidungen des Künstlers hin, der
die Ganzheit schafft und ansonsten Freiheit genießt.
Der Dadaismus bevorzugte das Klebebild deshalb, weil es alle
bisherigen Spielregeln der Kunst zu zerstören schien. John Heartfield
(Hans Herzfelde) trat als Monteur-Dada auf und behauptete, eine
Montage (eine Collage) erfolge nicht weniger sachlich als der
Bau eines Motors. Durch diese Pose zeigte Heartfield an, dass
er an den zugänglichen Formen von Realität, an den sozialen
Fakten und ihrer verborgenen Wahrheit, stärker interessiert war
als an der Willkür der Kunst. Seine Sprüche „Male mit Foto!“,
„Dichte mit Foto!“ waren eine zeitlang überall zu hören und zu sehen,
ohne dass deshalb die Autonomie der Kunst widerlegt worden
wäre.
Der Künstler komponiert auch dort das Ganze, wo er aus lauter
Fundstücken eine Skulptur schafft oder einen Großteil seines
Bildes mit tastbarem Material beklebt. Die interessante Frage ist
nicht der Grad seiner Autonomie, sondern warum er die große
Freiheit der Bildschöpfung gezielt verringert. Er will verhindern,
dass die Kunstwirkung schwindet, nicht nur die sinnliche, auch
die intellektuelle, was entsteht, wenn er das Werk einzig aus
Forminhalten aufbaut.
Zur Stärkung der Kunst wurde also das Dokument eingefügt.
Picasso sitzt an einem Tisch mit einer Weinflasche, eine Zeitung
in der Hand, um ihn herum die Tapeten eines engen Raumes,
und zerlegt die Situation. Er beginnt mit der Tapete, die man ohne
Tapetenmuster nicht identifizieren könnte, gibt die Titelseite der
Zeitung dazu, die man auch erkennen soll, und fügt zuletzt alles
durch die Flasche. Ohne das Dokument wäre die Aneignung von
Welt nur halb so stark.
Es gibt noch einen anderen Weg, die Kunst zu stärken, das ist der
Schock sowie überhaupt der Raum des Tabuisierten, in dem die Darstellung
erfolgt. Doch nur das Dokument ist vernünftig, nicht zweideutig, nicht
frivol. Zwischen Fotografie und Skulptur, schreibt die Galerie „Ostlicht“,
bewegen sich die präsentierten Werke(…) Bei aller Differenz eint sie
eine Reflexion der menschlichen Wahrnehmung und ihrer medialen
Vermittlung. Das darf man annehmen. Doch präsentiert diese
Ausstellung des Prozesses der Bildwerdung auch das Dokument und
seine Wirkung? Darüber schweigt sich die Ankündigung aus.