[...]Der Skipper bedient im Dämmerlicht sein Vorsegel.
Er steht breitbeinig auf den nassen Stahlplatten, auf
denen der Rest von Licht funkelt, und trieft vielleicht
vor Feuchtigkeit. Oder er hat den Regenguss versäumt
und ist trocken, weil er in der Kajüte schlief. Mit Hilfe
eines Weckers, dreißig Minuten lang. Obwohl er ufernah
segelt, riskiert er das. Ich sehe nur seine Silhouette,
die dunkler ist als die Wolken über ihm und dunkler
als das Metall des Schiffes. So sollte jeder Sterbliche
einmal einen Ozean überqueren. Mit dieser Luft in
der Lunge und diesem Geruch in der Nase sollte er
bei Tag die Sterne am Horizont untergehen sehen. In
der Nacht wird in einem ungeteilten Raum gesegelt,
da kann man den Himmel vom Himmelskreis gar
nicht unterscheiden. Erst am Morgen holt der Skipper
seinen Winkelmesser hervor und richtet ihn auf Horizont
und Sterne.
Clark Stede schaut im Sonnenlicht durch das Vollsichtrohr
seines Sextanten. Er hat sich seinen Traum
erfüllt. Die Inselbuben in den Kanus, die nach der
Kakao-Party auf seinem Schiff zur Küste zurückrudern, hat er meisterlich verewigt. Zwölf bronzefarbene
Kinder sind übermütig wie beschwipste Äffchen. Clark Beiderseits
von Stedes Schiff haben sie ihre Nussschalen
bestiegen und winken mit den Paddeln. Sein Schiff
liegt rot im blauen Wasser, das die grüne Wand der
Insel wie ein Lineal abschneidet. Herrlich. In der
Wohnnische des Schiffes bewirtet er vier Insulaner,
die mit Bechern in der Hand darauf warten, dass er
etwas einschenkt. Eine barbusige Frau mit Blüten im
Haar blickt erwartungsvoll auf die Zinnkanne. Stede
selbst steht gebückt in der Kajüte und berührt mit der
zweiten Hand, die eine Zigarette hält, den Boden des
Henkelgefäßes. Kann also kein heißer Tee sein. Bis
die Seele eines solchen Schiffes durch den Gesang der
Gäste gnädig gestimmt ist, könnte ein Kettenraucher
zehn Zigaretten konsumieren.
Stede lebt gesund. Er zerteilt auf einem Hackbrett
eine tropische Frucht und hat auf dem Schiffsbug eine
Reuse hängen. Das blaue Transparent seiner roten
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ASMA hat er in die Reling eingeknüpft, darüber
zusammengerollt die deutsche Flagge. Dieser Mann
trumpft nicht auf, er segelt auf Nebenwegen durch die
Meere. In einem weiten Bogen kommt er aus dem Golf
von Aden heraus und landet auf vergessenen Inseln.
Lamu und Sansibar waren einst sehr berühmt, als
die arabischen Gewürzschiffe Tag und Nacht fuhren.
Heute gibt es nur noch die Stadt Moroni, die durch
ihre Gewürznelken eine Bedeutung hat.
Ich stelle mir vor, wie ein bei den Komoren segelnder
Skipper plötzlich Mayotte erblickt. Die Insel taucht
auf der Backbord-Seite auf, er will anlegen, aber kein
Licht in den fernen Bretterhütten, nur Regendunst
über einer dunklen Siedlung. Den Grund dafür weiß
er schon, diese Orte sind nicht elektrifiziert. Die Franzosen
haben übel gehaust und eine verarmte christliche
Bevölkerung zurückgelassen. Jetzt landet er auf Nosy
Be und befürchtet, für die Rückkehr zur Arabischen
Halbinsel zu wenig Wind zu haben. Falsch. Dann
wäre er kein Profi. Die Todeszone beginnt erst bei 22
Grad südlicher Breite, in der Mitte von Madagaskar.
Wer nördlich davon fährt, darf weiterhin mit Brisen
rechnen und lernt die große Windstille nicht kennen.
Von Nosy Be segelt er durchs offene Meer, auf dem
kürzesten Weg nach Oman. Dort hilft er einem Dhau-
Schiffer, ein Seil über einem Spreizholz zu verknoten.
Er zieht dabei so stark an diesem Tau, dass er in die
Hocke fällt und der andere lächeln muss. Die Araber
tragen alle Weiß: die Würdenträger mit dem Krummdolch
vor dem Bauch, die Gläubigen in der Moschee, die Schulkinder vor dem offenen Koran. Auch die im
Meer stehenden Fischer tragen weiße Kleidung. Sie
breiten weite, feine Netze aus und werden von weißen
Möwen überflogen, die den Fang der Sardinen unruhig
erwarten. Plötzlich ist Stede kein Einhandsegler
mehr und sein Schiff, vier Meter länger als die stählerne
ASMA, liegt schief am Strand, die Reling berührt
fast den Sand. Er und eine Begleiterin hocken da und
entfernen Entenmuscheln vom Rumpf des Bootes.
Ich will aber einen Segler, der einsam fährt. Er
weicht im Sommer den Taifunen aus, ankert in Westaustralien
in einer Bucht, überholt dort sein Schiff. Er
erneuert ein Ruderblatt und versetzt seine Badestiegen
achtern. Wenn er in Bunbury vor Anker liegt, kauft
er sich in Perth eine Windfahnensteuerung und fährt
nach Kap Leeuwin, mit dem Boot, um zu schauen, ob
er vom Leuchtturm aus einen der Minisegler sieht, die
den Westwind der Südmeere eiskalt nutzen.
So ein Weltumsegler sitzt in einer Nische beim
Kajütenabgang und studiert die Seekarte auf dem
Laptop. Er ist ein Held mit Rastalocken, halb von seiner
Segelkappe verdeckt. An der Woge, die sein Schiff
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trägt, sehe ich den bewegten Seegang. Falls die Wellen
höher werden und ihn eine vom Deck fegt, so bleibt
er mit dem Boot durch eine Leine verbunden. Er zieht
sich an Bord, während das Schiff mit dem Autopiloten
weiterfährt. Wenn es seine Elektronik erwischt, so hat
er in der Kajüte noch ein zweites Gerät, das lässt sich
auch mit Echolot und GPS verbinden. Jemand wie
er hält exakt die Richtung, er weiß auch immer ganz
genau, ob er einen Bergkamm, eine Hochebene oder
einen Talboden überschwebt. In dieser Stille hat er ein
gutes Gefühl. Wenn der Wind bläst, die Wellen plätschern
und die Segel nicht knattern, kann ihm eigentlich
nichts passieren. Er erschrickt erst, wenn er das
weiße Packeis in der Sonne sieht. Doch das geschieht
nicht, der Bildschirm zeigt ihm immer an, wie weit er
vom Schelfeis noch entfernt ist.
Natürlich schlägt die Brise um und am Himmel ist
ein Wolkenring zu sehen. Dann räumt der Skipper
seine Kajüte auf, schließt seine beste Leine am Leibgurt
an und fährt den Wogen entgegen, die immer
höher werden. Der Himmel ist auf einmal gelblich
und die Wellen sind schiefergrau, bis auf das schäumende
Wasser, das bleibt weiß. Was empfindet er,
wenn sich die Sturzsee ankündigt? Keine Ahnung. Er
hebt sich einer Riesenwoge entgegen, sein Gesichtskreis
wird eng, dann weitet er sich etwas, das
schäumende Wasser ist unter ihm, und es kommt schon
die nächste Welle. Auf seinem Schiffchen hat er dicht
gemacht, keine Vertiefung kann sich mit Wasser füllen,
aber der Mast kann brechen und das Boot kann
kentern. Und das geschieht. Dann treibt das Boot
kieloben und er liegt angeschnallt auf dem schliddrigen
Längsbalken und die See übergießt ihn mit
Salzwasser. Ein Sturm kann dauern. Der Skipper hat
aber einen Peilsender in seiner Schwimmweste, und
ein Frachter fängt das Notsignal auf und leitet es zum
nächsten Schiffslandeplatz weiter. Aus einem Hafen
der Südmeere fährt ein Polizeiboot heraus, mit einem
Schlauchboot hintennach.
Pauls Skipper geht seinen Törn ruhig an. Er gerät
nicht unter Ringwolken in einen Hexenkessel und
fährt nicht in eine windstille Zone hinein, sondern er
wird sich Zeit lassen und keinen Fehler machen. Doch
er fährt westwärts, er segelt im Wind, er nähert sich
in Zickzackkursen.Wenn er den Ozean überquert hat
und in Westmadagaskar endlich landet, schaltet er eine
Weile völlig ab. Er schläft viel und liest ein Buch. Er
kommt aus Dunedin, wo der Hafenbetrieb, der Straßenverkehr
und die Büroarbeit keine Hektik kennen,
wegen einer Universität. Als Sachbuchautor und Verleger
arbeitet er selbst für diese Uni von Otago. Was für
ein Mensch kann er sein?
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Jemand der ein Leihauto mit Goldkörnern bezahlen
will, gibt vielleicht als Trinkgeld Kaurischnecken. Er
wird nicht stark genug sein, um nach durchzechter
Nacht einem neuen Freund einen Wunsch abzuschlagen.
Er ist verschmitzt, sagt Paul, nicht übermütig.
Gutmütig ist er auch. Er hat das Aufziehen der Piratenfahne
auf seiner Yacht erlaubt. Paul wird ihn hoffentlich
nicht als Seeräuber mit großen Ohrringen und
einem rotem Halstuch über dem schwarzen T-Shirt
präsentieren. Ich nehme an, der Skipper wird auf Klischees
verzichten und sagen, dass Piraten ihre Häuptlinge
gewählt und bei Misserfolg abgesetzt haben.
Vergesst nicht die Story vom blutrünstigen Soundso,
den seine Mannschaft in Mauritius aussetzte und der
per Floß nach Madagaskar kam.
Ich denke, dass der Skipper eine Fahrt mit flatterndem
Vorsegel und mit Ziel im
Wind nicht mehr
machen will. Er ist unser Jahrgang. Peter, Paul und ich
sind für Abenteuer schon zu alt, wir können nicht mehr
gegen den Wind spucken. Der Skipper, der sich immer
vom Südpol angezogen fühlte, sich vielleicht früher
immer der Eisplatte näherte, von der die Berge abbrechen,
denkt vielleicht an Rettungen, die misslangen.
Ein Segler in der Bass-Straße, der keinen Mast mehr
hatte, wurde aus der Luft von einem Hubschrauber
versorgt. Man ließ ein Satellitentelefon zu ihm herab.
Er schien gerettet. Aber der Sturm kehrte zurück, die
See holte sich den Mann und das leere Boot wurde in
Australien angeschwemmt … Paul nennt mich einen
»Romantiker mit einer Weltkarte«, das ist nicht falsch.
Die Romantik brauche ich, um Fantasie ins Leben zu
bringen, und die Geografie, um die wirkliche Welt zu
finden.
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Fünf der Fotos,die dem Buch zugrunde liegen,
die aber im Buch nicht abgebildet
sind, sehen Sie hier:
Der Skipper segelt küstennah
Der Skipper blickt durch seinen Sextanten
Der Skipper und eine Begleiterin säubern den Schiffsrumpf
Die Kinder kehren von einer Kinderparty ans Ufer zurück
Der Skipper ist einem Dhau-Schiffer behilflich
Die obige Fotoserie stammt aus dem fabelhaften Buch
von Clark Stede,
"Abenteuer in allen Kontinenten".