Scott Fitzgerald beschreibt brav und geordnet das Innen und das
Außen eines alkoholkranken Arztes: Forrest fuhr los und hielt an der
nächsten Straßenbiegung, um einen Schluck aus seiner Feldflasche zu
nehmen. Hinter den blassgelben Baumwollfeldern konnte er das
Haus sehen, in dem Mary Decker gewohnt hatte. Sechs Monate
früher hätte er vielleicht einen Abstecher zu ihr gemacht und sie
gefragt, warum sie heute nicht in den Drugstore gekommen sei
Er hält diesen Helden aus „Familie im Sturm“ auktorial im Griff. Er
bestimmt nicht nur, wie weit er fährt, ehe er sich wieder gehen lässt,
und was er denkt, wenn er das sieht, was auch der Leser sieht.
Er springt außerdem im Leben der Figur erklärend herum, er verbindet
die Vergangenheit des Helden mit dessen Gegenwart, wobei er das
Meiste sogar datiert.
Eine Generation später verzichtet Ian Mac Ewan auf solche Erklärungen
für den Leser. Als Erzähler muss er das Auktoriale wohl bewerkstelligen,
aber er versteckt es, er leugnet es fast - durch die subjektive Form
seines dargestellten Ich: Erst kommt Leech, nein, zuerst bin ich da,
gegen Ende eines Vormittags, lehne mich zurück, trinke einen Schluck,
und Leech kommt vorbei, grüßt, klopft mir unterhalb des Nackens
zwischen die Schulterblätter, ein herzlicher, heftiger Schlag.
Er steht beim Teekessel, breitbeinig, als pinkele er in aller Öffentlichkeit,
die braune Flüssigkeit tröpfelt in seine Tasse, und fragt, ob ich mich
an diese oder jene Unterhaltung erinnere. Dieser Held ist nun kein
straff wirkender Trinker in einer amerikanischen Kleinstadt mehr,
sondern ein verträumt wirkender Wärter in einem englischen Heim für
Frauen, in deren Betten das uralte „Hin und Her“ – so der Titel der
Erzählung – der Sexualakt – getrieben wird.
Die Vernunft gibt der Handlung eine Chronologie (wie beim Lebenslauf
wird betont, dass die Abfolge nicht willkürlich ist) und sie bestimmt die
die Auswahl der Details. Außerdem zeigt sie, dass sogar ein Wirbelsturm
festen Regeln folgt: er sah ein blasses, elektrisches Feuer im Himmel
und hörte ein immer lauter werdendes Heulen. Er war jetzt mitten in
einem heftigen Wind. Fliegende Trümmer, Stücke von abgebrochenen
Ästen, Splitter, größere Gegenstände, die in der zunehmenden Dunkelheit
nicht zu erkennen waren, flogen an ihm vorbei. Einem Instinkt folgend,
stieg er aus dem Auto aus, und da er sich in dem Wind kaum noch
aufrecht halten konnte, rannte er zu einer Böschung, wurde er
umgerissen und gegen die Böschung gepresst (Fitzgerald, Familie im
Sturm).
Dem modernen Text wäre eine solche Stelle zu wenig direkt und er
würde den Tornado subjektiv erleben lassen, dabei seinen Hang zur
Desorientierung möglicherweise auf die Spitze treiben. Mac Ewan muss
sich zwar über Figuren und Vorgänge aufklären, doch für den Leser
(und die gewünschte Poesie) darf er die Aktionen zerstücken, neu gliedern,
umbenennen, verrätseln: Der schwarze Zopf ist schwärzer als die
umgebende Nacht, und der von blasser Haut überzogene Kamm der
zarten Wangenknochen zeichnet die Kontur eines Hundebeines ins
Dunkel. Warst du das? murmelt sie, oder die Kinder? Eine leise
Bewegung, dort bei den Augen, verrät, dass sie geschlossen sind.
(…) ihre Worte steigen auf, treiben an mir vorbei und erreichen mich,
vom Widerhall überlagert. Dring in mich, während ich schlafe, dring
in mich (Mac Ewan, Hin und Her)
Der Autor, der das Innen vom Außen deutlich trennt, die Momente
datiert, die Chronologie beachtet und nur die wichtigen Details
beschreibt, entscheidet sich für weniger Fremdheit und für weniger
Wildheit in der Darstellung. Er verstößt gegen das Neuigkeitsprinzip.
Andere Prinzipien (andere Tugenden) sind ihm wichtiger. Was ihm nie
passiert, ist zB. die falsche Stimme. Mac Ewan kann sie gar nicht
verhindern, wenn sein seltsamer Wärter, der bisweilen den Horizont
eines Halbwüchsigen hat, an den „kleinen, geduldigen Heldenmut des
Wachseins“ und an „die Melancholie der Jets in Warteschleifen“
denkt. Sein Kollege Leeds, der die gleiche Kleidung trägt und mit
dem er einmal verwechselt wird, wird vom „strengen Geruch fremder
Haut“ umhüllt. Warum denn „umhüllt“? Ja – „um den tiefen, fäkalen
Kern zu verbergen“… Dabei hat Mac Ewan, wenn ihm die Sprache
nicht entgleist, eine Erzählerpranke. Aber er missachtet die Vernunft,
und die poetische Gequältheit mindert seinen Text.
Unvernunft ist auch gegeben, wenn der Autor seine ästhetische Sprache
gegen Slangsprache oder Gaunersprache nur deshalb eintauscht, um
einen Schockeffekt zu erzielen. Nur das Ganze (id est: die Kunst) rechtfertigt
den Bruch der Hochsprache, wenn aber zu wenig Kunst im Spiel ist, und
sich dennoch das Ekelhafte, das Scheußliche, das Grausame ausbreiten,
wird die Aufmerksamkeit auf unlautere Art geweckt. Der Text „Babyficker“,
der am Rande des Bachmann – Wettbewerbs gehandelt wurde, hat die
Standards möglicherweise mit verändert. Ein Interview mit Charlotte
Roche deutet in die gleiche Richtung. Darin sagt sie über eine ihrer
Figuren, mit Monatsblutungen und erweiterten Darmadern, dass sie
diesen Stoff beim Schreiben selber ekelhaft gefunden hätte, doch
er sei „neu“ gewesen und sie hätte ihn der Literatur schenken
müssen.
Mit oder ohne Kunst kann das Tabuisierte dargestellt werden,
wobei die Kunst das ausgleichende Prinzip zwischen den
verschiedenen Kräften des Stiles ist. Sie hat den humanistischen
Ausgleich abgelöst (was extra zu zeigen wäre!), doch diesen
Ausgleich kann sie nicht als „Schein von Kunst“ leisten. Sie muss
wirklich Kunst sein. Ein Rezensent schwärmt z.B. von Benjamin Percy:
Ein Arm senst durch die Luft und der Schrei des Mannes bricht abrupt
ab. An seinem Hals öffnet sich ein zweiter Mund. (B.P., Der rote Mond)
Das hält er für große Poesie. Es gibt aber keinen hellen Rand und ein
dunkles Zentrum, wenn in einen Hals geschnitten wird, sondern die
Wunde ist gleichmäßig rot, zufolge des stark austretenden Blutes.
Ein geöffneter Mund sieht anders aus.
In den 1990 er Jahren, spätestens, galoppierte der Trend. Da
beschrieb ein Autor eine Folter und der Verlag wies ängstlich darauf
hin, dass das Buch vom Krieg handelt und vor der Barbarei warnen
möchte. Ein anderer Autor malte Vergewaltigungen aus und der
Klappentext rechtfertigte die Beschreibungen dadurch, dass er
sagte, die Grausamkeiten passierten nur im Kopf des gut verwahrten
Häftlings. Überall Rechtfertigungen, wie man sie aus der Werbung
kennt. Die Reklame für „American Psycho“ (von Bret Easton Ellis)
beschwor „Mut und Tapferkeit“ beim Leser, der die ausgedehnten
Grausamkeiten hinunter würgt, so als könnten Mut und Tapferkeit
beim Lesen aktiviert werden.
Beim großen Schock (Wechseln der Sprache) in Literatur, Film und
Malerei hat sich das kulturelle Österreich kreativ hervorgetan. Der
Wiener Aktionismus wurde dadurch berühmt, dass er ästhetische Form
durch den Austritt von Kot, Blut, Urin, Sperma, Eingeweiden und Gehirn
zerstörte. Diese Aufhebung war klar gedacht und vielleicht sogar wirklich
nötig (weil ein kultureller Nachholbedarf in Richtung Modernität bestand),
doch sie hat die klassischen Traditionen verdeckt. Jetzt sind die
jungen Dichter, die jungen Filmemacher, die jungen Maler im Land,
denen das Neuigkeitsprinzip nicht genügt, richtungslos und ganz
allein.
Und die jungen Autoren wissen nicht einmal, dass der kleine Schock
(die Poetisierung des Ekelhaften, des Scheußlichen, des Grausamen)
besser nicht gemacht werden soll, weil er nirgendwohin führt, nichts
Gutes bewirkt. Im Russischen, sieht man jetzt, hat der berühmte
Isaak Babel vernunftlose Poesie eingeführt. Das geschah in der
„Reiterarmee“, als er die Tagebücher seiner Kriegsteilnahme
poetisierte. ZB. sitzt ein misshandelter Jude abwesend in
einer Hütte und summt vor sich hin, in seinem weißen Bart
pickt das schöne, rote Blut und nebenan auf dem Fußboden
liegt seine vergewaltigte und tote Tochter. Reine Poesie.
© M. Luksan, Dez. 2014
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