Der Kunde, der einst „König“ war, zieht in der Filiale des Telefonanbieters
eine Nummer und starrt dann auf einen Bildschirm, bis die Nummer
erscheint. Bevor das nicht geschieht, geht er nicht zu dem Schalter hin,
hinter dem zwei Angestellte tratschen. Dieses Bild kündet offenbar vom
kleinen Käufer in den Augen der großen Firma. Er ist für sie nur noch
eine Kundennummer auf zwei Beinen, dessen Wünsche und Schritte
sie - ähnlich wie ein Amt – in Bahnen lenkt…. Jeder Nachdenkende
ist verwundert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und nach
Jahrzehnten der Demokratie die Menschen nicht selbstbewusster
und bestimmter wurden, denn er hat die täglichen Beispiele der
Gefügigkeit, Verzagtheit und Erloschenheit vor Augen (neben denen
des Übermutes, der Unerzogenheit und des Ausrastens) und sucht
nach erklärenden Gedanken.
Zu „Industrie 4.0“ gehört offensichtlich auch die Einschüchterung durch
Technologie. Und die Meldung von Zahlen (Budgetzahlen, Asylantenzahlen
usw.) Das ist eine wachsende Transparenz, die gerade die Nichthandelnden ängstigt, denn die Handelnden kennen die Zahlen schon. Die
Berechnungs- und Rechenvorgänge, schreibt Alfred Goubran, sei es durch
die Wirtschaft, die Politik, die Bildung oder die Wissenschaft, in deren Visier
wir geraten, lassen wenig Spielraum für Eigenes; und es ist eine Tatsache,
dass die Propaganda und die Meinungsindustrie dem Einzelnen heute so
umfassend und unerbittlich zusetzen wie noch nie. (Der gelernte Österreicher,
Wien 2. Auflage 2013, S. 11)
Dieses Eigene, das der Einzelne in sich entfaltet, ist nun nichts anderes
als das rund um den Kern gebaute Ich. Es wird durch Selbstgestaltung
verstärkt und verdeutlicht, und setzt den Kern, das Selbst, glatt
voraus. Denn nur was einem gefällt und zu einem selbst gehört,
das kann man erfinden; wer man ist, kann man nur entdecken
(oder man entdeckt´ s nie). Gegen das Eigene werden von außen her
Maßstäbe gesetzt, deren Sinn und Berechtigung oft sonnenklar sind,
aber manchmal mit Recht bezweifelt werden können. ZB. ein Architekt
baut eine, an ein arabisches Dorf erinnernde Siedlung in ein Alpental
und die Kritik schwatzt davon, dass er damit eine Norm gesetzt
habe. Oder ein Pop-Künstler präsentiert das Gesicht einer
Schauspielerin unabgewandelt als Bilderreihe und der Betrachter
muss sich den Spruch gefallen lassen, dass dadurch die Kunst
verändert worden sei. Vor allem bei ästhetischen Dingen führt die
Normierung des Geschmacks durch eine Normengruppe zu einer
Reduktion des Eigenen.
Die Industrie hat gewiss ein Recht, die Werknorm zu bestimmen und
dem Lieferanten vorzuschreiben. Das Rechtswesen hat ein Recht zur
Rechtsnorm, das Gesundheitswesen ein Recht zur medizinischen Norm,
der Sport ein Recht zur sportlichen usw., doch die freie Kunst hat sicher
kein Recht, unter Vorspiegelung eines tieferen Verständnisses von Kunst
Geschmacksnormen durchzusetzen. Das Gleiche gilt auch für jene
Industrien, die Produkte, die man nicht braucht, mit dem Käufer-Ich
total verbinden: Gummibärchen mit dem Charme eines Entertainers,
Red Bull mit der Lebendigkeit eines Rennfahrers. Diese Produkte finden
darum einen großen Absatz, weil ja nicht nur Speis oder Trank geboten
wird, sondern auch ein Ersatz für das Eigene, an dem der Käufer nicht
selber arbeiten will, das er aber gern hätte.
Auch wenn man Normen weithin für notwendig hält, ist doch der Zweck
hinter einer Normierung nie ganz harmlos. Man will Mehr Ratio, Mehr
Sicherheit, das ist okay, aber auch Weniger Vielfalt, das ist nicht okay.
Dagegen kämpft der (gescheite) Biologe an, aber auch der
Individualist. Dieser hat nichts gegen den Computer als Arbeitsgerät,
aber alles gegen die Ausweitung der Digi – Kommunikation auf jeden
Arbeits- und Lebensbereich. ZB. die, für den öffentlichen Auftraggeber
geschriebene e Rechnung, schießt weit über das Ziel der genormten
Rechnung hinaus. Alle Details des Auftrags müssen dem Fiskus,
dem Magistrat und einem „Unternehmens – Service“ gemeldet
werden. Der Rechnungsleger wird über sein Handy gecheckt, es
wimmelt nur so vor ID – Nummern, und das Ganze, das nur für
eine Zentralbuchhaltung eine Routine ist, wird nun der kleinen und
der kleinsten Firma aufgenötigt. Oder die e Kasse, bei der nur für die
Kleinen das Schwarzgeld aufhört. Oder die Akte ELGA, usw.
Es ist interessant, dass die digitale Aufrüstung der Gesellschaft, bevor
sie als IT – Zwang über den Einzelnen verhängt wird, von kreativen
und sendungsbewussten Digi – Freaks vorbereitet wird. Zum Beispiel
im Silicon Valley, in der San Francisco Bucht, sind die Masterminds
nicht nur auf Geldscheffeln konzentriert, sondern verfolgen immer
auch den totalen Umbau von Industrie. Sie arbeiten an technologischen
Verbesserungen und - wollen die Gesellschaft gestalten. Laut
Christoph Prantner (Im Tal der guten Vorsätze, Standard, 27.06.15)
haben sie das alte Schumpeter Dogma im Kopf, dass ökonomische
Entwicklung nicht evolutionär vor sich gehen kann, sondern vorher die
Struktur zerbrechen muss. Soziologisch ist das natürlich nicht gedacht,
wenn jemand sagt: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Angeblich
arbeitet der Gründer von Paypal (Peter Thiel) daran, auf den Ozeanen
hoch technisierte Gemeinwesen einzurichten, auf die kein Staat
der Welt, auch die USA nicht, einen Einfluss haben kann. Eine
libertäre Utopie.
In einer global verregelten Welt, schreibt Alfred Goubran, ist Identität
nicht möglich. In ihr kann der Einzelne nur noch funktionieren.
Protagonist dieser verregelten Welt ist der identitätslose Mensch, der
sich über die Regeln und Regulierungen an der Macht halten will. Ihm
begegnen wir, wenn von den Banken und den internationalen Konzernen
die Rede ist; wir finden ihn in den Aufsichtsräten und Gremien, welche die
Zentralisierung vorantreiben. Die Menschen, das Volk, das Ziel seiner
Regulierungen, finden wir inzwischen im Widerstand gegen ihn auf
den Straßen (A.G., a.a.O. S. 183) Das ist eine schöne Ideologie
betreffend den weltweiten Widerstand gegen die Verregelung und
Verrechnung des eigenen Lebens. Sie sagt, was das größte Machtmittel
heute ist, und unterscheidet klar die Handelnden von den
Nicht-Handelnden. Vielleicht hilft sie beim politischen Kampf
gegen die übereilte – die gewaltsame – Globalisierung.
Als Michael Bloomberg noch Bürgermeister von New York war (vor
2013) wollte er die Auftritte von „Occupy Wallstreet“ nicht einschränken.
Er wollte der Welt seine Liberalität beweisen. Er schloss sich auch jener
Kampagne an, der zufolge die Superreichen ihr Vermögen in steuerbefreite Stiftungen leiten, damit sie von dort aus den Staat nach ihrem Gutdünken finanzieren können. Es wäre ein Fehler, ihn und Bill Gates als
„identitätslose Menschen“ zu bezeichnen, nur weil sie die übereilte
Globalisierung fördern. Sie erkennen besser als Normal - Sterbliche ihr
Interesse und sie gestalten ihr Eigenes, die oben aufliegende Meinung,
aus ihrem Selbst heraus. Was könnte einem Supermächtigen sehr
gefallen? Das soziale Glück, wie der Narzisst es sieht.
© M.Luksan, Februar 2016
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