DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
  STARTSEITE


Wissenschaftliche Chimäre

Man schrieb das Jahr 1944 und die Schweizer hörten langsam auf, den Einmarsch der Nazis zu befürchten. Da ging Eugen Gomringer durch Zürich und sah im Schaufenster einer ehemaligen Metzgerei abstrakte Bilder hängen. Die neue Nutzung des Lokals war an sich ein Gag, doch mehr als dieser Umwelt - Effekt beschäftigte den jungen Mann das Schild „Konkrete Kunst“ über gegenstandslosen Bildern. Ein Wirtschaftsstudent, der im Nebenfach Kunstgeschichte studierte, wollte den Sinn von „konkret“ bei Bildern ohne Bildinhalt verstehen. Der Galerieleiter ermunterte ihn, über diese Ausstellung zu schreiben, und Gomringer machte sich vertraut mit den Gedankengängen der Modernen Kunst. So nachhaltig, dass er eines Tages das Wort „konkret“ von der Malerei auf die Poesie übertrug.

„Konkrete Poesie“ hatte es schon 1916 gegeben. Sie hieß damals „Dada“ und war von wilden, antibürgerlichen Bürgersöhnen im Rahmen von Kunst - Events präsentiert worden. Jetzt waren die Sprachkritiker fast besonnen, überhaupt nicht wild und setzten auch ihre Gesundheit nicht aufs Spiel. Sie drückten sich aber blasser aus als Hugo Ball und seine Freunde. ZB. Gomringer schreibt in seinem Manifest, dass er Werke schaffen wolle, die ohne äußerliche Annäherung an die Natur, nur durch Anwendung ureigener Gesetzmäßigkeiten zustande kommen („Vom Vers zur Konstellation“).

Aber gibt es eine echte Analogie zwischen einem Spiel mit Wörtern und einem naturwissenschaftlichen Versuch? Wenn man das sich selbst entzündende Feuer betrachtet, das auch als Zaubertrick bekannt ist, so ist dieser Versuch an kein Forscher-Subjekt geknüpft. Ein Pulvergemisch, das genau dosiert ist, wird durch wenige Tropfen Wasser nach einer Latenzzeit von zehn bis zwanzig Sekunden zur Hervorbringung einer roten Stichflamme mit Rauchentwicklung gebracht. Diese Reaktion ist für jedermann sichtbar und exakt erklärbar. Durch die Zugabe von Wasser reagiert Zinkpulver auf Ammoniumnitrat.
Wenn Gomringer ein Experiment startet, so führt es zB. zu einer Reihe. Ein Gedicht lautet: „baum/ baum kind/ kind/ kind hund/ hund/ hund haus/ haus/ haus baum/ baum kind hund haus“ – Auf die Frage, warum er gerade diese vier Wörter für sein Spiel auswählte, antwortete er, sinngemäß: Weil sie für mich der „Umfang des menschlich Notwendigen“ sind. Damit ist die Bedeutung von „elementar“ oder von „Element der Natur“ oder von „Naturbaustein“ aufgehoben, weil nachgewiesen werden kann, dass jeder Leser vier andere Phänomene in seiner Kindheit stark erlebte.

Das „Experiment mit Sprache“ ist also nur eine gewagte Metapher. Die Subjektivität des Autors ist unverlierbar, die Wörter sind keine Elemente, deren Eigenschaften man außerhalb der Sprache bestimmen könnte. Außerdem gibt es keine schrittweise Durchführung und das Resultat ist a priori nie so weit offen wie bei einem naturwissenschaftlichen Versuch. Trotzdem beharrt die Konkrete Poesie auf Experiment und Wahrheit. Man könnte meinen, dass ihr eine „poesie pure“ a la Mallarme genügt, die Unterordnung der Bedeutung unter die klangliche Schönheit, aber nein, sie meldet einen wissenschaftlichen Anspruch an. Allzu einfache und immer noch mehrdeutige Reihungen streben nach „absoluter Klarheit“: „dein mein leib/ dein mein blick/ deine meine kraft/ deine meine freude/ deine meine trauer/ dein mein schweigen“ (E. Gomringer)

Es gibt bei den Künsten externe Fragen wie etwa die Trennung des akustischen Mediums des Textes von seinem visuellen Medium (der Schrift). Verändert sich der Text dadurch, dass man ihn nicht still liest, sondern laut spricht? Das ist eine Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Kunstgattung. Eine solche Frage erklärt aber nicht die Kreativität innerhalb eines Genres (weshalb es in Malerei, Literatur, Musik usw. Entwicklung gibt), sondern sie erklärt nur die anthropologische Stufe, auf der sich der allererste Künstler befand. Es ist wünschenswert, dass nicht ein Kunstideologe auf eine solche externe Frage antwortet, sondern ein Wissenschaftler. Die Wiener Gruppe, die für die Literatur gerne einen Neuanfang eingeführt hätte, hat zB. gefragt, ob das laute Lesen eines geschriebenen Textes der Literatur eine neue Dimension hinzufügt. Ganz sicher waren sich die Herren nicht, aber sie haben herumprobiert. In der Malerei hat man einstweilen gefragt, ob die schwarze Überdeckung einer Radierung, bei der der untere Bildrand frei gelassen wird, ein Austreten oder ein Eintreten in die Malkunst ist.

Arnulf Rainer. Auch an seinem Beispiel kann man das Wesen des Kunst – Experiments studieren. Rainer gelangte vom Surrealismus über den Tachismus, die Überdeckung und die Übermalung zum Blind-Malen und wieder zurück zur Übermalung. Das kann man positiv als Selbstversuche deuten in jenem Teil der Malerei, der sich frei hält von Darstellung und Bildinhalt. Man kann es aber auch negativ sehen als eine einseitige Suche nach dem Neuen, die eine wissenschaftliche Sichtweise nur nachahmt. Als ob Rainer irgendwann in seinem Leben ausgerufen hätte: Was schert mich die optische Außenhaut der Welt, wenn ich durch Malerei die Mittel bekommen habe, mich selber genau zu erforschen?!

Gerhard Rühm telefoniet, Günter Brus sitzt
Gerhard Rühm telefoniert, Günter Brus sitzt. Über dem Sofa das Spruchband. Berlin, 1970.

In der schönen Literatur ist das Gerede vom Experiment letztlich irreführend, weil das Werk aus Sprache gemacht ist. Hier wird - anders als in der Malerei - ein Weg zum Resultat gesucht, dh. das Resultat steht dem Dichter bereits vor Augen, das Ergebnis ist nicht völlig offen. Das gilt für eine Konstellation von Gomringer genauso wie für ein Gedicht von Eugen Roth. Der entscheidende Unterschied liegt in der Lust auf Gestaltung, die durch die Modellräume der Wörter geweckt wird. Dieses Sprachlich - Imaginäre regte Gomringer nie an, in diese unbegrenzte Welt begab er sich nie hinein. Er wollte kein Bauherr für imaginäre Welt sein, sondern ein Vorführer der begrenzten und überwindbaren Zwänge der Sprache. Und bei jeder Vorführung sagte er: Es gibt nichts zu gestalten. Nur die Gestaltung von Werbesprüchen hat er realisiert. Er hat gewiss ähnliche Spitzenleistungen hervorgebracht wie die Herren der Wiener Gruppe. Diese fanden zu dem witzigen Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied, darum herrscht so ein Lärm auf den Straßen“ und hängten ein Band mit diesen Worten in ihrer Wohnung auf. Sprachspiel und Sprachkritik sind ein Gegenpol zur sprachlichen Naivität. Insofern haben sie ihren Platz. Aber die Experten müssen dazu sagen, dass man die Bedeutung von Literatur verringert, wenn man systematisch aufhört, in die Imaginarien der Sprache hineinzuwandern. Sie sollten in Literaturhäusern darauf achten, dass dort das Vorlesen von weitgehend leeren Texten nicht rituell – priesterlich, sondern intellektuell geschieht, damit nicht ausgerechnet bei sprachspielender Literatur, die sich Klarheit und Reinheit zugute hält, der Eindruck von völliger Belanglosigkeit entsteht.

In der abstrakten Malerei ist auch die Erfinder - Schöpfer – Fantasie zu finden. Am Ende des Filmes „Kunstmacher in Österreich“ (Regie: M. Luksan und P. van der Let) haben der Maler Bruno Wildbach und der Maler Ferdinand Penker ein Gespräch über ihre unterschiedlichen Malmethoden. Der methodisch ringende Wildbach, über dem der Vorwurf der Illustration wie ein Damokles – Schwert hängt, nur weil er den Bildinhalt nicht gänzlich opfert, provozierte den etablierten Penker zu einer interessanten Aussage. „Meine Hoffnung ist“, sagte dieser Kärntner Maler, der dem Verhältnis von Bild, Fläche und Raum viele, viele abstrakte Werke widmete, „dass meine Bilder die Wirklichkeit sind und keine Wirklichkeit davor brauchen, um sie abzubilden. Ziel wäre es, zu der Vielfalt, die wir schon haben, noch etwas hinzu zubringen.“ Damit sprach er wie ein Naturforscher, der der Natur das Gesetz nicht zuletzt deshalb abschaut, weil er von ihr durch kein Medium getrennt ist.

© M.Luksan, Juni 2017

zurück