DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Poesie ohne Vernunft

Scott Fitzgerald beschreibt brav und geordnet das Innen und das Außen eines alkoholkranken Arztes: Forrest fuhr los und hielt an der nächsten Straßenbiegung, um einen Schluck aus seiner Feldflasche zu nehmen. Hinter den blassgelben Baumwollfeldern konnte er das Haus sehen, in dem Mary Decker gewohnt hatte. Sechs Monate früher hätte er vielleicht einen Abstecher zu ihr gemacht und sie gefragt, warum sie heute nicht in den Drugstore gekommen sei Er hält diesen Helden aus „Familie im Sturm“ auktorial im Griff. Er bestimmt nicht nur, wie weit er fährt, ehe er sich wieder gehen lässt, und was er denkt, wenn er das sieht, was auch der Leser sieht. Er springt außerdem im Leben der Figur erklärend herum, er verbindet die Vergangenheit des Helden mit dessen Gegenwart, wobei er das Meiste sogar datiert.
Eine Generation später verzichtet Ian Mac Ewan auf solche Erklärungen für den Leser. Als Erzähler muss er das Auktoriale wohl bewerkstelligen, aber er versteckt es, er leugnet es fast - durch die subjektive Form seines dargestellten Ich: Erst kommt Leech, nein, zuerst bin ich da, gegen Ende eines Vormittags, lehne mich zurück, trinke einen Schluck, und Leech kommt vorbei, grüßt, klopft mir unterhalb des Nackens zwischen die Schulterblätter, ein herzlicher, heftiger Schlag. Er steht beim Teekessel, breitbeinig, als pinkele er in aller Öffentlichkeit, die braune Flüssigkeit tröpfelt in seine Tasse, und fragt, ob ich mich an diese oder jene Unterhaltung erinnere. Dieser Held ist nun kein straff wirkender Trinker in einer amerikanischen Kleinstadt mehr, sondern ein verträumt wirkender Wärter in einem englischen Heim für Frauen, in deren Betten das uralte „Hin und Her“ – so der Titel der Erzählung – der Sexualakt – getrieben wird.

Die Vernunft gibt der Handlung eine Chronologie (wie beim Lebenslauf wird betont, dass die Abfolge nicht willkürlich ist) und sie bestimmt die die Auswahl der Details. Außerdem zeigt sie, dass sogar ein Wirbelsturm festen Regeln folgt: er sah ein blasses, elektrisches Feuer im Himmel und hörte ein immer lauter werdendes Heulen. Er war jetzt mitten in einem heftigen Wind. Fliegende Trümmer, Stücke von abgebrochenen Ästen, Splitter, größere Gegenstände, die in der zunehmenden Dunkelheit nicht zu erkennen waren, flogen an ihm vorbei. Einem Instinkt folgend, stieg er aus dem Auto aus, und da er sich in dem Wind kaum noch aufrecht halten konnte, rannte er zu einer Böschung, wurde er umgerissen und gegen die Böschung gepresst (Fitzgerald, Familie im Sturm).
Dem modernen Text wäre eine solche Stelle zu wenig direkt und er würde den Tornado subjektiv erleben lassen, dabei seinen Hang zur Desorientierung möglicherweise auf die Spitze treiben. Mac Ewan muss sich zwar über Figuren und Vorgänge aufklären, doch für den Leser (und die gewünschte Poesie) darf er die Aktionen zerstücken, neu gliedern, umbenennen, verrätseln: Der schwarze Zopf ist schwärzer als die umgebende Nacht, und der von blasser Haut überzogene Kamm der zarten Wangenknochen zeichnet die Kontur eines Hundebeines ins Dunkel. Warst du das? murmelt sie, oder die Kinder? Eine leise Bewegung, dort bei den Augen, verrät, dass sie geschlossen sind. (…) ihre Worte steigen auf, treiben an mir vorbei und erreichen mich, vom Widerhall überlagert. Dring in mich, während ich schlafe, dring in mich (Mac Ewan, Hin und Her)

Die strapazierte Schule

Der Autor, der das Innen vom Außen deutlich trennt, die Momente datiert, die Chronologie beachtet und nur die wichtigen Details beschreibt, entscheidet sich für weniger Fremdheit und für weniger Wildheit in der Darstellung. Er verstößt gegen das Neuigkeitsprinzip. Andere Prinzipien (andere Tugenden) sind ihm wichtiger. Was ihm nie passiert, ist zB. die falsche Stimme. Mac Ewan kann sie gar nicht verhindern, wenn sein seltsamer Wärter, der bisweilen den Horizont eines Halbwüchsigen hat, an den „kleinen, geduldigen Heldenmut des Wachseins“ und an „die Melancholie der Jets in Warteschleifen“ denkt. Sein Kollege Leeds, der die gleiche Kleidung trägt und mit dem er einmal verwechselt wird, wird vom „strengen Geruch fremder Haut“ umhüllt. Warum denn „umhüllt“? Ja – „um den tiefen, fäkalen Kern zu verbergen“… Dabei hat Mac Ewan, wenn ihm die Sprache nicht entgleist, eine Erzählerpranke. Aber er missachtet die Vernunft, und die poetische Gequältheit mindert seinen Text.

Unvernunft ist auch gegeben, wenn der Autor seine ästhetische Sprache gegen Slangsprache oder Gaunersprache nur deshalb eintauscht, um einen Schockeffekt zu erzielen. Nur das Ganze (id est: die Kunst) rechtfertigt den Bruch der Hochsprache, wenn aber zu wenig Kunst im Spiel ist, und sich dennoch das Ekelhafte, das Scheußliche, das Grausame ausbreiten, wird die Aufmerksamkeit auf unlautere Art geweckt. Der Text „Babyficker“, der am Rande des Bachmann – Wettbewerbs gehandelt wurde, hat die Standards möglicherweise mit verändert. Ein Interview mit Charlotte Roche deutet in die gleiche Richtung. Darin sagt sie über eine ihrer Figuren, mit Monatsblutungen und erweiterten Darmadern, dass sie diesen Stoff beim Schreiben selber ekelhaft gefunden hätte, doch er sei „neu“ gewesen und sie hätte ihn der Literatur schenken müssen.

Mit oder ohne Kunst kann das Tabuisierte dargestellt werden, wobei die Kunst das ausgleichende Prinzip zwischen den verschiedenen Kräften des Stiles ist. Sie hat den humanistischen Ausgleich abgelöst (was extra zu zeigen wäre!), doch diesen Ausgleich kann sie nicht als „Schein von Kunst“ leisten. Sie muss wirklich Kunst sein. Ein Rezensent schwärmt z.B. von Benjamin Percy: Ein Arm senst durch die Luft und der Schrei des Mannes bricht abrupt ab. An seinem Hals öffnet sich ein zweiter Mund. (B.P., Der rote Mond) Das hält er für große Poesie. Es gibt aber keinen hellen Rand und ein dunkles Zentrum, wenn in einen Hals geschnitten wird, sondern die Wunde ist gleichmäßig rot, zufolge des stark austretenden Blutes. Ein geöffneter Mund sieht anders aus.
In den 1990 er Jahren, spätestens, galoppierte der Trend. Da beschrieb ein Autor eine Folter und der Verlag wies ängstlich darauf hin, dass das Buch vom Krieg handelt und vor der Barbarei warnen möchte. Ein anderer Autor malte Vergewaltigungen aus und der Klappentext rechtfertigte die Beschreibungen dadurch, dass er sagte, die Grausamkeiten passierten nur im Kopf des gut verwahrten Häftlings. Überall Rechtfertigungen, wie man sie aus der Werbung kennt. Die Reklame für „American Psycho“ (von Bret Easton Ellis) beschwor „Mut und Tapferkeit“ beim Leser, der die ausgedehnten Grausamkeiten hinunter würgt, so als könnten Mut und Tapferkeit beim Lesen aktiviert werden.
Beim großen Schock (Wechseln der Sprache) in Literatur, Film und Malerei hat sich das kulturelle Österreich kreativ hervorgetan. Der Wiener Aktionismus wurde dadurch berühmt, dass er ästhetische Form durch den Austritt von Kot, Blut, Urin, Sperma, Eingeweiden und Gehirn zerstörte. Diese Aufhebung war klar gedacht und vielleicht sogar wirklich nötig (weil ein kultureller Nachholbedarf in Richtung Modernität bestand), doch sie hat die klassischen Traditionen verdeckt. Jetzt sind die jungen Dichter, die jungen Filmemacher, die jungen Maler im Land, denen das Neuigkeitsprinzip nicht genügt, richtungslos und ganz allein.
Und die jungen Autoren wissen nicht einmal, dass der kleine Schock (die Poetisierung des Ekelhaften, des Scheußlichen, des Grausamen) besser nicht gemacht werden soll, weil er nirgendwohin führt, nichts Gutes bewirkt. Im Russischen, sieht man jetzt, hat der berühmte Isaak Babel vernunftlose Poesie eingeführt. Das geschah in der „Reiterarmee“, als er die Tagebücher seiner Kriegsteilnahme poetisierte. ZB. sitzt ein misshandelter Jude abwesend in einer Hütte und summt vor sich hin, in seinem weißen Bart pickt das schöne, rote Blut und nebenan auf dem Fußboden liegt seine vergewaltigte und tote Tochter. Reine Poesie.


© M. Luksan, Dez. 2014

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