DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Wie echter Widerstand wirklich abläuft

Ein Autor verdeutlicht seinen holprigen Lebensbeginn, indem er das Mühsame seiner Geburt und die Qualen seiner Mutter betont. Er erlebt die Taufe wie eine Austreibung. Es ist eine Familie, die ihren Erstgeborenen falsch behandelt, sodass dieser zum jüngeren Bruder eine zu große Rivalität entwickelt. Diese wird vom Vater (der einfühlsame Fotos macht) übermäßig bestraft. Der brutale Mann übt auf die geistig bescheidene Ehefrau einen so großen Druck aus, dass diese ihre Verzweiflung aus dem Fenster schreit und in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird. Der erste Sohn ist als Elfjähriger ganz verstört, denn er hängt nicht am Vater, sondern an der Mutter.

Rainer Schepper, der Autor und Rezitator, beschreibt klar und bündig diese für die Hitler-Zeit nicht seltene Familienkonstellation. Er lenkt die Aufmerksamkeit in Richtung auf die Sinnhaftigkeit seines Lebens. Er stellt sein Leben rund um eine implizite Sinnsuche dar. Das ist literarisch gefährlich, denn er schafft die Möglichkeit, dass die konkrete Darstellung seines Lebens die von ihm selber vorgenommene Deutung nicht bestätigt. Jedoch – sein „Lebensreport“ ist geglückt. Schepper hat sein Leben nicht bloß in eine Reihe gebracht, sondern auch erklärt und verdeutlicht. Man versteht seine Ablehnung der zugewiesenen Rolle und seine Faszination angesichts der geistigen Welt. Wer verletzt wird, sagt Nein zur Welt, ja sogar Nein zum eigenen Körper, und entwickelt bei der Formulierung des Nein (denn er will nicht trotzig sein) den Geist, den er in den Bruchstücken der Rede und in den Splittern des Wissens als sprachliche Tiefe entdeckt.

Rainer Schepper

Das Plattdeutsche wird ihm ein Medium des Geistes. Schepper hört diese Sprache zum ersten Mal bei „plattdeutschen Abenden“ innerhalb der Familie. Er darf in einem Bücherschrank nach plattdeutscher Literatur suchen. Auch liest ihm Jemand Geschichten von Augustin Wibbelt vor. In der Schule wird er beinahe zum Mobbing – Opfer, doch ein kräftiger Schulfreund hilft ihm bei der Einschüchterung der Quälgeister. Vielleicht hat auch die frühe Beherrschung jener witzigen Mundart von seiner Unsportlichkeit, Angst vor kaltem Wasser etc. effektiv abgelenkt... Jahre später, als er Wibbelt seinen „Freund“ schon nennen darf, verbessert er als angehender Flakhelfer die Laune anderer Jungsoldaten durch das Rezitieren plattdeutscher Gedichte.

Dann überlebte Rainer Schepper die Jahre 1943, 44 und 45 wie ein Wunder. Sein nervöser Widerstand gegen Gruppen wurde ihm in der Gemeinschaftswelt einer Truppe nicht zum Verhängnis. Er desertierte in kleinen Schritten. Er täuschte Schwäche und Krankheit vor und wurde vom Dienst frei gestellt. Er versuchte, durch Hungern seine Haut zu retten, doch bei der Untersuchung war er schwerer als hundert Pfund und musste wieder an die Front. Diesmal zum Reichsarbeitsdienst, wo er für den Krieg, der sich jetzt östlich von Lodz abspielte, ausgebildet wurde. Gewissermaßen. In einer der nächsten Instruktionsstunden (für die Panzerfaust, Anm. M.L.), als wir in Reihen auf lehnenlosen Bänken saßen, suggerierte ich mir einen Ohnmachtsanfall und ließ mich schlaff hintenüber auf den Boden fallen (R.S., Lebensreport, Coesfeld, 2. Auflage 2016, S. 51 f.) So kam er wieder in ein Krankenrevier - und wurde wieder einsatzfähig geschrieben.

Zu diesem Zeitpunkt ist Schepper schon kaltblütig genug, um mit einem Vorgesetzten folgenden Dialog zu haben: Hartnäckig berief ich mich auf den Befund des Feldarztes in Turek und (…) machte den Feldarzt auf seine Verantwortung aufmerksam, die er allein zu vertreten habe, falls ich krankheitsbedingt im Einsatz versagen und damit ungewollt andere Kameraden und die Verteidigung gefährden sollte, und brachte ihn schließlich dazu, mich für nicht einsatzfähig zu erklären (a.a.O., S. 52) Anschließend nutzt er das Durcheinander im Verband eines Flüchtlingszuges, um sich mit einem Fahrrad der Aufsicht eines Feldmeisters zu entziehen. Dann fährt er weiter in einem offenen Güterzug, viele Stunden neben einem Funkmessgerät im Freien sitzend. Jänner 1945. Er kommt nach Hause, wo man sofort erkennt, dass er sich als Versprengter nicht zu Hause, sondern schon im Osten hätte melden müssen. Und kriegt einen Marschbefehl, nach Regensburg.

Sein innerer Widerstand bleibt intakt. Auf dem Weg zum Einsatzort taucht Schepper bei einer Tante unter, die ihm aber nur kurzen Unterschlupf gewährt. Er steigt wieder in einen Zug, hat aber diesmal Pech - er wird von einer Streife festgenommen. Da er sich halb herausreden kann, wird er nur als Kanonenfutter bestimmt. Am 23. März 1945 (er ist achtzehnjährig) soll er als Mitglied eines Strafkommandos die eingeschlossene Stadt Frankfurt verteidigen. Der befehlshabende Offizier nimmt freilich selber den Befehl nicht ernst und empfiehlt seinen Soldaten, sich davon zu machen. Beim nächsten Luftalarm (…) fasste ich mir ein Herz, fischte mir aus der Stallung eines bäuerlichen Anwesens (…) die an einem Nagel hängende, verschmutzte Arbeitskleidung eines Knechtes oder Landarbeiters (…), zog meine Uniform aus und warf sie samt Wehrpass in eine Jauchegrube(a.a.O., S. 60). In seiner Verkleidung sucht Schepper in einem Straßenbunker Schutz und ein Ortsgruppenleiter will ihn als Deserteur enttarnen. Noch einmal und diesmal endgültig rettet sich der Held durch sein Fabulieren vor dem Untergang im „Endsieg“ - und entkommt.

Verglichen damit ist die berühmte Fahnenflucht von Alfred Andersch spürbar erfunden und pathetisch formuliert. An jenem Morgen des 6. Juni 1944 zitterte die Atmosphäre in verhaltener Erregung. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, so wäre mir die Stille nicht so unerträglich gewesen (…) An diesem Tage legte der italienische Krieg sein Ohr auf die Erde, um auf den normannischen Krieg zu horchen. (A.A., Die Kirschen der Freiheit, Zürich 1968, S. 122) Hinter den Bäumen am anderen Talrand konnte ich Häuser sehen, und ich vernahm das Geräusch rollender Panzer (…) Darauf tat ich etwas kolossal Pathetisches – aber ich tat´ s -, indem ich meinen Karabiner nahm und unter die hohe Flut des Getreides warf. (a.a.O., S. 130 und 131)

Bei seinem Bemühen, die Bedeutung des Vorganges zu erhöhen, scheitert Alfred Andersch an seinen Kunstmitteln. Es ist, als ob dieser fähige Autor ein Problem damit gehabt hätte, etwas Erfundenes glaubwürdig zu erzählen. Das Fiktive war seine Fahnenflucht. Lange nach seinem Tod haben verbissene Andersch – Verächter den Nachweis erbracht, dass er als Wehrmachts – Soldat nicht einsam desertiert, sondern die ganze Truppe nördlich von Rom die Waffen niedergelegt hatte. Rainer Schepper, der sich nicht erhöhen und stilisieren will, hatte nur eine kommunikative Aufgabe zu bewältigen. Er musste eine Wirklichkeit im Nachhinein erfassen und allgemein verständlich machen. Das ist ihm gut gelungen.

Sein Fußmarsch auf der Rheinstraße nach Norden ist ähnlich ungewöhnlich wie seine Desertion. Er übersteht auf dem zwanzigtägigen Marsch die Gefahren einer gesetzlosen Welt. Auf Empfehlung einer deutschen Familie, die ihm extra ihre Visitenkarte mitgibt, erscheint er bei Konrad Adenauer in Rhöndorf. Dieser Politiker war jener Familie angeblich verbunden und seine, schon damals gegebene Bedeutung wurde dem Weitwanderer nicht dazugesagt. Schepper hörte nur von Adenauers Alter. Da ich den alten Herrn im Mittagsschlaf nicht stören wollte, setzte ich mich etwa zwei Stunden lang auf eine Bank am Zennigsweg, nicht weit von seinem Haus, und schellte dann nach 15 Uhr bei ihm an. An der Tür erschien Adenauer persönlich, fragte nach meinem Begehr, nahm Karte und Grüße kühl entgegen und wünschte mir einen guten Heimweg, ungeachtet dessen, dass ich ihm die Empfehlung seiner Freunde, mich für eine Nacht bei sich zu beherbergen, hatte wissen lassen. Enttäuscht setzte ich meinen Weg fort. (a.a.O., S. 67 und 68)

Rainer Schepper hat keine Memoiren geliefert, wo der Erinnernde hinter die Ereignisse und Personen zurücktritt, sondern er nimmt den Leser auf eine diskrete Suche mit. Weniger der Durchgang ist ihm interessant als das Wesen. So kehrt er immer wieder zu Wahrheit, Moral und Heil (für den gefährdeten Neinsager) zurück. Trotz der vielen Namen hat Schepper kein Name – Dropping gemacht, denn er sucht die tiefe Person. Er differenziert Lehrer, Ausbildner, Vorgesetzte, Schüler, indem er meistens dazu sagt, wie er zu jedem stand. Dort, wo er es nicht macht, ist die Nennung eine Art Höflichkeit von ihm, sie dient der Vollständigkeit des Berichts.

Er fand den Geist nicht bei seiner Mutter, nicht bei seinem Vater, nicht bei seinen Lehrern, er entdeckte ihn selbst und der der Selbstautorisierte entstand gleich mit. Dieser ist schlecht für eine 3 Karriere. Schepper ließ sich durch bloße Macht, sei es ein Vorgesetzter sei es eine Gruppe, eine mühsam gefundene Erkenntnis nicht ausreden. Festigkeit und Eigensinn kamen hinzu (in der Welt, in der man sich durch Anpassung durchsetzt. War im Dritten Reich nicht anders). So darf man sich seine Konflikte nach 1945 erklären. Er verlor eine Anstellung bei einer Tageszeitung, litt unter dem Schweigen der Kirche und dem Schweigen der Politik, und hatte Dauerärger mit der Schulbehörde. Er kämpfte zB. für eine Lehrbeauftragte in Wuppertal, die man wegen Kontakte zur DDR entlassen hatte. Oder er trat, noch vor Willy Brandt, für eine Aussöhnung mit der DDR ein. In der Schulbehörde wurde gegen ihn intrigiert, er wurde hin- und her versetzt und in der Schulhierarchie ganz unten festgehalten. Am Ende wurde er in die Frühpension gezwungen.

Ab 1978 hatte Rainer Schepper genügend Zeit für den Vortragenden, den Rezitator und den Publizisten. Er hat diese Tätigkeiten intensiviert und wurde recht bekannt. Durch Radiosendungen (WDR, Antenne Münster), aber auch durch Fernsehen (Bürgerfernsehen Münster)... Sein Leben zeitigte ein sichtbares Ergebnis: die Mitteilung geistiger Welt an andere Menschen. Die Prosa Scheppers ist nicht hochpoetisch, aber sie ist hochrelevant. Denn sie zeigt exemplarisch, wie der Geist in unsere Gesellschaft kommt und welche Rolle er dort spielt, wenn man den Geistträger nicht approbiert. Rainer Schepper wurde ein Randseiter des Etablierten, aber einer bei dem man die Kriterien der sprachlichen Echtheit bestimmen kann, um sie zB. gegen irreführenden Journalismus oder gegen falsche Töne in der Literatur anzuwenden.

Rainer Schepper, Lebensreport, Elsinor Verlag, Coesfeld, 2. Auflage 2016

© M.Luksan, Juni 2018

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