DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Reich und Arm – trefflich zurechtgerückt

Wo der Staat die Eigentumsvermehrung der Reichen nicht mehr beobachtet und reguliert, dort bedeutet die Freiheit des großen Unternehmers letztlich das Unglück der Arbeitnehmer. Das beweist England, als ewig junges Beispiel. 1936 marschierten Werftarbeiter aus Jarrow mehr als dreihundert Kilometer nach London, um durch Regierungsmaßnahmen Arbeit zu erhalten, doch die Regierung beachtete sie gar nicht. Sie ignorierte sie nicht einmal. 2011 erinnerten die „March for Jobs“ – Demos in London an den Hochmut der britischen Oberschicht von 1936 durch Transparente wie „We Are The 99%“, „Nationalise the Banks“ und „Take the Wealth of the 1 %“. Das brachte wieder kein Gespräch, war aber eine klare öffentliche Geste.

Die Schere zwischen Arm und Reich ist wieder sehr weit offen. Die aktuelle Ungleichheit in der Vermögensverteilung in Großbritannien, schreibt Martin Schürz, nähert sich gegenwärtig wieder jener des 19. Jahrhunderts an. Der Anteil der reichsten zehn Prozent lag 1850 bei über 85 Prozent des gesamten Vermögens, im 20. Jahrhundert sank dieser Anteil, doch im 21. Jahrhundert ist dieser Trend im Begriff, sich wieder zu drehen. Bereits 2010 ist der Anteil der reichsten zehn Prozent wieder auf 70 Prozent angestiegen.“1 Schürz hat über Arm und Reich in Österreich geforscht, nationale Daten verglichen, Begriffe modifiziert und Ideologiekritik geliefert.

Wenn er schädliche Wirkungen der momentanen Entwicklung nachweist, so zeigt er auch, dass gerade in seinem Forschungsbereich die Sachverhalte ideologisch verzerrt, unrichtig, dargestellt werden. Zum Beispiel das Gerede von der Leistung. Im konservativen Denken ist Reichtum sichtbarer Leistungsausdruck und fungiert für Nicht-Reiche als Leistungsanreiz.2 Dass der Reiche besonders tüchtig sei und sich den Reichtum verdient habe sowie die neidlose Bewunderung dazu, ist eine alte Rechtfertigung für sozial und materiell sehr erfolgreiche Personen. Auch wenn es diesen Typus gibt, so erklärt er nicht den massenhaft angewachsenen Reichtum und dessen obszöne Ausprägung im Dollar Milliardär. Die Bedingungen für einen durch Leistung geschaffenen Reichtum sind von den Bedingungen für Erfolg gänzlich überlagert.

Die Analyse der „Erfolgsgesellschaft“ könnte durch die Darstellung von Lebensläufen gut ergänzt werden. ZB. sieht man am Finanzspekulanten, der billige Staatsanleihen kauft, dann geduldig bis zum Staatsbankrott wartet und den Staat vor einem Schiedsgericht zur Zahlung zwingt, das destruktive, aber nicht ungesetzliche Verhalten. Man sieht an der Pornodarstellerin, die den Vertrieb ihrer Filme selber übernimmt, dass man auch durch Schmuddelware reich werden kann. Und der Fußballer, der durch ein einziges Tor in einem wichtigen Spiel in die Society einsteigt und wohlhabend wird, macht ebenfalls evident, dass man Erfolg und Leistung trennen soll.

In einem emanzipatorischen Verständnis, schreibt Martin Schürz, macht Reichtum arm, weil er mit ungerechtfertigter Macht und Privilegien einhergeht.3 Damit ist die Ambivalenz von Reichtum sonnenklar. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft löst sich die gesellschaftliche Spitze von der Zwiebel ab. Die maßgeblichen 10, 5 oder 1 Prozent treten de facto aus dem Sozialverband aus und bilden eine gut abgeschottete, parallele Welt des märchenhaften Luxus, wobei sie auf die Welt der Habenichtse weiterhin einwirken. Diese könnten sich eines Tages abzählen und auf demokratisch – revolutionäre Gedanken kommen.
Schürz macht klar, das der Superreiche auf die Gesellschaft in jedem Fall einwirkt, ob er nun Gutes tut oder keinen Cent ins Spiel bringt. Die große Enthaltsamkeit ist aber selten. Seine Möglichkeiten reichen von politischer Einflussnahme, wie Lobbying, Parteienfinanzierung, über Mediendominanz bis zu vielfältigen Exklusionsmechanismen im Alltag (Gesundheitssystem, Ausbildung, Wohngegend, Distinktion im sozialen Habitus).4 Durch seinen bloßen Reichtum beeinflusst der Superreiche die ökonomische und soziale Struktur eines Landes.

Dann das Gerede von der Mitte. Um diese fürchten heute Wirtschaftsdeuter und Leitartikler, als ob durch das Klaffen der Schere zwischen Arm und Reich die Mittelschicht verändert worden wäre. Schürz zeigt: Die Daten verraten eine solche Veränderung nicht. Warum also das Gerede? Je stärker es im Blätterwald zu den Ängsten der Mittelschicht rauscht, desto eher werden die Armen vergessen und desto ohnmächtiger werden die Rufe nach einer Vermögenssteuer. Die Furcht vor einem Elend in der Mitte hilft der Politik, gemeinsam mit den Reichen Nebelgranaten zur Empörungsableitung steigen zu lassen (…) Das Schwadronieren zur Mitte garantiert, dass die Reichen nicht sichtbar werden.5 Die Mitte wird auch darum beschworen, weil sie das soziale Leben zivilisiert. Das ist ein guter, ein berechtigter Grund. Die Mitte ist ein Argument gegen Privatisierung und für öffentliche Dienstleistungen, weil sie sich selbst der Vergrößerung der staatlichen Serviceleistungen verdankt. Kosten Schule und Unis nichts, schreibt Schürz, sind der Arztbesuch und der Spitalsaufenthalt gratis und gibt es hinreichend Absicherung im Alter, braucht man kein Vermögen, um zur Mitte zu zählen.6

Die Reichen von heute zivilisieren nichts. Die Wohltätigkeit ist nicht nachhaltig und die Gemeinnützigkeit der Stiftungen ist gering. Als Kunst werden nur Werke gefördert, deren Wert die Stiftung kontrollieren kann, als Wissenschaft werden nur Forschungen gefördert, die dem eigenen Konzern nutzen. Das sind keine Reichen, die sich zeigen und verschwenderisch auftreten, sondern Reiche, deren Lebensstil und Macht man nur erahnt. Sichtbar sind nur Villen und Dienstwägen, und geredet werden kann höchstens über die Boni von SpitzenmanagerInnen. Unsichtbar bleiben Privatstiftungen und Finanzvermögen, und je weniger die Reichen öffentliche Leistungen (…) in Anspruch nehmen, desto mehr verschwinden sie in einer Parallelwelt.7...Stephen Schwarzman (Blackstone Group) verdiente 2006 durch seine Tätigkeit als globaler Firmenbeteiliger und Firmenkäufer 1,1 Millionen Dollar am Tag, 2008 (im Jahr der Krise) waren es 1,9 Millionen Dollar am Tag. Solch ein Verdienst geschieht diskret.

Jarrow - Marchers, 1936
Jarrow - Marchers, 1936

Was England anbelangt, so sank es wirtschaftlich sehr ab, es hat durch die Verringerung der Serviceleistungen des Staates, durch Privatisierung von Staatsbesitz, durch die Brechung der Macht der Arbeitnehmerverbände eine Massenarmut bewirkt. Wer heute nach England fährt, kann das auf Schritt und Tritt beobachten. Schlecht bezahlte Jobs, Arbeitslosigkeit, Gettoisierung, Perspektivelosigkeit. Das Wort „Arbeiterklasse“ wird aus dem politischen Sprachschatz gestrichen und durch „Unterschicht“ und „chavs“ ersetzt.8 Martin Schürz erinnert an die englischen Unruhen von 2011. Diese zeigten klar, wer heute im Besitz der Sprache ist und wer sich sprachlos (unzivilisiert) Gehör verschafft. Vier Tage lang machten junge Leute von Tottenham in London ausgehend und sich über andere Städte ausbreitend durch Schreie, Steinwürfe und Zerstörungen ihre Wut öffentlich. Sie tobten und plünderten und erhoben keine einzige politische Forderung. Sie erlebten zwar ihre Entbehrungen, ihre traurigen Wohnverhältnisse, ihre Zukunftslosigkeit ganz scharf, doch sie wollten nur all das endlich konsumieren, was ihnen die Schaufenster und das Fernsehen täglich vorgaukeln.

Arm und Reich klaffen weiter auseinander, doch die größer werdende Unterschicht hat kein strukturiertes Bewusstsein mehr, keine Ideologie. Das Entscheidende könnte nun die demokratisch eingesetzte Politik leisten, doch diese macht nichts, sie „moderiert“ bestenfalls den Konflikt. Martin Schürz sieht ein sehr einfaches Prinzip am Werk: Das Vermögen wächst mittlerweile schneller als das Wirtschaftswachstum (...) Das Einkommen aus Arbeit hält demnach nicht Schritt mit dem Einkommen aus Vermögen. Erfolgt dann auch noch die Besteuerung ungleichlastig zuungunsten von Arbeit, dann muss die Kluft zwischen Arm und Reich weiter steigen.9 Die Demokratie steht dann in Frage.

1 Susanne Jirkuff, Martin Schürz, Vererbte Chancenlosigkeit: die alte Klassengesellschaft. Für ein Kunstbuch der Sezession, 2015, Manuskript, S. 3
2 M.S., Reichtum – Spuren im Nebel, WISO, 32. Jg., 2009, S. 17
3 a.a.O., S. 17
4 a.a.O., S. 18
5 M.S., Kein Abschied von der Mitte, Die Zukunft, 11/2013, S. 7 und 8
6 a.a.O., S. 7
7 M.S., 2015, S. 6
8 a.a.O., S. 5
9 a.a.O., S. 8


© M.Luksan, August 2015

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