DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Guter Boulevard ist kunstvoll und seicht

Die Zeitung Heute hat formale Tugenden der Kronen Zeitung übernommen (die bündige Sprache, das sorgfältige Layout) und sich zugleich von deren Vorurteilen frei gehalten. Ihre Beiträge sind kürzer und die Vielfalt ihrer Themen ist größer. Auf den Seiten 2 und 3 von Heute wird ein rasanter Inhaltswechsel praktiziert, bei dem die Inhalte keineswegs beliebig wirken, denn sie sind scharf gegeneinander gestellt und bieten jedem Leser/jeder Leserin irgendetwas. Es wäre interessant zu wissen, wer die Beiträge auf Seite 2 auswählt und anordnet; wer immer das macht, hat ein poetisches Talent (Das Neueste kurz).

Die Boulevardpresse wird in der Regel unterschätzt. Einer der Hauptvorwürfe besteht darin, dass der Journalist durch seine Anpassung an den breitesten Meinungsstrom den wahren Trend gar nicht kennt. Das kann man zB. Heute nicht vorwerfe, die am 18. 10. 2012 (im Blattinneren) titelte: Jetzt spricht der Todeslenker. Diese Überschrift wählten die Blattmacher für einen Autolenker, der durch sein Mitverschulden drei Mitfahrerinnen den Tod gebracht hatte. Die Zeitung zog es vor, nicht die Angehörigen der Opfer anzuhören, sondern den „Untäter“ interessant zu machen. Das ist ein Megatrend moderner Medien, die Beschreibung der Horrorwelt des Täters, die einfach mehr Leser bringt als die Klagewelt der Opfer (siehe „Eislady“, Massenmörder Breivik usw.). Der ORF wandelte diesen Trend durch ein Interview mit der Frau des Grazer Mehrfachmörders ab, aus Interesse nicht an diesem Nebenopfer, sondern aus Interesse am Mörder, der für ein Interview nicht greifbar war. Die Zeitung Heute schloss eng an dieses ORF Format an, mit der Headline Jetzt spricht die Frau des Amokfahrers und mit den Untertiteln 45 Minuten-Interview. Heute Abend in „Thema“ (21.05, ORF 2). Eingesperrt, geschlagen, Handyverbot usw. (29.06.2015) Der Boulevard fördert so die Quote von TV und erhöht gleichzeitig seine eigene Wichtigkeit.

Die Kürze der redaktionellen Beiträge erlaubt in einer Boulevardzeitung keine nähere Erklärung. Es gibt keine Hintergründe, keine Analysen, der Artikel muss selbsterklärend wirken. Das tut er aber nur im besten Fall, dann durchdringen einander Hintergrund und Vordergrund, wie in der alten Poesie. Ein Beispiel für das kunstvolle Formulieren liefert folgender Kurzartikel: Heimwerker-Trio zu laut. Senior droht mit Pistole. - Lärm im Gemeindebau brachte einen Floridsdorfer (63) Samstagabend gehörig aus der Ruhe. Drei Jugendliche (16 bis 17) hatten noch um 19 Uhr auf einem Balkon in der Jedlersdorfer Straße 99 Holzbretter für Bodenlegearbeiten geschnitten. Ein Anrainer fühlte sich gestört, beschimpfte die Heimwerker. Daraufhin schaute das Trio auf ein klärendes Gespräch bei dem Nachbarn vorbei. Nach kurzem Streit bedrohte der Pensionist die Burschen mit einer Pistole, soll einen sogar mit der Faust gegen den Hals geschlagen haben. Das Trio flüchtete, rief die Polizei. „Der Mann verhielt sich kooperativ, händigte die Waffe sofort aus“, so Polizeisprecher Roman Hahslinger. Er wurde angezeigt. (Heute, 2.3.2015) Hier sind die näheren Umstände, der genaue Ablauf und die Informationsquelle in die Schilderung des Vorfalles hineingearbeitet und es gibt nichts mehr, was der Leser noch wissen müsste.

Bevor die Kunstwirkung ganz aufhört

Die bunten und anregenden Beiträge stehen oft verschwiegen und reißerisch da, ihre Inhalte werfen dann Fragen auf, die sich auch ein flüchtiger Leser stellen kann. Um bei der Zeitung Heute, vom 18.10.12, zu bleiben: Wenn ein Jackpot in der Höhe von 1,9 Millionen Euro auf die Spieler wartet, sollte an die Kehrseite dieses Glücks, die Einnahmen des Staates durch Lotto (die gut sind!), erinnert werden. Oder wenn eine „Cold Case“ – Ermittlung bei einem Mordfall in Wiener Neustadt Jahre später die Auflösung des Mordes bringt, möchte der Leser wissen, ob ein verdeckter Ermittler, den man in den Kreis der Tatverdächtigen eingeführt hat, das Ergebnis brachte, oder eine wissenschaftliche Spurenauswertung (Cold Case ist ein weiter Begriff). Wenn eine Oma einen Bankräuber stellt und ihm die Maske vom Kopf reißt und ein 62 jähriger dann die Flucht ergreift, sollte man das Untypische dieser Heldentat hervorkehren (wäre der Täter 20 Jahre alt gewesen, hätte sich die Oma durch diese Tat stärker gefährdet. Digitale Killer - Spiele hätten den Jungen beeinflusst). Bei Carl Ludwig Richard und Alexander Richard, die im Wiener Rathaus gefeiert wurden, wäre man gern daran erinnert worden, was für einen Deal die Stadtverwaltung mit den Dr. Richard Bussen schloss. Und bei dem Spielfilm über den amerikanischen „Staatsfeind“ Julian Assange, der in Hollywood produziert wurde, hätte man den Verdacht nicht weglassen sollen, dass der Streifen vielleicht einseitig geraten wird (was in der Folge auch geschah), zumal sich Hollywood selber zensuriert.

Die Welt, wie sie im Boulevard erscheint, wird nicht primär durch Unrichtigkeit verfälscht, sondern durch Geistlosigkeit entwirklicht. Letztere hat mit dem Fehlen von Sprachbeherrschung und großer Bildung zu tun. Der Qualitätsjournalist darf unter Umständen wie ein Jurist formulieren, aber der Boulevardjournalist darf das nicht, er muss die Sprache komprimieren. Er könnte seine großen und kleinen Nachrichten wie Telemax (R. Löffler) formulieren, doch dafür fehlen ihm Zeit und Raum. So wird im Boulevard die Sprache auf Teufel komm heraus verdichtet und man prüft lediglich (aber keineswegs stets), ob sich die Artikel von selbst erklären. Auf den verachteten, aber viel gelesenen Society – Seiten ist die Sprache am ehesten im Gleichgewicht, einfach weil es für schöne, lockere und gut gelaunte Promis als Teilnehmer eines Festes keinen Hintergrund gibt.

Über Unfall, Krieg, Seuche, Naturkatastrophe und Hungersnot, Verbrechen und Terror, Kuriosität, Prominenz und Mode geht der Boulevard oft nicht hinaus. Die Zeitung Heute ist hier anders. In der Ausgabe vom 29.6.15 ist zwar auf Seite 3 noch zu lesen: „Wir stürzen ab“. Pilot legt Paris Hilton rein, doch auf Seite 4 wird eine politisch ernste Sache behandelt: 44% Prozent fühlen sich wie Fremde im eigenen Land. Auf Seite 5 heißt es: Ich werde Mitterlehner nicht in mein Personen-Komitee holen, und Seite 8 ist der Griechen-Krise gewidmet („Griechenland – EU – Krise“ sollte es wohl heißen). Und auch die Seite 16 hat man für nüchterne Sachthemen bestimmt: Ab Mittwoch gibt´ s Gratis-Zahnspangen usw. Dh. die Zeitung hält durch bunte Kürzestbeiträge zu Beginn die reinen Infotainment –Leser fest. Sie zielt andererseits durch Sachartikel im Blattinneren auf die ernsthaften Zeitungsleser ab. Das sind die Leute, die von Psycho-Trends weniger abhängig sind, weil sie die Relevanz der Nachrichten für sich selbst beachten.

In der Heute – Zeitung vom 3.7.15 wurde ein stets rührendes Motiv der alten Fotomeister (Schüler nach der Zeugnisverteilung, aus der Schule kommend) mit der Headline Ministerin stellt 50 neue Zelte auf in Korrespondenz gebracht. Die spürbare Gegenstellung der Freude der Eigenen (Bild) gegen das Unglück der Fremden (Satz) ist ein positives Infotainment, das die rationale Urteilskraft fördert statt schwächt, und zeigt eine äußerste Möglichkeit von Boulevard. Er bedient sich hier dieser Mittel, um auch bei Schulfragen und Flüchtlingsfragen noch das große Publikum zu erreichen. Gut ist er dann, wenn er weiß, dass er nie genügend Erklärung haben wird, um die Wirklichkeiten, auf die er zeigt, journalistisch darstellen (rekonstruieren) zu können.

Bevor die Kunstwirkung ganz aufhört

© M. Luksan, Juli 2015

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