DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Poesie, die urteilt, wird stark

Eine lächerliche, aber anspruchsvolle Männerfigur denkt an die gestrige, in der Bar abgeschleppte und in der Affenstellung beschlafene Barbesucherin zurück. Der Held sitzt mit Kopfschmerz in einer Wohnung und lässt die äußere Welt nur noch als Aspirin und einen Schluck Wasser an sich heran. Ebenso gut könnte er eine Zigarette rauchen oder sich am Genital kratzen, wenn dabei nur sein erinnerndes Bewusstsein weiterläuft. Doris Knecht beschreibt uns das „Oberstübchen“ ihres Helden Gruber:
Drittens war die Frau, auch wenn Gruber erst jetzt, am nächsten Tag, zu so viel Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis bereit war, ein Trostpreis gewesen. Die, die übrig geblieben war, die, die sich sein und Philipps Zoten – Ping – Pong lachend hatte gefallen lassen, eine Frau ohne Selbstwertgefühl, die ihre Freundin heimfahren ließ und einfach an Philipp und Gruber kleben blieb, offenbar ohne eindeutige Priorität für einen von ihnen. Was Gruber eigentlich hätte zu denken geben sollen und es jetzt auch tat, aber in der Situation hatte Gruber sich, nach einer letzten Line auf dem Klo, schließlich großmütig erbarmt. Hatte ihre Rechnung bezahlt. War mit ihr heimgefahren. Hatte ihr im Taxi den Rock hoch- und seine Hand in den Slip geschoben, und er wusste genau, dass der Taxifahrer über den Rückspiegel zusah, er wollte es, es war ein betrunkenes, verkokstes und, ja, bescheuertes Männermachtspiel, schau, Wichser, du musst fahren, während ich jetzt dieser Frau, die ich nicht kenne, den Finger in die rasierte Möse schiebe, und siehst du, sie lässt mich, und wenn ich wollte, würde ich sie jetzt hier auf diesem Rücksitz vögeln, aber ich will noch nicht, sondern ich ficke sie gleich anschließend bei ihr daheim auf dem Parkettboden(D. Knecht, Gruber geht, Berlin, 2011, S. 74)

Da es Grubers Oberstübchen wirklich gibt, hat die Autorin ein Buch über Verachtung geschrieben. Sie hat diese Phänomene sogar erforscht, soweit ein Journalist das tun kann, bei Bekannten, „die mich in ihre Leben schauen ließen: auch dahin, wo es weh tat“ (S. 239) Sie hat sich jedoch nicht gefragt, wie ihr Stil das Ekelhafte, das Scheußliche, das Grausame wieder geben kann, oder anders: sie hat die Frage unterlassen, ob sie die Taten ihrer Figur auch klar bewertet. Grubers Bewusstsein spricht: Weiber verstehen das einfach nicht. Weiber, zumindest die Weiber, die Gruber kennt, haben immer den gleichen Typ Mann, und wenn sie einmal nicht mehr den gleichen Typ haben, dann, weil der Therapeut oder die besten Freundinnen einen anderen verschrieben haben, schau dir Kathi an. Hatte immer den gleichen Typ gehabt: den unzuverlässigen, charismatischen, suchtaffinen Schlaks, einen nach dem anderen, in blond, in braun, in schwarz, einen Rothaarigen fand sie tatsächlich auch, und nachdem ein Schlaks (der spezielle war wieder blond gewesen) schließlich versucht hatte, sie zum Zwecke der Drogenversorgungsoptimierung auf den Strich zu schicken, hatte sie endlich einen tadellosen Zusammenbruch hingelegt. (a.a.O., S. 75)

Doris Knecht erzählt halbpersonal. Sie geht von ihrem Ich als Autorin aus und formuliert in Richtung der dargestellten Figur. Dadurch wird die Welt aus der Sicht des Helden gesehen, aber listig gebrochen durch die Sicht der Autorin, die im Hintergrund als Spielleiterin wirkt. Die Welt ist episch dünn, die Filmemacher würden sagen: Im Bild tut sich nichts!, und daran sind Erinnerungen schuld, dass die Gegenwart so stark durchlöchert ist. Die Gegenwart, oder wie man auch sagen kann: das Optische, wird nicht intensiv erlebt. ZB. die Seiten 7 bis 15, die den ersten Textblock fassen, zeigen einen Helden, der nur aus dem Haus geht, in ein Taxi einsteigt, zahlt, alleine sitzt, einen Schlager auf repeat stellt und in eine Halle hineingeht. Ganz recht, würde die Autorin sagen, das aktuelle Tun von Gruber ist mir nicht wichtig, ich will sein Denken und Fühlen sichtbar machen. Während sie also das aktuelle Bewusstsein kaum entfaltet, zeigt sie hauptsächlich das Bewusstsein von gestern oder von einst (als ob wir eher Bewusstsein als Abfolgen von Handlungen erinnern). Ihr Held gibt sich als asoziales Wesen zu erkennen, zugleich macht er sich reflexiv, in der Art der Autorin, und liefert Sätze wie „es war ein betrunkenes, verkokstes und, ja, bescheuertes Männermachtspiel“.

Diesen Mangel an Beurteilung hat Ian Mac Ewan in „Gespräch mit einem Schrankmenschen“ nicht riskiert. In einer Form der reinen Personalität lenkt er die Sympathien des Lesers gleichsam wie ein Propagandist, wenn zB. der Held und Icherzähler als Küchengehilfe am bösen Chefkoch Rache nimmt: Irgendwie schaffte ich es, den Vormittag bis zur Pause durchzustehen. Eiterfresse ließ mich zufrieden. Während der Mittagspause saß er allein und las eins seiner säuischen Magazine. Kurz vor Ende der Pause machte ich das Gas unter einer der Frittenpfannen an. Sie fasste etwa zweieinhalb Liter, und als das Öl am Sieden war, trug ich sie dort hinüber, wo Eiterfresse saß. Ich hatte solche Schmerzen in den Fußsohlen, dass ich am liebsten losgeflennt hätte. Mein Herz klopfte wie wild, weil ich wusste, dass Eiterfresse diesmal dran war. Ich schaffte es bis zu seinem Stuhl. Er sah hoch, und an meinem Gesichtsausdruck merkte er genau, was ihm bevorstand. Aber er hatte keine Zeit, sich zu bewegen. Ich ließ das Öl direkt in seinen Schoß fallen, und für etwaige Zuschauer tat ich so, als wäre ich ausgerutscht. Eiterfresse heulte wie ein wildes Tier, solche Töne habe ich noch nie von einem Menschen gehört. Seine Kleidung schien sich aufzulösen, und ich konnte seine Eier sehen, rot zuerst, dann anschwellend und wie sie schließlich weiß wurden. Es lief ihm alles die Beine hinunter. Er schrie fünfundzwanzig Minuten lang, bis der Arzt kam und ihm Morphium gab.(J.Mc E., Letzter Sommertag, Stories, Zürich 2010, S. 62 f.)

Die Erzählstrategie ist hier so wirksam, dass der Leser angesichts des Racheaktes schmunzelt. Doch der Held ist selber ein Schelm und in seinen Taten sind Recht und Unrecht vermischt. Ferner hat Mac Ewan die Diktion seines Helden sehr geschickt gestaltet (der Held hat „weniger Sprache“ als der Leser und dennoch keine Gaunersprache). Er hat sich jedoch die Nachlässigkeit des flotten Erzählers erlaubt und nicht alle nötigen Teile der Handlung gestaltet. Wie in einer Cartoon - Story strebt diese Erzählung zügig zu den Knalleffekten hin und vernachlässigt z.B. die fünfundzwanzig Minuten, die bis zur Verarztung des Chefkochs vergehen.

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Konstantin Paustowski

Als Durchschnittsgröße wird man die volle Kraft der poetischen Darstellung ohnehin bei keinem Autor und bei keiner Autorin finden. Sie ist nur ein Glücksmoment, versteckt in verschiedenartigen Werken, und das Einzige, was sich über diese wünschenswerte Wirkung allgemein sagen lässt, ist, dass große, poetische Kraft mit der Bildhaftigkeit des im Text ablaufenden Hauptgeschehens zu tun hat. Darüber hinaus hängt große Poesie mit der Maxime „Alles Wissen und Alles Sehen“ zusammen, so wie sie Konstantin Paustowski vertreten hat. Speziell bei ihm lässt sich dieser Grundsatz auf eine riesige Erlebnismasse und eine gefährliche Außenwelt beziehen, aber viel wichtiger für die Erklärung der poetischen Form ist die zweiphasige Arbeitsweise dieses Dichters. Er hat den Raum des Erzählbaren zuerst durchdacht und sich erst dann hingesetzt und die Erzählung geschrieben.

In „Das englische Rasiermesser“ erzählt Paustowski eine abgründig grausame Geschichte, bei der eine falsche Erzählform oder auch nur eine Reihe ungenauer Wörter den Ernst der Sachverhalte geschmälert hätte. Ein deutscher Offizier tötet im besetzten Mariupol zwei jüdische Kinder, durch Herbeiführung von Alkoholvergiftung: Drei Judäer, Herr Leutnant!, meldete der Gefreite. Warum lügen?, sagte weich der Leutnant. Die Jungen sind Juden, doch dieses alte Scheusal ist ein typischer Grieche, ein großer Nachfahre der Hellenen, ein peloponnesischer Affe. Ich gehe eine Wette ein. Wie – Du bist Armenier? Wie willst du mir das beweisen, du verfaultes Stück Rindfleisch? Der Friseur schwieg. Der Leutnant stieß mit der Fußspitze den Rest eines Goldrahmens in den Ofen und befahl, die Gefangenen in die leere Nachbarwohnung zu führen. Gegen Abend kam er mit einem Freund, dem Flieger Erli, in die Wohnung zurück. Sie brachten zwei große, in Papier eingewickelte Flaschen mit. Hast du dein Rasiermesser bei dir?, fragte der Leutnant den Friseur. Ja? Dann rasier den jüdischen Kupidos die Köpfe! Wozu das?, fragte träge der Flieger. Es sind schöne Kinder, erwiderte der Leutnant. Nicht wahr? Ich will sie ein wenig verderben. Dann werden sie uns weniger dauern. Der Friseur rasierte die Jungen. Sie weinten, die Köpfe gesenkt – der Friseur aber grinste. Jedesmal wenn ihn ein Unglück traf, grinste er schief. Dieses Lächeln täuschte Kohlberg. Der Leutnant glaubte, sein unschuldiger Spaß belustige den alten Armenier. Er setzte die Kinder an den Tisch, entkorkte die Flasche und füllte vier Gläser mit Wodka. Dich bewirte ich nicht, Achilles, sagte er zu dem Friseur. Du wirst mich diesen Abend rasieren. Ich gehe zu euren Schönen auf Besuch. - Der Leutnant zwängte den Jungen die Zähne auseinander und goss jedem ein ganzes Glas Wodka in den Mund. Die Jungen verzogen das Gesicht, keuchten, Tränen entströmten ihren Augen. (K.P., In: Die Windrose, Zürich 1979, S. 86 f.)

Diese Geschichte von Mord und Totschlag, sie wurde 1941 innerhalb der Roten Armee erzählt, hat Paustowski aufgeschnappt und aufgeschrieben. Dabei musste er fehlende Details erfinden und logisch und psychologisch aufeinander abstimmen. Die Herkunft der jüdischen Kinder, deren Mutter beim Brotholen ums Leben kam. Das Versteck im Keller des Stadttheaters von Mariupol. Die Herkunft des Friseurs, der in der halbgriechischen Hafenstadt gerade kein Grieche ist – und der Wohnungsnachbar der Kinder. Das Wechseln der Wohnung, damit der Mord nicht in der Dienstwohnung geschieht. Die Fehleinschätzung des Friseurs durch den Leutnant. Und die rassistische Diktion des Mörders (die durch Nazischriften schon bekannt war und nach dem Krieg durch die Briefe von NS – Ärzten noch bekannter wurde).

Der Autor musste aber auch den Tod der beiden Knaben minutiös beschreiben: Der Leutnant goss den Kindern ein zweites Glas Wodka in den Mund. Sie rissen sich los, doch der Leutnant und der Flieger packten sie an den Armen, gossen ihnen den Wodka langsam ein und achteten darauf, dass sie ihn zu Ende tranken. Sie riefen von Zeit zu Zeit: So! So! Schmeckt es? Nun, noch einmal! Vortrefflich! Der Jüngere begann zu erbrechen. Seine Augen liefen rot an. Er glitt vom Stuhl und legte sich auf den Boden. Der Flieger packte ihn unter den Achseln, hob ihn auf, setzte ihn auf den Stuhl und goss ihm noch ein Glas Wodka in den Mund. Da schrie der Ältere zum ersten Mal auf. Er schrie durchdringend und blickte den Leutnant unverwandt mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an. Schweig, Kantor!, brüllte der Leutnant. Er beugte dem Älteren den Kopf zurück und goss ihm den Wodka direkt aus der Flasche in den Mund. Der Junge fiel vom Stuhl und kroch zur Wand hin. Er suchte die Tür, sah aber offenbar nichts mehr, stieß mit dem Kopf gegen den Türpfosten an, stöhnte auf und verstummte. Um Mitternacht, sagte keuchend der Friseur, starben beide. Klein und schwarz lagen sie da, wie vom Blitz versengt. (a.a.O., S. 88)

Das Geschehen ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die darin besteht, dass der Friseur einem russischen Major Alles erzählt. Durch diese im Text aufgebaute Distanz kann Paustowski die Reaktionen der Russen auf die Geschichte, aber auch die Tötung des Leutnants durch den Friseur lakonisch darstellen: Ich ging mit dem Leutnant in seine geheizte Wohnung. Er setzte sich vor den Wandspiegel. Ich zündete die Kerze im eisernen Leuchter an, erwärmte im Ofen Wasser, begann ihm die Wangen einzuseifen. Den Leuchter stellte ich auf einen Stuhl neben dem Spiegel. Sie haben sicher schon solche Leuchter gesehen: Ein Weib mit aufgelöstem Haar hält eine Lilie, und in den Kelch der Lilie stellt man die Kerze. Ich stieß dem Leutnant den Pinsel voll Seifenschaum in die Augen. Er schrie auf, aber ich schlug ihn voller Wucht mit dem Leuchter auf die Schläfe. Mit einem Hieb?, fragte der Major. Ja. Dann schlug ich mich zu Ihnen durch. Der Major sah auf das Rasiermesser. Ich weiß, warum Sie es ansehen, sagte der Friseur. Sie denken, ich hätte es mit dem Rasiermesser tun sollen. Das wäre sicherer gewesen. Aber wissen Sie, es ist ein altes englisches Rasiermesser. Ich arbeite damit schon seit zehn Jahren. Der Major erhob sich und reichte dem Friseur die Hand. Gebt diesem Mann zu essen, sagte er, Und trockene Kleider. (a.a.O., S. 88 f.)

Der Autor urteilt hier nicht durch Einzelwörter, sondern durch die ganze Darstellung, und er lässt ein Informationsloch gar nicht erst entstehen. Die Auktorialität macht´ s möglich. Paustowski sagt nicht: Wer weiß schon, wie es wirklich war!, sondern er sagt: Ich sage euch, wie es war! Dafür muss er vor dem Leser keine Person entwickeln, keinen Handlungsteil, keinen Zusatz (Hintergrund, Vorgeschichte), sondern kann jedes Einzelne als Substrat, als auf den Punkt gebrachte Sprache präsentieren. Das erweckt den Eindruck von Inszenierung. Aber Inszenierung ist – zumindest beim Erzählen – ohnehin nicht tilgbar. Sie geschieht auch dort, wo nur dünn erzählt wird, oder dort, wo der diskrete Spielleiter ein handelndes Ich an seinen Fäden zieht.

© M.Luksan, Dezember 2016

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