DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Vergleich zweier Realisten

Der als Pornograf und Bildungs - Hochstapler geschmähte Arno Schmidt war ein rarer Modernist. Er war modern und unmodern zugleich. Er entwickelte die meisten seiner Texte auf einer Zeitlinie, er bevorzugte das (nachlässige) Ich als Perspektive und er behandelte gewöhnliche, schon oft dargestellte Inhalte. In dem Text „Windmühlen“ stellte er den Besuch eines sommerlichen Freibades dar: Wie häufig mögen im Bundesgebiet die Orte sein, wo es kein Coca Cola gibt? fragte er, ohne Groll, obgleich er bereits zum zweiten Mal auf die Bremse treten musste, weil das fantastische Lastauto vor uns erneut langsam fuhr. Groß wie die Wand eines Familien-Fertighauses war das Reklameschild am Heck geworden. Nach einer Berechnung von Gauß so häufig, antwortete ich, wie 5 Fönixe, 10 Einhörner oder 22 Bedeckungen des Jupiters vom Mars. Kommt das überhaupt jemals vor? erkundigte er sich. Zum Beispiel am 5.1.1591, entgegnete ich, geübt u,nd kalt, und er schnob misstrauisch. Ölbohrtürme ringsum. Frau Technik regte ihre mit Recht so genannten Tausendgelenke zugleich. Dazwischen noch nichts ahnende Äcker; um den einen Zaunpfahl aber auch schon der Totenkranz aus rostigem Stacheldraht – nun kam auch noch unsere Staubfahne als Witwenschleier dazu. (A. Schmidt, Das große Lesebuch, Frankf. am Main, 2013, S. 199) Der Text ist artifiziell, aber nicht sprachlich ökonomisiert, er ist auf möglichst viele, nicht-konzeptionelle, erst im Schreibakt zufällig auftretende Einfälle angewiesen. Auch bemüht sich der Autor nicht, alle Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedanken auf sein perspektivisches Ich zurückzuführen. Das Ich wird nur für einen Dialogsatz gebraucht (antwortete ich, entgegnete ich) und für die Zurückführung eines Objekts der äußeren Welt auf ein Wir (unsere Staubfahne).

Weil die Sprache von Arno Schmidt nicht ökonomisiert ist, lässt sich sein nachlässiges Ich in ein straffes Ich umformulieren: Gibt es bei uns überhaupt Orte ohne Coca Cola?, fragte er seelenruhig. Er musste gerade wegen des Lastwagens vor uns bremsen. Das Reklameschild am Heck des LKW kam uns ziemlich nah. Dass es Coca Cola irgendwo nicht gibt, ist so wahrscheinlich wie 22 Bedeckungen des Jupiters durch den Mars. Kommt das denn vor? O ja, am 5.1.1591 ist das passiert. Er schwieg, aber er glaubte mir nicht, das war zu sehen. Bohrtürme ,rechts und links der Straße. In manchen Äckern waren schon die Zaunpfähle eingeschlagen, mit Stacheldraht rundherum. Wir fuhren also und wirbelten viel Staub auf. Das ist ungefähr der gleiche Inhalt, direkter und lesbarer formuliert, man verliert jedoch alle Bilder, die das Ich eines komischen Gelehrten hervorbringt (von dem die Fachwelt irrigerweise behauptet hat, dass es Schmidt selber sei). Die Gauß´ sche Mathematik und die Fabelwesen gehen verloren, ferner die „Frau Technik“ mit ihren „Tausendgelenken“, die „noch nichts ahnende Äcker“, der „Totenkranz“ und der „Witwenschleier“.

Sogar dort, wo sich das Gelehrten-Ich nicht zu Wort meldet, erkennt man die Novität der Schmidt´ schen Welt durchaus deutlich: Mehr böse Träume aus Zement & Glas und Nickel & Schwarzbakelit. Das Rathaus (Ob die Blumen davor „Geranien“ hießen?)/ Eine sehr Neue Kirche. / Den Vogel schoss die Kreissparkasse ab; entweder waren die Architekten uns allen so weit voraus? und der Mund schnappte mir vor dem „oder“ von alleine zu, denn ich bin wie jeder anständige Mensch meiner Ansichten oft müde. – Austern – Stew & Leberkäse & Krabben & Wiegebraten – in Scheiben? Geh ruhig rein, hier krieg´s De Alles, versicherte er, Die hab ´m sogar´ n Theater! Du wirst noch Knopplöcher machen., Also steifbeinig raus, Richtung Schlachter – Fleischer – Metzger. Erst noch das „Knallert“ vorbei lassen (so nennen die Dänen ein Moped; bei uns wäre der Name unmöglich, denn wir besitzen weder Erfindungsgabe noch Humor. Unter anderem.) Und auch noch die Beiden vorbeilassen - tja, durften Einem bei solcher Lage der Dinge überhaupt „Dörflerinnen“ einfallen? (A.S., a.a.O., S. 200)
Der Gedanke, der zur Situation passt, der Gedanke, der nicht passt und doch auftaucht, der Eigenname und die Wörter, als wären sie dem Lexikon entnommen, sind deutlich zu erkennen. Wenn man die obige Textstelle in ein straffes Ich umformuliert, ist die Überlagerung der Wirklichkeit durch Namen, Wörter und Gedanken weniger deutlich als bei Schmidt, aber immer noch zu erkennen: Der Ort schien aus Zement und Glas, Nickel und Schwarzbakelit gemacht. Das Rathaus (vielleicht mit Geranien davor?), eine sehr Neue Kirche, die Kreis- sparkasse ultraneu. Entweder waren die Architekten uns allen voran, oder aber… diesen Gedanken brach ich ab. Es gab Austern – Stew, Leberkäse, Krabben und Wiegebraten – in – Scheiben. Geh ruhig rein. Hier krieg´ s De Alles. Die haben hier sogar ein Theater! Also steifbeinig raus, dorthin wo „Metzger“ stand. Vorher ließ ich noch ein Moped vorbei und zwei Frauen aus dem Dorf. Die waren schwer zu beschreiben.

Arno Schmidt Portrait

Ein anderer, an Realitäten interessierter Autor, Ian Mac Ewan (der schon als Junger das Erzählen erneuerte), wirkt so, als hätte er dort begonnen, wo Schmidt nach Jahren der Selbstbeobachtung endete: bei der Durchschauung der Funktion des Ich für das Rationale im menschlichen Leben. Er sah, dass das Ich sich als Akteur gebärdet, obwohl es als Agens für das Rationale kaum gelten kann. Dieser heutige Autor hat alles, was ein Erzähler braucht (die Erkenntnisse der Hirnforschung inklusive), er behandelt mit Vorliebe abseitige Inhalte, und erzeugt sprachlich ökonomisierte Texte. Einen Text wie den folgenden kann man nicht umformulieren, ohne dass er seinen Kern verliert: Jetzt streckt Leech die Beine lang von sich, bis sie vor Anstrengung zittern, verschränkt die Finger hinter dem Kopf, lässt die Knöchel knacken, gluckst auf seine vieldeutige, dreckige Art über das, was er in mittlerer Entfernung zu sehen vorgibt, und stößt mit dem Ellbogen sanft gegen meinen Hinterkopf. Scheint fast, es wäre vorbei, was? Stimmt das? Ich liege im Dunkeln. Es stimmt, das alte Hin und Her hat sie in den Schlaf gewiegt. Das uralte Hin und Her fand kein Ende, ist merklich in Schlaf übergegangen. Heben und senken, heben und senken, heben und senken, und zwischen dem Senken und Heben das gefährliche lautlose Innehalten, dann ihre Entscheidung, weiterzumachen. (Mac Ewan, In: Letzter Sommertag, Zürich 2010, S. 248)

In der obigen Erzählung „Hin und Her“ beschreibt Mac Ewan halb wahnhaft, halb realistisch die Atmosphäre in einer Psychoanstalt. Der Text ist dadurch ungewöhnlich, dass der Leser nie erfahren wird, ob das Ich einem Wärter oder einem Patienten gehört. Der Autor lässt das absichtlich offen, wie er auch die Frage, ob das Ich selber mit der im Text beschriebenen Frau koitiert oder ihr beim Koitus, mit wem auch immer, zuschaut, nicht beantwortet. Die Erzählung ist außerdem fragmentiert, sie besteht aus Textteilen, die wie die Sequenzen eines Films Vorgänge, die sich wiederholen, montieren. Mac Ewan spricht die Mehrdeutigkeit seines perspektivischen Ich explizit an: Erst kommt Leech, nein, erst bin ich da, gegen Ende eines Vormittags, lehne mich zurück, trinke einen Schluck, ganz für mich, und Leech kommt vorbei, grüßt, klopft mir unterhalb des Nackens zwischen die Schulterblätter, ein herzlicher, heftiger Schlag. Er steht vor dem Teekessel, breitbeinig, als pinkele er in aller Öffentlichkeit, die braune Flüssigkeit tröpfelt in seine Tasse, und er fragt, ob ich mich an diese oder jene Unterhaltung erinnere. Nein, nein. Er kommt mit seiner Tasse zu mir. Nein, nein, sage ich, ich kann mich an nichts erinnern, sage ich, als er sich auf dem langen Sofa niederlässt, mir so nah, wie er nur kann, ohne… ich selbst zu werden. Ach, der strenge Geruch fremder Haut, die ihn umhüllt, um den tiefen, fäkalen Kern zu verbergen. Sein rechtes Bein berührt mein linkes. In der kalten Stunde vor der Dämmerung klettern ihre Kinder ins Bett, erst eines, dann das andere, sie lassen sich in die würzige Wärme der Erwachsenen fallen, heften sich wie Seesterne an ihre Flanken (denk an den Seestern, der sich an Fels klammerte) und machen mit ihren Zungen leise, nasse Laute. Auf der Straße draußen nähern sich eilige Schritte und verhallen den Hügel hinab…Ich liege am Rand des Wurfs, ein Robinson Crusoe, der Pläne schmiedet (I.McE, a.a.O, S. 251 f.)

Die Unbestimmtheit hat hier Methode. Der Leser soll entscheiden, ob der sensible Wärter, der angstvoll den „strengen Geruch fremder Haut“ erlebt und wie „ein Robinson Crusoe“ am Rand der Betten liegt, vielleicht ein Patient ist und doch kein Wärter. Scheinbar wird das Spiel der Literatur erweitert, in Wahrheit wird die Erzählung abgeschwächt, weil sie (so wie ein Traum) einen wichtigen Sachverhalt mehrdeutig in der Schwebe hält. Es ist eine Erzählung, die sich auf keine feststellbare Welt bezieht, die zeitlich vor ihr da ist; eine „Traumerzählung“ - so könnte man sie nennen. Nur das Gefühl des Lesers wird angesprochen, (nicht auch sein Urteilsvermögen), der Leser soll „gefühlig“ dahin gleiten, sich an Einzelformulierungen erfreuen und ansonsten abschalten. Nach gehabter Lektüre kann er sich nur noch an die eigenen Gefühle erinnern. Mac Ewan hat in der ersten Hälfte seines Schaffens, als er primär Erzählungen und keine Romane schrieb, stets den schrägen Inhalt bevorzugt (die krankhaften Gefühle, den abweichenden Sex, die extremen Situationen) und er hat elliptisch und indirekt erzählt. Am Beispiel seiner Erzählungen könnte man das Wesen literarischer Modernität studieren. Die Moderne in der Literatur würde ihren Nimbus verlieren, falls man ihr nachwiese, dass sie mit einer Spezialisierung des Inhalts und einer Irreführung durch die Form steht und fällt.

© M.Luksan, November 2015

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