Wenn Krimiautoren vom gesteigerten Leben erzählen, so sind sie –
notwendig – auf Gewalt und auf Sex ausgerichtet. Aus den USA
gibt es immer wieder neue Modelle, die zwischen der Fantasie und
den Realitäten eine Verbindung herstellen, wobei das inhaltlich
Noch – Nie - Da – Gewesene der wahre Trumpf ist. Die Fantasie knüpft
zum Beispiel an das Amt des US – Präsidenten an. In einem Roman – Thriller
von David Baldacci zerschlägt der mächtigste Mann der Welt seiner
Bettgenossin beim Liebesspiel das Gesicht. Diese schöne Frau ist
immerhin die Gattin des reichsten Amerikaners. Sie nimmt einen Brieföffner
und versucht, den Präsidenten zu erstechen. Aber es gibt Bodyguards.
„Nach einer heißen Liebesszene kommt es zum Streit. Die Tür geht auf,
zwei Leibwächter stürzen herein, zwei Schüsse treffen die Frau.“
(Klappentext zu „Absolute Power“, Köln 1996) Dieses Buch wurde in
den USA ein Bestseller und Hollywood verwurstete es als Vorlage
für einen Unterhaltungsfilm.
Dem Leser wird das Leben der Reichen und Mächtigen gezeigt,
das er nicht kennt und für das seine Normen nicht gelten. Diese
fremde Welt wird scheinbar kritisch gezeigt, schließlich geben sich
Protagonisten ihren Trieben und Affekten hin und werden dabei von
Spezialisten geschützt, die ihnen helfen, die Fassade aufrecht
zu erhalten. Diese Kritik am westlichen System wird jedoch durch
Übertreibung und Schematisierung unwirksam gemacht (wenn
nicht sogar ins Gegenteil gekehrt. „Affirmation“ wird der Trivialliteratur
seit jeher vorgeworfen). Die Gewaltdarstellungen offenbaren nichts,
sie sind nur ein Kitzel für den Leser. Die amerikanische Gesellschaft
ist vielleicht heute noch gewalttätiger und transparenter als eine
durchschnittliche, europäische Gesellschaft. Hat man das jemals
untersucht? Mit Sicherheit hatte das vergangene Amerika über
Jahrzehnte hin einen gefährlicheren und durch Normen und
Gesetze weniger gesicherten Alltag als europäische Länder
im gleichen Zeitraum.
(Seit dem Bürgerkrieg, dem Ausbau der Eisenbahn und dem Beginn
der Ölwirtschaft wurden alle Bevölkerungsschichten der USA
durch die brutale Landnahme, die rasante Technik – Entwicklung
und die literarische Verherrlichung der Gewaltsamkeit geprägt.
Aus der amerikanischen Trivialliteratur trat eine Krimiliteratur
hervor, die mit der englischen fast nichts gemein hat.)
Der amerikanische Krimi bezog sich auf eine wildere Gesellschaft,
und er rechnete mit naiveren Lesern. Letzteres missfiel zum Beispiel
Raymond Chandler, der darüber schrieb, dass sich der amerikanische
Krimileser als Simpel sieht, obwohl er der „komplexesten Zivilisation
der Welt“, der der USA von 1940, gegenübersteht.1 Diese Einfachheit
des Lesers nannte Chandler „Pseudo – Naivität“. Er sah sie durch
die amerikanische Sprache gefördert, der er dennoch kreative
Möglichkeiten abtrotzte. Er entwickelte seine Darstellungen nicht
für den Konsumenten von Schemaliteratur, sondern für den Leser mit
Sinn für Untertöne. Er hat die amerikanische Umgangssprache in
diesem Sinne bearbeitet und das Bild vom „gesunden und jungen
Barbaren“ geradezu verspottet. Seine bekanntesten und originellsten
Geschichten sind alle in der gewalttätigen, korrupten und schwer zu durchschauenden Großstadt – Gesellschaft von L.A. angesiedelt.
Der Autor Lee Child hat auf bessere Weise als Baldacci die Fantasie
vom gewalttätigen und korrupten Amerika gesteigert. Er hat zwar die
Klischeefiguren nicht verbessert, doch er hat die Schemahandlung
durch Präzisierung der Abläufe teilweise überwunden. Child, der
eher Action- als Krimi-Romane schreibt, pflegt technische Vorgänge
vollständig und bildhaft wiederzugeben, sodass auch sein Held
Jack Reacher stellenweise individuell wirkt, durch bloße Handlungen,
die er ausführt. In „61 Stunden“ (München, 2012) erlebt der Leser gleichsam
mit, wie ein Bus bei Glatteis in den Graben fährt und welche Probleme
dann bei minus 20 Grad entstehen. Oder er sieht, dass das Auftanken
eines Flugzeuges mitten auf dem Flugfeld nicht eben leicht ist. Die
Jack Reacher – Romane funktionieren mit ihrem flachen Haupthelden
und den klischierten Schurken gut, weil sie die Prävalenz von Action
(Was muss der Held tun, um zu siegen?), aber auch von Thrilling
(Was bedroht ihn einen Roman lang?) besonders deutlich
herstellen.
Der, übrigens englische Autor erfindet Gewaltaktionen in einer betont
nüchternen Welt. Vor allem Reacher und die Bösewichte handeln
illusionslos und vernünftig. (Helden, die ihre Gewalt „vernünftig“
explodieren lassen, sind eine amerikanische Tradition, man
findet sie aber auch in England, siehe Michael Winner, beim
Kinofilm). Child lässt seine Figuren über die Geschichte nachdenken,
in die sie verwickelt sind, sie erwägen dabei ihre äußersten
Möglichkeiten. Alle Überlegungen stellen sie logisch an, in der Art
des Autors. Gezeigt wird dennoch primär das Handeln der Figur
und nur selten ihr Erleben.
Hollywood - Polizeifilm als Fantasie)
Die Illusionslosigkeit fördert gute Resumees. ZB. „Männer sitzen
da wie ergraute ehemalige Unteroffiziere, die weiter in der Nähe von
Stützpunkten lebten und Nacht für Nacht in Soldatenbars hockten“.
Sie erinnern an „pensionierte Großstadtcops, die nicht genug
zusammengespart hatten, um nach Süden ziehen zu können, und
weiter ihre alten Saloons aufsuchten und sich in jedes Gespräch
einmischten“ (Child, S. 259) Nüchternheit bekommt jedoch den
Dialogen nicht. Vor allem wenn sich zwei Ermittler austauschen,
klingt das bei Child haargenau wie bei Baldacci, der doch eine
andere Erzählmethode verwendet: „Falls Sie sehen, dass
ich mich entspanne, gebe ich Ihnen hiermit die Erlaubnis, mich
in den Hintern zu treten“ (Child, S. 233). „Hören Sie, Seth, treten
Sie mir ruhig in den Hintern, aber glauben Sie mir, mein Freund,
diese Frau ist unser As im Ärmel.“ (Baldacci, S. 317)
Es werden neue Erzählmethoden kreiert, doch für die Diktion
der Ermittler geschieht nichts. Deren Sprache bleibt gehabt, sie
vermischt sich höchstens mit der neuesten, durch Fernsehserien
verbreiteten Jugendsprache. (Redensarten wie: „Komm schon, mal
ehrlich, was würdest du an meiner Stelle tun?“, „Meine Muskeln
sind heute noch genauso definiert wie zu meiner Zeit als
Baseball – Spieler“, „Ich fühle mich, als hätte ich mit dem
hübschesten Mädchen auf der High School geschlafen“).
Man könnte die amerikanische Sprache bearbeiten, um
aus der Hohlform des Ermittlers eine literarische Figur zu machen.
Doch eine solche würde die Erzählschemata abschwächen,
die gerade das bewirken, was der Leser primär von diesen
Büchern wünscht (Effekte des Krimis oder des Thrillers oder des
Actionthrillers).
In einem Punkt hat Chandler den hochmütigen Literaturbetrieb verfehlt.
Er gestand den „Leuten, die Bestseller machen, reine Produkte der
Reklame auf Basis eines indirekten Snob – Appeals“2 nicht zu,
dass sie genau wissen oder untrüglich fühlen, dass die primäre Unterhaltungswirkung keine hohe Textqualität erlaubt. Er selbst wandelte auf dem Grat einer genremäßigen Unterhaltung, die
auf versteckte Weise kommentiert wird. Seine Sprache ist literarisch, seine
Schemata sind reduziert, zumal er seine Handlungsabläufe nicht von
der Logik, sondern von der Atmosphäre her entwickelte, wodurch
auch nach der Lösung des Falles noch Fragen offen bleiben.
Seine Sprache aber war sein stilisiertes Selbstbild, das er für die
Beschreibung von Figur und Location, die Entfaltung von Resumee
und Überlegung, die Gestaltung von Action und Dialog, für die
ganze düstere Welt der Verbrechen, wie ein Brennglas verwendete.
Wenn jemand plötzlich eine Nervenkrise hat und „zittert wie ein
Vorgarten-Bambi“ oder wenn jemand unerwartet einen Raum betritt
und dabei so passend ist „wie eine Tarantel auf einer Sachertorte“
oder wenn ein Polizist seine Fälle „an den Fingern des
Zweifinger-Faultieres“ aufzählt, so ist das heute Marke Chandler.
Das ist die Welt des Kabaretts, wenn eine witzig-boshafte
Sprache auf unangenehme, hässliche und banale Vorgänge
angewandt wird, so dass die Vorgänge noch erkennbar sind,
jedoch durch Umschreibung ihren Ernst verlieren. Zugleich
ist es der Humor der Hartgesottenen.
Autoren wie Baldacci oder wie Child wollen hier anschließen,
wiederholen aber nur die Errungenschaften der Tough School.
Sie bieten sprachlich nichts Neues und damit weniger, als
schon war. Eine Haut ist zB. „glatt wie ein Babypopo“, doch
„unter der Haut konnte sie die harte Muskelmasse fühlen“.
Oder „ihr Hinterteil war rund und fest und hob sich cremig-hell
gegen den dunklen Hintergrund der Hawaii-Sonnenbräune ab.“
Oder eine Abenteurerin hat „ihre Stellung durch ihre Titten
erlangt, den kunstvoll zur Schau gestellten Hintern und ihr
wertloses Geschwätz“. Oder die Kleidung einer Toten ist
„durchtränkt mit ihren Körperflüssigkeiten. Mit dem Tod ging die
unverzügliche Entspannung der Schließmuskeln einher. Die daraus
entstandene Geruchskombination war alles andere als angenehm.“
Das ist zwar immer noch das Ich, das sich durch nichts
beeindrucken lässt, doch die Qualität der Sprache von Chandler
ist passe.
Raymond Chandler, der auch ein Intellektueller war, schrieb nicht
nur Texte (und schrieb sie um), sondern brachte auch die
Möglichkeiten von Krimiliteratur in den Begriff. Er wollte nicht für
Krimisüchtige schreiben. Heutige Autoren verspüren dieses denkerische
Bedürfnis nicht, die Grenzen ihres Tuns sind ihnen egal. Sie wollen
den schnellen Erfolg. Darum erweitern sie die Schemata für die
Unterhaltungswirkung (statt sie zu reduzieren und die Sprache
unterhaltsamer zu gestalten), das ist der kürzeste und billigste Weg.
Sie wollen keine Leser vereinigen, kein Produkt literarisieren, kein Bild
vom Amerikaner verfeinern. Diesem oberflächlichen Typ mit labilen
Emotionen und flachem Stilgefühl (aber mit „offenem und wachem
Verstand“, R. Chandler) wollen sie das Unterhaltungsbedürfnis
hundertprozentig erfüllen.
1 ) Frank MacShane, Raymond Chandler – Eine Biografie, Zürich 1984, S. 134 f.
2Raymond Chandler, Die simple Kunst des Mordes, Zürich 1974 (orig.
Raymond Chandler Speaking, 1962), S. 318
© M.Luksan, April 2016
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