Malcolm Lowry. Ein Trinker steht in einer Nervenheilanstalt kurz vor
der Entlassung und schaut einen Regenbogen an. Er hofft, dass er
wieder auf die Beine kommt. Text: ein Pfauenrad aus Wassertropfen,
fast fühlbar in seiner Frische, und einen Augenblick lang dachte er an
den Regen, der jetzt schon irgendwo niederging und spürte so etwas wie
Hoffnung in sich (…) Aber es war der Springbrunnen, der den Regenbogen
machte, nicht der Regen. Wenn der Regen kam und Erleichterung für die ausgedörrte Erde brachte, würde die Sonne untergegangen sein - wie es
auch sein könnte, dass ein Mensch zu dem Zeitpunkt, da ihn der
Wahnsinn befiel, schon nicht mehr merkte, welche Erleichterung darin lag.
(M.L., Die letzte Adresse, S. 90)
Hier ist Poesie okay. Eine klassische Sprache. Eine auktoriale
Perspektive. Geschaffen von einem Autor, der die Alkoholabhängigkeit
nicht erst hat recherchieren müssen. Ein schwerer Trinker regte Lowry
zur Poesie an, und zur Erklärung seiner Theorie des Scheiterns. Die
Figur des Bill Plantagenet ist idealisiert, denn sie ist eine Abfolge
von Rausch, Entzug und eloquentem Einreden auf den Psychiater.
Die Wahrheit der Kunst ist trotzdem entstanden, der Text zeigt fast
alles, er verschweigt fast nichts. Er bringt aber den Schrecken in eine
schöne Form. Er schockiert nicht durch eine ausflussartige Innenwelt,
deren Bedeutung der Leser selbst bestimmt, sondern er fordert
durch eine klassische Form, in der der Schrecken kunstvoll
eingehegt ist, zum Nachdenken heraus. Der Schrecken in der
„Letzten Adresse“ ist so übersichtlich wie eine Mücke im Bernstein.
Den Vergleich des Nachtregens mit dem Wahnsinn, den letzten
Satz des Zitats, kann der Leser auch unabhängig vom Text
diskutieren. (Lindert der Wahnsinn die Qual des Kranken oder
nicht? Tut er natürlich nicht.)
In einem Text wird ein Sachverhalt klar, wenn der Autor den
Gedanken schon gedacht hat, bevor er ihn formuliert, und
wenn er die Bedeutung der Wörter prüft, bevor er sie zu
einem Satze fügt. Diese Ökonomie des Textes, letztlich die größere
Bewusstheit beim Schreiben, hat ein origineller Theoretiker
des Textes, Roland Barthes, abgewertet (obwohl er selber
von dieser Ökonomie lebte!). Die Einfälle der Klassik betreffen die
Beziehungen, nicht die Wörter; die Klassik ist eine Kunst der
Ausdrucksweise, nicht der Erfindung (R.B., Am Nullpunkt der
Literatur, 1953, dt. 1982, S. 54)
Der klassisch Formulierende, meint Barthes sinngemäß, ist
mit der Entwirrung, Differenzierung und Hierarchisierung der
Beziehungen seiner Wörter und Gedanken so sehr beschäftigt,
dass er dem Einzelwort mehrere Bedeutungen und einen
tief gelagerten Sinn nicht geben kann. Ingeborg Bachmann
(mit der er sich nicht beschäftigte), wäre für ihn wahrscheinlich ein
Mischtypus gewesen. Bachmann: Unter einem Vorwand bin ich
zu Ivan gegangen. Ich drehe so gerne an seinem Transistor
herum. Ich bin seit Tagen wieder ohne Nachricht. Ivan rät mir, doch
endlich ein Radio zu kaufen, wenn ich schon so gerne Nachrichten
oder Musik höre. Er meint, dass mir dann das Aufstehen am Morgen
leichter fiele, wie ihmzum Beispiel, und in der Nacht hätte ich etwas
gegen die Stille. Ich probiere, den Knopf langsam zu drehen, und
suche vorsichtig, um zu erfahren, was herauskommen kann gegen die
Stille. (I.B.; Malina, S. 293)
Roland Barthes, ca. 1970
Ingeborg Bachmann liefert eine schöne Ordnung. Ihre Sätze
sind fein gefügt und man kann nicht raffend lesen, ohne die
Entfaltung des Sinns, die Ausbreitung der Konnotation, zu übersehen,
die sich in dem Satz „Ich probiere, den Knopf langsam zu drehen“
erfüllt. Auf der andern Seite genügt sie der Barthes´ schen Forderung
nach dem tiefen, mehrdeutigen Wort. Dieses ist hier das Wort
„Stille“, es hat die Zusatzbedeutung von „keine Resonanz“ oder
„kein Du“. Die geistige Unreife der Icherzählerin hat die Bachmann,
eine Könnerin des Textes, im Roman wohl begründet. Ihre Heldin ist
von Männern stark abhängig.
Ein Wort ist ein (semantisches) Feld und die (syntaktischen und
die logischen) Beziehungen der Wörter bilden eine Landkarte.
Diese ist bei jedem Text eine gegliederte Ausdehnung,
während nicht jeder Text fruchtbare Felder hat. Aus diesem
Grund beachtet Roland Barthes weniger den Beziehungsreichtum
klassischer Texte, als deren Wörter. Diese scheinen ihm –
notwendig – erschöpft. Barthes: Die Rolle des klassischen Dichters
besteht nicht darin, neue Wörter zu finden, dichtere und leuchtendere,
sondern darin, ein altes Protokoll neu zu ordnen, die Symmetrie und
die Genauigkeit eines Berichtes zu vervollkommnen (R.B., a.a.O.,
S. 54) Hat er die Melville, Turgenjew, Conrad etc. nicht gelesen und
die dichten und leuchtenden Wörter in neu geordneten Protokollen
nicht entdeckt? Eine rhetorische Frage, denn er las auch sie.
Er vergaß sie aber, um seine Zweiwelten – Lehre vom modernen
Text nicht zu beunruhigen.
Beziehungsreichtum kontra Einzelwort führt hier zu alternativen
Texttypen, als ob nicht von zwei, gleichzeitig in einem Text
arbeitenden Wirkungen die Rede wäre. Die klassische Sprache ist
eine Folge von Teilen mit gleicher Dichte, die alle den gleichen
emotionalen Druck unterworfen sind (R.B., a.a.O., S. 54)
Oder: Die klassische Sprache reduziert sich immer auf ein
überzeugendes Ganzes, sie postuliert den Dialog, sie setzt
ein Universum, in dem der Mensch nicht alleine ist (R.B., a.a.O.,
S. 59) Das sind sehr verschiedene und dem Text nicht
inhärente Sachverhalte, die hier aufgelistet werden. Ob ein
poetischer Text ein „Dialog“ ist oder nicht, und ob der Einzelmensch
ein Du im „Universum“ vorfindet oder nicht, das sind Fragen,
die ein Texttheoretiker nicht beantworten kann. Barthes verlässt
den Boden der Kulturwissenschaft und betätigt sich als Ideologe.
Doris Knecht: das war ein Schock. Ich meine, nachdem es nun endlich
gerade richtig passte. Nachdem es nun endlich langsam anfing,
schön altmodisch langsam. Zuerst waren wir ja ganz modern
im Sprint mitten hinein gesprungen, ging ja auch nur um den Sprung.
Man ist ja so, man ist cool, man ist tough, erst der Sex, erst das
Vergnügen, dann vielleicht mal die Arbeit, aber eher nicht.
Meistens eher nicht. Dann die Vollbremsung, alles komplett
abgestoppt, alles abkühlen lassen. Warteposition, ist da was oder
ist da nix. Man will ja nichts, nö, man will ja gar nichts. Ist einem
alles scheißwurscht, ob was ist oder nicht. Immer schön stabil
stehen bleiben, ein bissl wegschauen, tun, als wär nichts,
sonst glaubt der andere zuletzt noch… das Spiel halt(D.K.;
Gruber geht, 2011, S. 183)
Hier kann der Leser raffend lesen, er kann den Text durchmurmeln,
auch einzelne Sätze überspringen, bis er bei „scheißwurscht“
oder „das Spiel halt“ hängen bleibt. Eine frivole Gefährtin des
Helden gibt ihre Erfahrung mit dem Liebsten und mit anderen
Männern im Soziolekt wieder. Dieser Soziolekt ist nicht auf diese
Ichperspektive beschränkt, sondern wird auch angewandt,
wenn auktorial von John Gruber die Rede ist. Eine solche
Unüberlegtheit würde man bei der Bachmann nie finden.
Doch unabhängig von der Gestaltungsschwäche ist die Forderung
des Theoretikers Barthes, der moderne Text möge Beliebigkeit
und Unklarheit der inneren Textbeziehungen für das Einzelwort in
Kauf nehmen, voll erfüllt. Das starke Wort, dieser Künder vom
„Gewicht der Dinge“, dieses „aufrecht stehende Zeichen“, dieser
„Pfeiler, der in eine Ganzheit von Bedeutungen hinabreicht“
(R.B., a.a.O., S. 56) ist in dem obigen Zitat nur das Wort
„scheißwurscht“.
Am Beispiel von Rene Char hat man in den 1950 ern das
Wesen des lyrischen Wortes diskutiert. Gedicht von Char:
Orion, Mit dem Mal des Unendlichen und des irdischen
Durstes/ Der seinen Pfeil nicht mehr köpft mit der alten Sichel/
Die Züge geschwärzt vom Ausglühen des Eisens (…)
war gerne bei uns/ Und blieb.
Schöne Worte, die im Original noch plausibler klingen als im
Deutschen. Sie sind gültig, obwohl sie der Verstand nicht
restlos aufklären kann, aber sie sind gültig nicht außerhalb
eines Erklärungsmusters. Man hat hier den riesenhaften Jäger,
der kosmisch und menschlich zugleich ist, einen Stern,
der das Siebengestirn jagt, und uns nur auf Zeit verlässt, nie für
immer. - Trotzdem hat der frühe Barthes das lyrische Wort haltlos
und werbemäßig definiert: Es kann niemals falsch sein, weil es total ist; es leuchtet von einer unendlichen Freiheit und bereitet sich, tausend ungewissen und möglichen Beziehungen entgegen
zu strahlen (R.B., a.a.O., S. 57) Dabei ist gerade die Sprachkunst
noch weniger frei von vorgegebenem Material als etwa die
Kunst der Plastik. Sie arbeitet mit Redetrümmern genauso wie mit
Sprachatomen und macht aus all dem eine poetische Sprache,
die im Sonderfall mitten in der Fiktion auf eine Realität hinzeigt,
wobei sie nichts verändert, nur ein paar Einsichten liefert
auf dem Weg des Schönen.
1970 zog Roland Barthes seine Forderung von 1953 zurück,
in einer Wort-genauen Analyse eines witzigen Textes von
Balsac („Sarrasine“). Die Konnotation (die Konstruktion von Sinn, Anm. M.L.) muss als die nennbare, absteckbare Spur eines gewissen Pluralen im Text (…) erhalten bleiben (R.B., S/Z, 1970, S. 12) Denotation und Konnotation sind jetzt für ihn zwei gleich
ursprüngliche Systeme, die im Text gegeneinander spielen.
Die Denotation ist nicht die erste aller Sinngehalte, aber sie tut so, als wäre sie es. (R.B., a.a.O., S. 13) Das ist das Problem von
Literaturideologie heute.
© M.Luksan, Mai 2017
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