Der gelernte Österreicher ist ein normversessener Wendehals, der laut
Alfred Goubran keine einzige Minderheit schützen wird, sollte die
Gesellschaft eines Tages wieder in Totalitarismus umschlagen.
Goubran schließt aus, dass dieser gesteigerte Österreicher das Unheil
etwa von kreativ Andersdenkenden abwenden wird. Er schreibt: Ich sehe
mich als potentielles Opfer von den potentiellen Tätern nur durch die papierene Wand des gelernten Österreichers getrennt. (A. G., Der gelernte Österreicher,
2. Auflage , Wien 2013, S. 102) Diese Übertreibung steht in einem raren
Text, der sozialpsychologische Eigenarten polemisch witzig und einfallsreich behandelt. Goubran beschreibt eine Art unguten „Volksgeist“, bei dem er bohrend fragt, wo denn das Volk da sei. Der gelernte Österreicher ähnelt dem
„Herrn Karl“, ist aber aufregend systematisiert, er ist definiert und durch
eine Reihe von Aspekten angereichert, die das Stück von Qualtinger
nicht enthält. Der gelernte Österreicher von Goubran ist ein Täter oder
ein Mitläufer, er hat mitgejubelt und sich später mit der neuen Zeit arrangiert.
Dabei nahm er selber die Rolle des Opfers ein, das gerade aus diesem
Grund keine wirkliche Öffentlichkeit erhielt. Dieses Prinzip der Verdeckung
und Vertuschung führt nun bei Goubran der gelernte Österreicher
in der Kultursphäre der 2. Republik fort. Er verdeckt und vertuscht als
Kulturträger und Sprecher der Nation die Andersdenkenden in Gestalt
von Künstlern, Schriftstellern, Freidenkern usw., weil diese die Norm und
den Mehrheitsmenschen kritisieren.
Der gelernte Österreicher ist sichtlich bei jedem Anlass und jeder sich
bietenden Gelegenheit bemüht, sich in ein Verhältnis zur Kultur im
allgemeinen und den Kunstschaffenden im besonderen zu setzen.
Er „besitzt“ Kultur, wie man an den Museen und Galerien und diversen
Veranstaltungen sehen kann. Die „Kulturförderung“ ist ihm ein Anliegen,
wie er betont, und doch ist es so, dass die bedeutendsten Werke in
diesem „neuen Österreich“, das aus den Trümmern des Zweiten
Weltkriegs entstand, explizit gegen dieses „neue Österreich“ und den
gelernten Österreicher geschaffen wurden – und diese Gegnerschaft
war nicht ohne Preis: Verhöhnung, Verspottung,
tätliche Angriffe und Beschimpfungen mußten dafür in Kauf genommen
werden, Isolation
oder, wenn es schlimm kam, ein völliges Verschweigen. Gewiss, der
gelernte Österreicher war damals ein anderer, als er es heute ist,
er hat dazugelernt, er ist ein „dazugelernter Österreicher“ geworden,
das ist „ein sich selbst die Aufklärung glaubender“ Österreicher,
doch in diesem Selbstglauben unterscheidet er sich nicht vom
alten Österreicher (A.G., S. 82 f.)
Der gelernte Österreicher glaubt, dass er der neue Österreicher und -
ein echter Kulturmensch sei.
Wo versucht wurde, eine andere österreichische Kultur ins Spiel zu
bringen, die keine Verdrängungskultur ist, etwa in den Fünfzigern und
Anfang der sechziger Jahre, mündete sie in eine Avantgarde, die sich
selbst genügte, in formalen Spielereien erschöpfte und für den Österreicher
weitgehend folgenlos blieb – auch weil es der gelernte Österreicher
verstand, sie als volksferne Kunst in Literaturhäusern und den Instituten
der Universitäten zu isolieren und durch massive Förderungen vom
Markt und von der Begegnung im Alltag fernzuhalten. So wurden
das Formenspiel – als Experiment – und die Unverständlichkeit für
den gelernten Österreicher zu einem wichtigen Kriterium moderner
Kunst - wie auch der Skandal, weil dieser die fehlende Wirksamkeit
alibisiert. An letzterem zeigt sich die pubertäre Kunstauffassung
des gelernten Österreichers ganz unverstellt, als eine im Grunde
geistlose Dummheit und aus dem Ungelebten und dem bloßen
Vorstellen entsprungene Vulgarität, die hier nur Erwähnung findet, weil
sie dem österreichischen Künstler, als gelernten Österreicher, zur
Selbstverständlichkeit geworden ist. Im künstlerischen Selbstverständnis
des gelernten Österreichers gibt es nur den Markt - und den Erfolg –
oder das behagliche Unverstandensein in den Elfenbeintürmen der
Kunsteliten. Das sind nicht die Türme, die Joyce, Rilke oder Hölderlin
noch bewohnt haben, sondern „Künstlerkoben“, die über die
Kulturinstitute als Container in die ganze Welt verschifft werden
(A.G., S. 129 f.)
Alfred Goubran (Foto: Arnold Pöschl)
Ganz nebenbei zeigt dieser Text, dass die Welt der Meinungen und
des schönen Scheins natürlich von Mächten abhängt, größer als
Kunst und Kultur. Eine Person (Identität) und eine Nation (Kultur
eines Nationalstaates) dürfen eigentlich nicht geschwächt werden oder
aber sie bringen Zwiespältigkeiten in der Art des gelernten Österreichers
hervor. Das ist aufregend, wie der Text das zeigt, in einem philosophischen
Milieu, wo jeder Postphilosoph Identität „zerlegt“. Goubrans Text hat
allerdings den Nachteil, dass der Leser nicht immer weiß, welcher Macht
sich eine rundfunk- oder auch nur stammtischverbreitete Widerwärtigkeit
verdankt. Der gelernte Österreicher ist dann an allem schuld, schwankt
zwischen Metapher und Begriff: Der gelernte Österreicher, das sind ja
auch Freunde, Verwandte, Bekannte – und das ist man auch selbst
(A.G., S. 106)
Der gelernte Österreicher ist ein Text, der einen Begriff mystisch
ausbreitet, dennoch die richtigen Fragen stellt und stellenweise
ziemlich leidenschaftlich ist: Wo ist der souveräne Einzelne, der uns
versprochen war? Sind wir nicht der Industrie und den Konzernen aus-
gelieferter als jemals zuvor? (…) Sind die Menschen glücklicher
oder zufriedener, gebildeter oder schöpferischer, menschlicher oder
reicher geworden? - Was ist wirklich?, bleibt die zentrale Frage, hier
wie überall, die jeder für sich beantworten muss, denn jene, deren
Aufgabe es gewesen wäre, die Wahrheit zu sagen, die Lügen und die
Falschheit der Propaganda und der Ideologien zu entlarven, zu artikulieren
und kenntlich zu machen, haben entweder versagt, indem sie sich
dem Kollektiv und dem gelernten Österreicher angedient und sich
ihm unterworfen haben oder sie wurden vom gelernten Österreicher
in seiner kulturellen Identitätsanmaßung als Künstler, Schriftsteller
und Philosophen ins Abseits gedrängt - dieses Pack der intellektuellen
Aushilfskellner und Anstreicher, die aus dem Abgrund der cephaliti-
schen Vorstellungen des gelernten Österreichers gekrochen sind,
in den Brutkästen seiner Ausbildungsstätten mit Begrifflichkeiten
geschult, gefüttert und aufgepäppelt mit Bedeutsamkeiten, die keine
sind, akademisch legitimiert, feuilletongesichert, rotten und reden sich
zusammen und überziehen das Land mit den feinmaschigen Fangnetzen
ihrer Kollaborateure, der Mithelfer und Mitläufer, die nichts
in die Gegenwart lassen, was sie und die Kunst, die sie verfertigen,
in Frage stellen könnte(A.G., S. 103 f.)
Die uralte Frage, ob man das Eigene in seinem Leben betonen oder
versuchen soll, wie die meisten anderen zu leben, hat Goubran längst
beantwortet. Dem Künstler ist die Antwort nicht freigestellt (aber nicht
jeder muss und will Künstler sein!). Die nationale Kultur, speziell in
Österreich, wird von der Mehrheit nicht gelebt, doch der falsche
Volksgeist wird von „Funktionären“ der Kultur (so genannt wegen ihrer
Abgelöstheit von Produktivität und Markt) weit verbreitet. Vielleicht nicht
von allen, aber von den einflussreichen. Der Angriff von Goubran reicht
nun weiter als bis zum Aufweis, dass der gelernte Österreicher nur
ein Schmäh ist. Er enthält auch den Vorwurf, dass für das Spiel der
Gemeinschaft das Engagement des Einzelnen absichtlich unterdrückt
wird. Der gelernte Österreicher ist ein Spielverderber par excellence.
(A.G., S. 127) Die Ausmerzung, die Zerstörung von Kultur und die
Verunmöglichung von Eigenart zur Etablierung der Monokultur wird
auf einer anderen Stufe durchgesetzt (als im NS, Anm. von M.L.),
die Durchbildung ist umfassender, die Anpassung zwingender, die
Mittel sind diffiziler. Das Denken aber ist dasselbe. Es ist das
Kalkül, das sich anmaßt, das Leben zu verrechnen. (A.G., S. 80)
© M.Luksan, Dezember 2015
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