Die Zeitung Heute hat formale Tugenden der Kronen Zeitung übernommen
(die bündige Sprache, das sorgfältige Layout) und sich zugleich von deren
Vorurteilen frei gehalten. Ihre Beiträge sind kürzer und die Vielfalt ihrer
Themen ist größer. Auf den Seiten 2 und 3 von Heute wird ein rasanter Inhaltswechsel praktiziert, bei dem die Inhalte keineswegs beliebig
wirken, denn sie sind scharf gegeneinander gestellt und bieten jedem
Leser/jeder Leserin irgendetwas. Es wäre interessant zu wissen,
wer die Beiträge auf Seite 2 auswählt und anordnet; wer immer das
macht, hat ein poetisches Talent (Das Neueste kurz).
Die Boulevardpresse wird in der Regel unterschätzt. Einer der Hauptvorwürfe
besteht darin, dass der Journalist durch seine Anpassung an den
breitesten Meinungsstrom den wahren Trend gar nicht kennt. Das kann
man zB. Heute nicht vorwerfe, die am 18. 10. 2012 (im Blattinneren)
titelte: Jetzt spricht der Todeslenker. Diese Überschrift wählten die Blattmacher
für einen Autolenker, der durch sein Mitverschulden drei Mitfahrerinnen den
Tod gebracht hatte. Die Zeitung zog es vor, nicht die Angehörigen der Opfer anzuhören, sondern den „Untäter“ interessant zu machen. Das ist ein
Megatrend moderner Medien, die Beschreibung der Horrorwelt des Täters,
die einfach mehr Leser bringt als die Klagewelt der Opfer (siehe „Eislady“, Massenmörder Breivik usw.).
Der ORF wandelte diesen Trend durch ein Interview mit der Frau des
Grazer Mehrfachmörders ab, aus Interesse nicht an diesem Nebenopfer,
sondern aus Interesse am Mörder, der für ein Interview nicht greifbar war.
Die Zeitung Heute schloss eng an dieses ORF Format an, mit der
Headline Jetzt spricht die Frau des Amokfahrers und mit den Untertiteln
45 Minuten-Interview. Heute Abend in „Thema“ (21.05, ORF 2). Eingesperrt,
geschlagen, Handyverbot usw. (29.06.2015) Der Boulevard fördert so die
Quote von TV und erhöht gleichzeitig seine eigene Wichtigkeit.
Die Kürze der redaktionellen Beiträge erlaubt in einer Boulevardzeitung
keine nähere Erklärung. Es gibt keine Hintergründe, keine Analysen,
der Artikel muss selbsterklärend wirken. Das tut er aber nur im besten
Fall, dann durchdringen einander Hintergrund und Vordergrund, wie in
der alten Poesie. Ein Beispiel für das kunstvolle Formulieren liefert
folgender Kurzartikel: Heimwerker-Trio zu laut. Senior droht mit Pistole.
- Lärm im Gemeindebau brachte einen Floridsdorfer (63) Samstagabend
gehörig aus der Ruhe. Drei Jugendliche (16 bis 17) hatten noch um 19 Uhr
auf einem Balkon in der Jedlersdorfer Straße 99 Holzbretter für
Bodenlegearbeiten geschnitten. Ein Anrainer fühlte sich gestört,
beschimpfte die Heimwerker. Daraufhin schaute das Trio auf ein
klärendes Gespräch bei dem Nachbarn vorbei. Nach kurzem Streit
bedrohte der Pensionist die Burschen mit einer Pistole, soll einen sogar
mit der Faust gegen den Hals geschlagen haben. Das Trio flüchtete,
rief die Polizei. „Der Mann verhielt sich kooperativ, händigte die Waffe
sofort aus“, so Polizeisprecher Roman Hahslinger. Er wurde
angezeigt. (Heute, 2.3.2015) Hier sind die näheren Umstände, der
genaue Ablauf und die Informationsquelle in die Schilderung des
Vorfalles hineingearbeitet und es gibt nichts mehr, was der Leser
noch wissen müsste.
Die bunten und anregenden Beiträge stehen oft verschwiegen
und reißerisch da, ihre Inhalte werfen dann Fragen auf, die sich
auch ein flüchtiger Leser stellen kann. Um bei der Zeitung
Heute, vom 18.10.12, zu bleiben: Wenn ein Jackpot in der Höhe von
1,9 Millionen Euro auf die Spieler wartet, sollte an die Kehrseite dieses
Glücks, die Einnahmen des Staates durch Lotto (die gut sind!),
erinnert werden. Oder wenn eine „Cold Case“ – Ermittlung bei einem
Mordfall in Wiener Neustadt Jahre später die Auflösung des Mordes
bringt, möchte der Leser wissen, ob ein verdeckter Ermittler, den
man in den Kreis der Tatverdächtigen eingeführt hat, das Ergebnis
brachte, oder eine wissenschaftliche Spurenauswertung (Cold Case
ist ein weiter Begriff). Wenn eine Oma einen Bankräuber
stellt und ihm die Maske vom Kopf reißt und ein 62 jähriger dann
die Flucht ergreift, sollte man das Untypische dieser Heldentat
hervorkehren (wäre der Täter 20 Jahre alt gewesen, hätte sich die
Oma durch diese Tat stärker gefährdet. Digitale Killer - Spiele
hätten den Jungen beeinflusst). Bei Carl Ludwig Richard und
Alexander Richard, die im Wiener Rathaus gefeiert wurden, wäre man
gern daran erinnert worden, was für einen Deal die Stadtverwaltung
mit den Dr. Richard Bussen schloss.
Und bei dem Spielfilm über den amerikanischen „Staatsfeind“
Julian Assange, der in Hollywood produziert wurde, hätte man
den Verdacht nicht weglassen sollen, dass der Streifen vielleicht
einseitig geraten wird (was in der Folge auch geschah), zumal
sich Hollywood selber zensuriert.
Die Welt, wie sie im Boulevard erscheint, wird nicht primär durch
Unrichtigkeit verfälscht, sondern durch Geistlosigkeit entwirklicht.
Letztere hat mit dem Fehlen von Sprachbeherrschung und
großer Bildung zu tun. Der Qualitätsjournalist darf unter Umständen wie
ein Jurist formulieren, aber der Boulevardjournalist darf das nicht,
er muss die Sprache komprimieren. Er könnte seine großen und kleinen
Nachrichten wie Telemax (R. Löffler) formulieren, doch dafür
fehlen ihm Zeit und Raum. So wird im Boulevard die Sprache auf Teufel
komm heraus verdichtet und man prüft lediglich (aber keineswegs
stets), ob sich die Artikel von selbst erklären.
Auf den verachteten, aber viel gelesenen Society – Seiten ist die Sprache
am ehesten im Gleichgewicht, einfach weil es für schöne, lockere
und gut gelaunte Promis als Teilnehmer eines Festes keinen
Hintergrund gibt.
Über Unfall, Krieg, Seuche, Naturkatastrophe und Hungersnot,
Verbrechen und Terror, Kuriosität, Prominenz und Mode geht der
Boulevard oft nicht hinaus. Die Zeitung Heute ist hier anders.
In der Ausgabe vom 29.6.15 ist zwar auf Seite 3 noch zu lesen:
„Wir stürzen ab“. Pilot legt Paris Hilton rein, doch auf Seite 4 wird eine
politisch ernste Sache behandelt: 44% Prozent fühlen sich wie Fremde
im eigenen Land. Auf Seite 5 heißt es: Ich werde Mitterlehner nicht
in mein Personen-Komitee holen, und Seite 8 ist der Griechen-Krise
gewidmet („Griechenland – EU – Krise“ sollte es wohl heißen). Und
auch die Seite 16 hat man für nüchterne Sachthemen bestimmt:
Ab Mittwoch gibt´ s Gratis-Zahnspangen usw. Dh. die Zeitung hält
durch bunte Kürzestbeiträge zu Beginn die reinen Infotainment –Leser
fest. Sie zielt andererseits durch Sachartikel im Blattinneren
auf die ernsthaften Zeitungsleser ab. Das sind die Leute, die von
Psycho-Trends weniger abhängig sind, weil sie die Relevanz der
Nachrichten für sich selbst beachten.
In der Heute – Zeitung vom 3.7.15 wurde ein stets rührendes Motiv
der alten Fotomeister (Schüler nach der Zeugnisverteilung, aus der
Schule kommend) mit der Headline Ministerin stellt 50 neue Zelte auf
in Korrespondenz gebracht. Die spürbare Gegenstellung der Freude
der Eigenen (Bild) gegen das Unglück der Fremden (Satz) ist
ein positives Infotainment, das die rationale Urteilskraft fördert
statt schwächt, und zeigt eine äußerste Möglichkeit von Boulevard.
Er bedient sich hier dieser Mittel, um auch bei Schulfragen und
Flüchtlingsfragen noch das große Publikum zu erreichen. Gut
ist er dann, wenn er weiß, dass er nie genügend Erklärung
haben wird, um die Wirklichkeiten, auf die er zeigt, journalistisch
darstellen (rekonstruieren) zu können.