DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Der Allwissende in der Literatur

Der Erzähler, der in seinem Text nicht ständig dazusagt, dass er nichts weiß, sollte nach Auffassung von W. G. Sebald gar nicht vorkommen. Diese letztlich maßlose Meinung zitiert James Wood in seinem Buch „Die Kunst des Erzählens“: Jegliche Form des auktorialen Schreibens, bei der sich der Erzähler als Bühnenbildner, Spielleiter oder Richter und Vollstrecker einsetzt, finde ich unhaltbar. (J.W., Reinbek 2011, S. 20) Er zitiert Sebald und nicht sich selber. Jener Kunstideologe sagt zwar „ich“, aber er meint „man“. Und er kann auf Wettbewerb und Vielfalt verzichten, ihm kann das Spiel der Kunsthaltungen und Stile gestohlen bleiben, es soll aufhören, zugunsten der von ihm bevorzugten Kunst.

Was macht nun der allwissende Erzähler, dass er so unhaltbar ist und nicht länger ertragen werden kann? Ein Autor, der die Auktorialität erneuerte und für alle Großen der US – Literatur Erzählmodelle lieferte, war Sherwood Anderson. Er schreibt: Abends, wenn der Sohn bei seiner Mutter im Zimmer saß, fühlten sich beide verlegen wegen ihres Schweigens. Es wurde dunkel, und der Abendzug lief in die Station ein. Unten auf der Straße stapften Füße auf dem hölzernen Bürgersteig auf und ab. Und wenn dann der Abendzug abgefahren war, lastete die Stille über dem Bahnhofsgelände. Höchstens, dass Skinner Leason, der Expedient für das Eilgut, noch einen Lastkarren die Laderampe entlang schob. Die lachende Stimme eines Mannes klang von der Main Street herüber. Die Tür des Frachtkontors wurde mit einem Knall zugeschlagen. George Willard erhob sich, ging durchs Zimmer und tastete nach dem Türgriff. Es kam vor, dass er gegen einen Stuhl stieß, der dann über den Fußboden schurrte. Die Kranke blieb am Fenster sitzen, ohne sich zu regen und wie teilnahmslos. Ihre langen Hände hingen weiß und blutleer über das Ende der Armlehnen ihres Sessels. ´Ich glaube, es ist richtig, du gehst jetzt zu den anderen Jungen hinaus. Du hockst zu viel zu Haus´, sagte sie, um ihm den Entschluss zum Weggehen zu erleichtern. (Sh. A., Winesburg Ohio, Frankfurt/Main 1973, S. 26 f.)

Der Autor hat sich eine von außen kommende Erzähler-Stimme geschaffen, die sich der Stimme keiner einzigen Figur annähert. Die Figuren sprechen anders als er. Er ist kein Richter und Vollstrecker, sondern urteilt vorsichtig und ausgewogen (fühlten sich beide verlegen etc.). Er weiß mehr als die Figuren wissen (Höchstens, dass Skinner Leason etc.), aber doch nicht alles (Die lachende Stimme eines Mannes etc.). Er hat einen Überblick über die Zeiträume (Es kam vor, dass etc.) und er kennt die Motivationen für das Reden und Handeln der Figuren (um ihm den Entschluss zum Weggehen zu erleichtern). Trotz seines überlegenen Wissens distanziert er sich nirgendwo von den Figuren, sondern legt im Gegenteil ein warmherziges Mitfühlen an den Tag, er wirbt gleichsam um Verständnis für die Gewöhnlichkeit oder die Absonderlichkeit der Figur.

Etwa zwanzig Jahre später ist die auktoriale Stimme etwa bei John Dos Passos stark verändert. Dem warmherzigen Erzähler, der für seine Figuren spricht und dem der Leser vertrauen kann, wird in den 1930 ern nicht mehr geglaubt. Die Stimme klingt nun so: Stevens kam durchs Zimmer auf Dick zu und fragte ihn, was für ein Mensch Moorehouse sei. Dick errötete. Er ist ein außerordentlich tüchtiger Mann, stotterte er. – Ich hatte den Eindruck, dass er nur eine ausgestopfte Puppe ist… Ich habe auch nicht begreifen können, was diese verfluchten Schafsköpfe von der bürgerlichen Presse sich eigentlich für ihre Blätter erwarteten. Ich war für den Londoner Daily Herald dort. Ja, ich habe Sie gesehen, sagte Dick. Nach dem, was mir Steve Warner gesagt hat, war ich der Meinung, Sie gehörten zu den Leuten, die von innen her Zersetzungsarbeit leisten! Zersetzen und sich zersetzen lassen! Stevens beugte sich über ihn, starrte ihn an, als wolle er ihm eine runterhauen. Na, wir werden ja bald wissen, in welchem Lager jeder steht. Es dauert nicht mehr lange, dann werden wir alle unser Gesicht zeigen müssen, wie man in Russland sagt. Eleanor unterbrach sie mit einer frischen, dampfenden Flasche Champagner. Stevens kehrte zum Fenster zurück, um sich mit Eveline zu unterhalten. Ebensogern möchte ich einen Baptistenprediger im Haus haben!, kicherte Eleanor. Hols der Teufel, ich kann Menschen nicht ausstehen, die sich nur dann amüsieren, wenn sie anderen das Leben sauer machen, brummte Dick leise. Eleanor lächelte ein schnelles, spitzes Lächeln und gab ihm einen Klaps auf den Arm (J.D.P., Neunzehnhundertneunzehn, Reinbek 1979, S. 534)

Die Stimme, die bei Dos Passos spricht, ist verglichen mit Anderson, unpersönlich. Jean Paul Sartre bezeichnete sie als „Chor“ (J.P.S., Der Mensch und die Dinge, Reinbek 1978, S. 18 ff.). Sie erzählt quasi – journalistisch von Menschen, Situationen und Ereignissen, die nicht frei erfunden sind, sondern größtenteils auf Dokumenten beruhen. Dos Passos bringt sogar die Bruchstücke dieser Dokumente als „Kameraauge“ und „Weltwochenschau“ zwischen seinen Texten. Die Figuren stehen unkommentiert da und auch ihre Handlungen werden von der Chor – Stimme nur minimal beurteilt (lächelte ein schnelles, spitzes Lächeln etc.). Da ein Reporter üblicherweise einen Mittelwert liefert, nämlich das, was jeder sehen und hören kann, die Figuren aber individuelle, durch Zufälle gebogene Lebenswege gehen, entsteht eine Anregung für den Leser. Der Leser sagt sich: Der Mensch lebt sein Leben, ohne dass es ihm vorgeschrieben wird, und ist dennoch überhaupt nicht frei.

So hat er es gemacht. Dos Passos dachte sich die Lebenswege der Figuren selber aus, gestaltete aber die Figuren mit dem On Dit der Gesellschaft. Das war eine Abänderung des auktorialen Schreibens, durch die er über die fiktive Welt des Textes hinaus wirkte. Der Leser denkt über das Schicksal der Figuren nach, ohne dass der Autor ausdrücklich wird und ihn belehrt. Dadurch ist der Hauptvorwurf an die Adresse des allwissenden Erzählers entkräftet. Der diskrete Spielleiter bleibt allerdings erhalten (doch wo gibt es diesen nicht?), aber der Vorwurf der Hochstapelei ist gegenstandslos geworden. Ein Autor von der Art des Dos Passos täuscht kein größeres Wissen vor, als er hat, er zeigt im Gegenteil die Spitze des Eisberges, er hat mehr Material, als er überhaupt gestalten kann.

Beim personalen Schreiben ist das Wissen des Erzählers nicht verschwunden, wird aber nicht ganz ernst genommen, vielleicht sogar ständig in Frage gestellt. Als Beispiel die Icherzählerin bei Ingeborg Bachmann, eine hascherlartige Frau, die dennoch in die Handlung eintritt: Wenn der Fahrtwind nicht wäre, würde ich bitterlich weinen, auf dem halben Weg nach Sankt Gilgen, aber der Motor stottert, wird ganz still. Atti wirft den Anker, das ganze Ankergeschirr hinaus, er schreit mir etwas zu, und ich gehorche, das habe ich gelernt, dass man auf einem Boot gehorchen muss. Nur einer darf etwas sagen. Atti kann den Kanister mit dem Reservebenzin nicht finden, und ich denke, was wird wohl aus mir werden, die ganze Nacht auf dem Boot, in dieser Kälte? Es sieht uns ja niemand, wir sind noch weit weg vom Ufer. Aber dann finden wir den Kanister doch, auch den Trichter. Atti steigt vorne aufs Boot, und ich halte die Laterne. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich wirklich noch an ein Ufer kommen möchte. Der Motor springt aber an, wir ziehen den Anker ein, fahren schweigend nach Hause, denn Atti weiß auch, dass wir die ganze Nacht auf dem Wasser hätten zubringen müssen. Zu Antoinette sagen wir nichts, wir schmuggeln Grüße ein von drüben, erfundene Grüße, ich habe den Namen der Leute vergessen. Ich vergesse immer mehr. Es fällt mir beim Abendessen auch nicht ein, was ich Erna Zanetti, die mit Antoine in der Premiere war, ausrichten sollte oder wollte. (I.B., Malina, Frankfurt/Main 1983, S. 172)

Im Text der Bachmann wird assoziiert und bruchstückhaft erzählt, das ist von Reiz. Es entsteht aber eine Dauerspontaneität, die es dem Text nicht erlaubt, die Aufmerksamkeit des Lesers jemals anzuspannen. Das plappernde Bewusstsein erschöpft sich bald. Und es ist auch nicht die Welt, in der die meisten Menschen leben. Literarische Figuren haben nicht nur die scheinbare Zeitlosigkeit des Innern, sondern auch die Chronologie äußerlicher Handlungen nötig. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das personale Schreiben, (das „Malina“ hervorbrachte) stellt die innere Welt auf Dauer und lässt die äußere in Bruchstücken darin auftauchen, aber es liefert – wie das auktoriale Schreiben – nur eine Teilansicht der Welt. Es lässt den handelnden Menschen weg.

Robert Schindel Bild

Robert Schindel hat den auktorialen Spielleiter benutzt (in einem Roman über das Erinnern an den Holocaust) und dabei nicht nur die Auf- und Abtritte seiner Figuren geregelt: er stapelte den Artikel zusammen und eilte zu seinem Chef. Klingler hielt ihm die Hand hin. Geben Sie her, geben Sie her! Er las, schnaufte dabei, lächelte. Nanu, an?, Klingler drehte das letzte Blatt um, sah unter seinen Schreibtisch. Da fehlt doch was. Kürzen Sie in der Mitte bissl und kommen Sie zum Ende. Er gab ihm den Artikel zurück, erhob sich und ging zum Fenster. Und mildern Sie das Ganze etwas. Der Zorn ist ein mäßiger Autor! Schreiben Sie es zu Ende, sagte Apolloner und wollte ihm den Artikel auf den Schreibtisch legen. Seien Sie nicht kindisch, sagte Klingler und drehte sich zu ihm. Glauben Sie, mir schmeckt das? Lassen Sie die Wortspiele draußen und schreiben Sie noch etwas über die österreichische Krankheit. Das haben Sie schön angedeutet, aber eben nur angedeutet. Kommen Sie Roman, kühler Kopf zum heißen Herzen. Kühler Kopf! - Klingler schaute auf seine Armbanduhr. Bis um fünf. Um halb sechs lieferte Apolloner den Artikel ab, fuhr ins Pick Up und stellte sich neben Karl Fraul an die Bar. Ich weiß selbst nicht, warum ich in eine derartige Dauerwut hineingeraten bin. Ich ging im Pick Up zum an der ersten Bar lehnenden Karl Fraul, stellte mich neben ihn, klopfte ihm auf den Oberarm und strebte weiter zur zweiten Bar, an welcher niemand stand. Fraul hatte mir ein heiseres ´Servus Roman´ hingesagt. Nun drehte ich mich um und schaute zu Fraul zurück, der mit dem Rücken zu mir ein neues Bier orderte. (R.S., Der Kalte, Frankfurt/Main 2014, S. 233f.)

Schindel gibt die äußeren Handlungen in dürrer Sprache wieder und beendet sie nur deswegen, um eine Innenwelt einzuschalten. Diese liefert keine eigene Sprache der Figur, sondern bietet nur jene Auktorialität, die sonst überall den Text dominiert. Damit ist der Sinn dieses Wechsels von Auktorial und Personal verfehlt. Der allwissende Erzähler soll nicht der heimliche Herr von personalen Innenwelten sein, sondern besser zusammenfassen, behutsamer urteilen und mehr wissen.

© M.Luksan, Oktober 2015

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