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Poesie, die urteilt, wird stark
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Eine lächerliche, aber anspruchsvolle Männerfigur denkt an die gestrige,
in der Bar abgeschleppte und in der Affenstellung beschlafene Barbesucherin
zurück. Der Held sitzt mit Kopfschmerz in einer Wohnung und lässt die
äußere Welt nur noch als Aspirin und einen Schluck Wasser an sich
heran. Ebenso gut könnte er eine Zigarette rauchen oder sich am Genital
kratzen, wenn dabei nur sein erinnerndes Bewusstsein weiterläuft.
Doris Knecht beschreibt uns das „Oberstübchen“ ihres Helden
Gruber:
Drittens war die Frau, auch wenn Gruber erst jetzt, am nächsten Tag,
zu so viel Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis bereit war, ein Trostpreis
gewesen. Die, die übrig geblieben war, die, die sich sein und Philipps
Zoten – Ping – Pong lachend hatte gefallen lassen, eine Frau ohne
Selbstwertgefühl, die ihre Freundin heimfahren ließ und einfach an
Philipp und Gruber kleben blieb, offenbar ohne eindeutige Priorität
für einen von ihnen. Was Gruber eigentlich hätte zu denken geben
sollen und es jetzt auch tat, aber in der Situation hatte Gruber sich,
nach einer letzten Line auf dem Klo, schließlich großmütig erbarmt.
Hatte ihre Rechnung bezahlt. War mit ihr heimgefahren. Hatte ihr im Taxi
den Rock hoch- und seine Hand in den Slip geschoben, und er wusste
genau, dass der Taxifahrer über den Rückspiegel zusah, er wollte es,
es war ein betrunkenes, verkokstes und, ja, bescheuertes Männermachtspiel,
schau, Wichser, du musst fahren, während ich jetzt dieser Frau, die ich
nicht kenne, den Finger in die rasierte Möse schiebe, und siehst du,
sie lässt mich, und wenn ich wollte, würde ich sie jetzt hier auf diesem
Rücksitz vögeln, aber ich will noch nicht, sondern ich ficke sie gleich
anschließend bei ihr daheim auf dem Parkettboden(D. Knecht,
Gruber geht, Berlin, 2011, S. 74)
Da es Grubers Oberstübchen wirklich gibt, hat die Autorin ein Buch über
Verachtung geschrieben. Sie hat diese Phänomene sogar erforscht,
soweit ein Journalist das tun kann, bei Bekannten, „die mich in ihre Leben
schauen ließen: auch dahin, wo es weh tat“ (S. 239) Sie hat sich jedoch
nicht gefragt, wie ihr Stil das Ekelhafte, das Scheußliche, das Grausame
wieder geben kann, oder anders: sie hat die Frage unterlassen, ob sie
die Taten ihrer Figur auch klar bewertet. Grubers Bewusstsein
spricht:
Weiber verstehen das einfach nicht. Weiber, zumindest die Weiber, die
Gruber kennt, haben immer den gleichen Typ Mann, und wenn sie einmal
nicht mehr den gleichen Typ haben, dann, weil der Therapeut oder die besten
Freundinnen einen anderen verschrieben haben, schau dir Kathi an. Hatte
immer den gleichen Typ gehabt: den unzuverlässigen, charismatischen,
suchtaffinen Schlaks, einen nach dem anderen, in blond, in braun, in
schwarz, einen Rothaarigen fand sie tatsächlich auch, und nachdem ein
Schlaks (der spezielle war wieder blond gewesen) schließlich versucht
hatte, sie zum Zwecke der Drogenversorgungsoptimierung auf den
Strich zu schicken, hatte sie endlich einen tadellosen Zusammenbruch
hingelegt. (a.a.O., S. 75)
Doris Knecht erzählt halbpersonal. Sie geht von ihrem Ich als Autorin
aus und formuliert in Richtung der dargestellten Figur. Dadurch wird
die Welt aus der Sicht des Helden gesehen, aber listig gebrochen
durch die Sicht der Autorin, die im Hintergrund als Spielleiterin
wirkt. Die Welt ist episch dünn, die Filmemacher würden sagen:
Im Bild tut sich nichts!, und daran sind Erinnerungen schuld, dass
die Gegenwart so stark durchlöchert ist. Die Gegenwart, oder
wie man auch sagen kann: das Optische, wird nicht intensiv
erlebt. ZB. die Seiten 7 bis 15, die den ersten Textblock fassen, zeigen
einen Helden, der nur aus dem Haus geht, in ein Taxi einsteigt,
zahlt, alleine sitzt, einen Schlager auf repeat stellt und in eine
Halle hineingeht. Ganz recht, würde die Autorin sagen, das aktuelle
Tun von Gruber ist mir nicht wichtig, ich will sein Denken und Fühlen
sichtbar machen. Während sie also das aktuelle Bewusstsein kaum
entfaltet, zeigt sie hauptsächlich das Bewusstsein von gestern oder
von einst (als ob wir eher Bewusstsein als Abfolgen von Handlungen
erinnern). Ihr Held gibt sich als asoziales Wesen zu erkennen, zugleich
macht er sich reflexiv, in der Art der Autorin, und liefert Sätze wie
„es war ein betrunkenes, verkokstes und, ja, bescheuertes Männermachtspiel“.
Diesen Mangel an Beurteilung hat Ian Mac Ewan in „Gespräch mit einem
Schrankmenschen“ nicht riskiert. In einer Form der reinen Personalität
lenkt er die Sympathien des Lesers gleichsam wie ein Propagandist,
wenn zB. der Held und Icherzähler als Küchengehilfe am bösen
Chefkoch Rache nimmt: Irgendwie schaffte ich es, den Vormittag bis
zur Pause durchzustehen. Eiterfresse ließ mich zufrieden. Während der
Mittagspause saß er allein und las eins seiner säuischen Magazine.
Kurz vor Ende der Pause machte ich das Gas unter einer der
Frittenpfannen an. Sie fasste etwa zweieinhalb Liter, und als das Öl am
Sieden war, trug ich sie dort hinüber, wo Eiterfresse saß. Ich hatte
solche Schmerzen in den Fußsohlen, dass ich am liebsten losgeflennt
hätte. Mein Herz klopfte wie wild, weil ich wusste, dass Eiterfresse
diesmal dran war. Ich schaffte es bis zu seinem Stuhl. Er sah hoch,
und an meinem Gesichtsausdruck merkte er genau, was ihm bevorstand.
Aber er hatte keine Zeit, sich zu bewegen. Ich ließ das Öl direkt in
seinen Schoß fallen, und für etwaige Zuschauer tat ich so, als wäre
ich ausgerutscht. Eiterfresse heulte wie ein wildes Tier, solche Töne
habe ich noch nie von einem Menschen gehört. Seine Kleidung
schien sich aufzulösen, und ich konnte seine Eier sehen, rot zuerst,
dann anschwellend und wie sie schließlich weiß wurden. Es lief
ihm alles die Beine hinunter. Er schrie fünfundzwanzig Minuten lang,
bis der Arzt kam und ihm Morphium gab.(J.Mc E., Letzter Sommertag,
Stories, Zürich 2010, S. 62 f.)
Die Erzählstrategie ist hier so wirksam, dass der Leser angesichts
des Racheaktes schmunzelt. Doch der Held ist selber ein Schelm
und in seinen Taten sind Recht und Unrecht vermischt. Ferner hat
Mac Ewan die Diktion seines Helden sehr geschickt gestaltet (der
Held hat „weniger Sprache“ als der Leser und dennoch keine
Gaunersprache). Er hat sich jedoch die Nachlässigkeit des flotten
Erzählers erlaubt und nicht alle nötigen Teile der Handlung gestaltet.
Wie in einer Cartoon - Story strebt diese Erzählung zügig zu den
Knalleffekten hin und vernachlässigt z.B. die fünfundzwanzig Minuten,
die bis zur Verarztung des Chefkochs vergehen.
Konstantin Paustowski
Als Durchschnittsgröße wird man die volle Kraft der poetischen
Darstellung ohnehin bei keinem Autor und bei keiner Autorin finden.
Sie ist nur ein Glücksmoment, versteckt in verschiedenartigen
Werken, und das Einzige, was sich über diese wünschenswerte
Wirkung allgemein sagen lässt, ist, dass große, poetische
Kraft mit der Bildhaftigkeit des im Text ablaufenden Hauptgeschehens
zu tun hat. Darüber hinaus hängt große Poesie mit der Maxime
„Alles Wissen und Alles Sehen“ zusammen, so wie sie Konstantin
Paustowski vertreten hat. Speziell bei ihm lässt sich dieser Grundsatz
auf eine riesige Erlebnismasse und eine gefährliche Außenwelt beziehen,
aber viel wichtiger für die Erklärung der poetischen Form ist die
zweiphasige Arbeitsweise dieses Dichters. Er hat den Raum des
Erzählbaren zuerst durchdacht und sich erst dann hingesetzt und
die Erzählung geschrieben.
In „Das englische Rasiermesser“ erzählt Paustowski eine abgründig
grausame Geschichte, bei der eine falsche Erzählform oder
auch nur eine Reihe ungenauer Wörter den Ernst der Sachverhalte
geschmälert hätte. Ein deutscher Offizier tötet im besetzten Mariupol
zwei jüdische Kinder, durch Herbeiführung von Alkoholvergiftung:
Drei Judäer, Herr Leutnant!, meldete der Gefreite.
Warum lügen?, sagte weich der Leutnant.
Die Jungen sind Juden, doch dieses
alte Scheusal ist ein typischer Grieche, ein großer Nachfahre der Hellenen,
ein peloponnesischer Affe. Ich gehe eine Wette ein. Wie – Du bist
Armenier? Wie willst du mir das beweisen, du verfaultes Stück
Rindfleisch?
Der Friseur schwieg. Der Leutnant stieß mit der Fußspitze den Rest
eines Goldrahmens in den Ofen und befahl, die Gefangenen in die
leere Nachbarwohnung zu führen. Gegen Abend kam er mit einem
Freund, dem Flieger Erli, in die Wohnung zurück. Sie brachten zwei
große, in Papier eingewickelte Flaschen mit.
Hast du dein Rasiermesser bei dir?, fragte der Leutnant den Friseur.
Ja? Dann rasier den jüdischen Kupidos die Köpfe!
Wozu das?, fragte träge der Flieger.
Es sind schöne Kinder, erwiderte der Leutnant. Nicht wahr? Ich will sie
ein wenig verderben. Dann werden sie uns weniger dauern.
Der Friseur rasierte die Jungen. Sie weinten, die Köpfe gesenkt – der
Friseur aber grinste. Jedesmal wenn ihn ein Unglück traf, grinste er
schief. Dieses Lächeln täuschte Kohlberg. Der Leutnant glaubte, sein
unschuldiger Spaß belustige den alten Armenier. Er setzte die Kinder
an den Tisch, entkorkte die Flasche und füllte vier Gläser mit
Wodka.
Dich bewirte ich nicht, Achilles, sagte er zu dem Friseur. Du wirst mich
diesen Abend rasieren. Ich gehe zu euren Schönen auf Besuch.
- Der Leutnant zwängte den Jungen die Zähne auseinander und goss
jedem ein ganzes Glas Wodka in den Mund. Die Jungen verzogen das
Gesicht, keuchten, Tränen entströmten ihren Augen.
(K.P., In: Die Windrose, Zürich 1979, S. 86 f.)
Diese Geschichte von Mord und Totschlag, sie wurde 1941 innerhalb
der Roten Armee erzählt, hat Paustowski aufgeschnappt und aufgeschrieben.
Dabei musste er fehlende Details erfinden und logisch und psychologisch aufeinander abstimmen. Die Herkunft der jüdischen Kinder, deren
Mutter beim Brotholen ums Leben kam. Das Versteck im Keller
des Stadttheaters von Mariupol. Die Herkunft des Friseurs, der in der
halbgriechischen Hafenstadt gerade kein Grieche ist – und der
Wohnungsnachbar der Kinder. Das Wechseln der Wohnung, damit der
Mord nicht in der Dienstwohnung geschieht. Die Fehleinschätzung des
Friseurs durch den Leutnant. Und die rassistische Diktion des Mörders
(die durch Nazischriften schon bekannt war und nach dem Krieg
durch die Briefe von NS – Ärzten noch bekannter wurde).
Der Autor musste aber auch den Tod der beiden Knaben minutiös
beschreiben: Der Leutnant goss den Kindern ein zweites Glas Wodka
in den Mund. Sie rissen sich los, doch der Leutnant und der Flieger
packten sie an den Armen, gossen ihnen den Wodka langsam ein und
achteten darauf, dass sie ihn zu Ende tranken. Sie riefen von Zeit
zu Zeit: So! So! Schmeckt es? Nun, noch einmal! Vortrefflich!
Der Jüngere begann zu erbrechen. Seine Augen liefen rot an.
Er glitt vom Stuhl und legte sich auf den Boden. Der Flieger packte
ihn unter den Achseln, hob ihn auf, setzte ihn auf den Stuhl und goss ihm
noch ein Glas Wodka in den Mund. Da schrie der Ältere zum ersten
Mal auf. Er schrie durchdringend und blickte den Leutnant unverwandt
mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an.
Schweig, Kantor!, brüllte der Leutnant.
Er beugte dem Älteren den Kopf zurück und goss ihm den Wodka
direkt aus der Flasche in den Mund. Der Junge fiel vom Stuhl und
kroch zur Wand hin. Er suchte die Tür, sah aber offenbar nichts mehr,
stieß mit dem Kopf gegen den Türpfosten an, stöhnte auf und
verstummte.
Um Mitternacht, sagte keuchend der Friseur, starben beide. Klein
und schwarz lagen sie da, wie vom Blitz versengt.
(a.a.O., S. 88)
Das Geschehen ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die darin
besteht, dass der Friseur einem russischen Major Alles erzählt. Durch
diese im Text aufgebaute Distanz kann Paustowski die Reaktionen der
Russen auf die Geschichte, aber auch die Tötung des Leutnants
durch den Friseur lakonisch darstellen: Ich ging mit dem Leutnant
in seine geheizte Wohnung. Er setzte sich vor den Wandspiegel. Ich
zündete die Kerze im eisernen Leuchter an, erwärmte im Ofen Wasser,
begann ihm die Wangen einzuseifen. Den Leuchter stellte ich auf
einen Stuhl neben dem Spiegel. Sie haben sicher schon solche Leuchter
gesehen: Ein Weib mit aufgelöstem Haar hält eine Lilie, und in den
Kelch der Lilie stellt man die Kerze. Ich stieß dem Leutnant den
Pinsel voll Seifenschaum in die Augen. Er schrie auf, aber ich schlug
ihn voller Wucht mit dem Leuchter auf die Schläfe.
Mit einem Hieb?, fragte der Major.
Ja. Dann schlug ich mich zu Ihnen durch.
Der Major sah auf das Rasiermesser.
Ich weiß, warum Sie es ansehen, sagte der Friseur. Sie denken, ich hätte
es mit dem Rasiermesser tun sollen. Das wäre sicherer gewesen. Aber
wissen Sie, es ist ein altes englisches Rasiermesser. Ich arbeite damit
schon seit zehn Jahren.
Der Major erhob sich und reichte dem Friseur die Hand. Gebt diesem
Mann zu essen, sagte er, Und trockene Kleider. (a.a.O., S. 88 f.)
Der Autor urteilt hier nicht durch Einzelwörter, sondern durch die ganze
Darstellung, und er lässt ein Informationsloch gar nicht erst entstehen.
Die Auktorialität macht´ s möglich. Paustowski sagt nicht: Wer weiß schon,
wie es wirklich war!, sondern er sagt: Ich sage euch, wie es war! Dafür
muss er vor dem Leser keine Person entwickeln, keinen Handlungsteil,
keinen Zusatz (Hintergrund, Vorgeschichte), sondern kann jedes
Einzelne als Substrat, als auf den Punkt gebrachte Sprache präsentieren.
Das erweckt den Eindruck von Inszenierung. Aber Inszenierung ist –
zumindest beim Erzählen – ohnehin nicht tilgbar. Sie geschieht auch dort,
wo nur dünn erzählt wird, oder dort, wo der diskrete Spielleiter ein
handelndes Ich an seinen Fäden zieht.
© M.Luksan, Dezember 2016
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