Durch Wiederholung kann ein Medium die Bedeutung eines
Sachverhalts riesenhaft vergrößern. So berichtete der ORF 2006 über
den Zustand des Wachkoma–Patienten Ariel Scharon, über eine Woche
lang. Plötzlich ließ er diese erste oder dritte Nachricht im „Mittagsjournal“
wie eine heiße Kartoffel fallen, nicht in einen Vorratstopf für Nachrichten,
sondern in den Strom des Vergessens, und man hörte nie wieder
etwas von Scharon im Spital. Alle Nachrichten-Empfänger, denen man
den Gesundheitszustand einer Einzelperson interessant gemacht
hatte, hörten nichts mehr von dem schwer erkrankten Mann.
Journalisten erklärten jetzt alle Nachrichten in dieser Sache für
langweilig, die sie eben noch als weltbewegend eingestuft
hatten. Scharon vegetierte noch neun Jahre lang als Komapatient,
dann verstarb er.
Im Unterschied zu diesem Fall ist der Brexit eine wichtige Nachricht. Die Informationen sind dem Ausmaß des Ereignisses und seiner Folgen
angemessen und sie führen auch - sehr im Unterschied zum Fall Scharon –
zu einer Meinungsbildung. Und doch ist die Dauerberichterstattung über die „Situation nach dem Brexit“ eine journalistische Übertreibung, weil
der definitive, der irreversible Austritt Englands aus der EU noch
gar nicht durchgeführt ist. Was wäre, wenn die Engländer im Zuge der
totalen Schwächung der Brexit–Betreiber und einer geschickten
Brüsseler Politik letztlich in der EU verblieben? Das wäre ein Witz
der Geschichte.
Viele Journalisten - man will hier nicht von „Mehrheit“ oder „Minderheit“
reden – neigen zur Behauptung von Überraschung. Das hängt damit
zusammen, dass journalistische Berichte mehr Aufsehen und
mehr Geld bringen, wenn die Neuigkeit auch als das Unerwartete
gilt. Doch es ist irreführend und führt zum Misston, wenn überall
die Überraschung behauptet wird und zum Hauptgewürz der
Berichte wird. Die echten Überraschungen sollte man genau begründen.
Geschähe dies, wäre die Überraschung nicht verschwiegen, aber der
aufgeregte Tonfall würde fehlen.
Der heutige Journalismus hat eine viel größere Wissensbasis
als zB. der um 1900. Aus diesem Grund trifft heute der alte
Vorwurf von Karl Kraus generell nicht zu, dass der Journalismus
reale Sachverhalte poetisch umschreibt (wobei er dann – wie
die Dichtung - das Erfundene einflicht). Doch an die Stelle des Übermaßes
von dichterischer Rhetorik ist ein anderes Übermaß getreten. Die
Journalisten überschätzen Umfragen und Messdaten. Medien selbst
geben Umfragen in Auftrag in der Hoffnung, über eine neue Lage
berichten zu können. In diesem Sinn darf man die Umfrage der
„NÖN“(St. Pölten) verstehen, bei einer Stichprobe von 600 Personen.
Die Studie präsentierte ein gewünschtes Ergebnis, dass nämlich
41 Prozent der Befragten eine ÖVP mit Sebastian Kurz an der
Parteispitze wählen würden, aber nur 22 Prozent eine von Reinhold
Mitterlehner geführte Volkspartei. Diese Umfrage wurde als Feststellung
gehandelt und hat den Abgang des armen Mitterlehner beschleunigt.
Aufregung - informell - im Hohen Haus, Wien 2011. Von links nach rechts: Josef Cap,
Eva Glawischnig, Heinz-Christian Strache, Karlheinz Kopf, Werner Kogler, Barbara Prammer,
Josef Buchner, Peter Westenthaler.
Sebastian Kurz ist der gewichtige Netzwerker und luftige Minister, der
zurzeit eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung genießt als der ebenfalls stromlinienförmige SPÖ– Kanzler. Das hat mit der von den Medien
behaupteten „neuen Lage“ zu tun. In diese fügt sich der einunddreißigjährige
Politiker mit seiner „Neuen ÖVP“ und anderen Fantasien besser ein
als Christian Kern mit seiner alten SPÖ und dem alten Streit zwischen
Ja oder Nein zur FPÖ. Die ÖVP war in dieser Hinsicht klüger, sie hat
sich keine Koalitions-Doktrin verordnet. Jetzt können ihre Funktionäre
dem Vorstand nicht dreinreden, er hat bei Koalitionsbeschlüssen
freie Hand.
Die heutige Aufhebung des alten Parteibeschlusses, mit den Freiheitlichen
keine Regierung zu bilden, erscheint in den österreichischen Medien
als eine Riesenzäsur. In Wahrheit hatten sich das Gros der
Funktionäre und das Gros der Wähler von der „Vranitzky Doktrin“
seit geraumer Zeit innerlich verabschiedet. Die Medien erklärten
diese Doktrin übergenau, sie fokussierten Aufmerksamkeit
auf den 14. Juni 2017 und erhoben da und dort sogar einen Ordnungsruf
an den Kanzler. Christian Kern müsse eine „glasklare Linie vorgeben“,
wenn er nicht den „Schlüssel zum Kanzleramt übergeben“ wolle
(Österreich, 13.06.17) Dieser „Vernunftanweisung“, die mit
analytischer Ratio nichts zu tun hat, hat Kern durchaus
entsprochen, als er an dem besagten Parteitag von seiner neuen Linie
gegenüber der FPÖ sprach. Die Partei werde von nun an ihre
„Identität“ nicht mehr aus der Ablehnung der FPÖ beziehen.
Übertreibungen, wohin das Auge blickt. Der Journalismus inszeniert
und dramatisiert. Er legt sein Hauptgewicht zu wenig auf nüchterne
Darstellungen und wo doch, macht er sie durch den Einsatz von
zeitgeschichtlichem Gedächtnis nicht spannend. Anstatt eine bereits
abgelebte Konvention zu einer Schicksalsfrage zu stilisieren, könnten
die Medien zB. die Herbeiführung der Neuwahlen von 2017 durch
S. Kurz mit der gleichen Aktion von W. Schüssel 1995 vergleichen.
Die damalige Brachialtaktik führte die Volkspartei in eine Niederlage,
ohne dass diese dem riskanten Schüssel politisch Kopf und Kragen
gekostet hätte (eine nachlässige SPÖ!). Ist S. Kurz ein
zweiter Schüssel? Darüber würde man gerne etwas lesen, doch
diese Frage ist den Journalisten offenbar zu historisch.
Man würde gerne eine Background–Geschichte zu einer
öffentlich wichtigen Person zeitgleich mit ihrem Höhenflug
lesen und nicht erst dann, nachdem sich das Blatt des Mächtigen zu
seinen Ungunsten gewendet hat. Man wäre dankbar, wenn eine
Andeutung zu Tal Silberstein im selben Artikel noch eine Ausfüllung fände.
Das hat wohl mit fehlendem Mut zu tun, dass man diesen Wahl–Berater
von Kern als ehemaligen Geheimagenten und heutigen Geschäftsmann,
der in Rumänien in große Korruption verstrickt ist, nicht genauer
beschreiben mag… Vernunft - Unaufgeregtheit - Vollständigkeit der
Nachrichten – das erwartet man vom Journalismus. Und man hält das für eine vernünftige Forderung, ohne zu wissen, ob sie nicht sehr naiv ist.
© M.Luksan, Juni 2017
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