Ein Autor verdeutlicht seinen holprigen Lebensbeginn, indem er das
Mühsame seiner Geburt und die Qualen seiner Mutter betont. Er erlebt
die Taufe wie eine Austreibung. Es ist eine Familie, die ihren Erstgeborenen
falsch behandelt, sodass dieser zum jüngeren Bruder eine zu große
Rivalität entwickelt. Diese wird vom Vater (der einfühlsame Fotos macht)
übermäßig bestraft. Der brutale Mann übt auf die geistig bescheidene
Ehefrau einen so großen Druck aus, dass diese ihre Verzweiflung aus
dem Fenster schreit und in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird.
Der erste Sohn ist als Elfjähriger ganz verstört, denn er hängt nicht
am Vater, sondern an der Mutter.
Rainer Schepper, der Autor und Rezitator, beschreibt klar und bündig
diese für die Hitler-Zeit nicht seltene Familienkonstellation. Er
lenkt die Aufmerksamkeit in Richtung auf die Sinnhaftigkeit seines
Lebens. Er stellt sein Leben rund um eine implizite Sinnsuche dar.
Das ist literarisch gefährlich, denn er schafft die Möglichkeit,
dass die konkrete Darstellung seines Lebens die von ihm selber
vorgenommene Deutung nicht bestätigt. Jedoch – sein
„Lebensreport“ ist geglückt. Schepper hat sein Leben nicht bloß in
eine Reihe gebracht, sondern auch erklärt und verdeutlicht. Man
versteht seine Ablehnung der zugewiesenen Rolle und seine Faszination
angesichts der geistigen Welt. Wer verletzt wird, sagt Nein zur Welt,
ja sogar Nein zum eigenen Körper, und entwickelt bei der Formulierung
des Nein (denn er will nicht trotzig sein) den Geist, den er in den
Bruchstücken der Rede und in den Splittern des Wissens als
sprachliche Tiefe entdeckt.
Das Plattdeutsche wird ihm ein Medium des Geistes. Schepper hört
diese Sprache zum ersten Mal bei „plattdeutschen Abenden“ innerhalb
der Familie. Er darf in einem Bücherschrank nach plattdeutscher
Literatur suchen. Auch liest ihm Jemand Geschichten von Augustin
Wibbelt vor. In der Schule wird er beinahe zum Mobbing – Opfer,
doch ein kräftiger Schulfreund hilft ihm bei der Einschüchterung
der Quälgeister. Vielleicht hat auch die frühe Beherrschung jener
witzigen Mundart von seiner Unsportlichkeit, Angst vor kaltem Wasser
etc. effektiv abgelenkt... Jahre später, als er Wibbelt seinen
„Freund“ schon nennen darf, verbessert er als angehender Flakhelfer
die Laune anderer Jungsoldaten durch das Rezitieren plattdeutscher
Gedichte.
Dann überlebte Rainer Schepper die Jahre 1943, 44 und 45 wie
ein Wunder. Sein nervöser Widerstand gegen Gruppen wurde
ihm in der Gemeinschaftswelt einer Truppe nicht zum Verhängnis.
Er desertierte in kleinen Schritten. Er täuschte Schwäche und Krankheit
vor und wurde vom Dienst frei gestellt. Er versuchte, durch Hungern
seine Haut zu retten, doch bei der Untersuchung war er schwerer als
hundert Pfund und musste wieder an die Front. Diesmal zum
Reichsarbeitsdienst, wo er für den Krieg, der sich jetzt östlich von
Lodz abspielte, ausgebildet wurde. Gewissermaßen. In einer der
nächsten Instruktionsstunden (für die Panzerfaust, Anm. M.L.), als wir
in Reihen auf lehnenlosen Bänken saßen, suggerierte ich mir einen
Ohnmachtsanfall und ließ mich schlaff hintenüber auf den Boden fallen
(R.S., Lebensreport, Coesfeld, 2. Auflage 2016, S. 51 f.) So kam er wieder
in ein Krankenrevier - und wurde wieder einsatzfähig geschrieben.
Zu diesem Zeitpunkt ist Schepper schon kaltblütig genug, um
mit einem Vorgesetzten folgenden Dialog zu haben: Hartnäckig
berief ich mich auf den Befund des Feldarztes in Turek und (…)
machte den Feldarzt auf seine Verantwortung aufmerksam, die er
allein zu vertreten habe, falls ich krankheitsbedingt im Einsatz versagen
und damit ungewollt andere Kameraden und die Verteidigung
gefährden sollte, und brachte ihn schließlich dazu, mich für nicht
einsatzfähig zu erklären (a.a.O., S. 52) Anschließend nutzt
er das Durcheinander im Verband eines Flüchtlingszuges, um
sich mit einem Fahrrad der Aufsicht eines Feldmeisters zu
entziehen. Dann fährt er weiter in einem offenen Güterzug, viele
Stunden neben einem Funkmessgerät im Freien sitzend.
Jänner 1945. Er kommt nach Hause, wo man sofort erkennt,
dass er sich als Versprengter nicht zu Hause, sondern schon
im Osten hätte melden müssen. Und kriegt einen Marschbefehl,
nach Regensburg.
Sein innerer Widerstand bleibt intakt. Auf dem Weg zum Einsatzort
taucht Schepper bei einer Tante unter, die ihm aber nur kurzen
Unterschlupf gewährt. Er steigt wieder in einen Zug, hat aber
diesmal Pech - er wird von einer Streife festgenommen. Da er sich
halb herausreden kann, wird er nur als Kanonenfutter bestimmt.
Am 23. März 1945 (er ist achtzehnjährig) soll er als Mitglied eines
Strafkommandos die eingeschlossene Stadt Frankfurt verteidigen.
Der befehlshabende Offizier nimmt freilich selber den Befehl nicht
ernst und empfiehlt seinen Soldaten, sich davon zu machen. Beim
nächsten Luftalarm (…) fasste ich mir ein Herz, fischte mir aus der
Stallung eines bäuerlichen Anwesens (…) die an einem Nagel hängende,
verschmutzte Arbeitskleidung eines Knechtes oder Landarbeiters
(…), zog meine Uniform aus und warf sie samt Wehrpass in eine
Jauchegrube(a.a.O., S. 60). In seiner Verkleidung sucht Schepper
in einem Straßenbunker Schutz und ein Ortsgruppenleiter
will ihn als Deserteur enttarnen. Noch einmal und diesmal endgültig
rettet sich der Held durch sein Fabulieren vor dem Untergang im
„Endsieg“ - und entkommt.
Verglichen damit ist die berühmte Fahnenflucht von Alfred Andersch
spürbar erfunden und pathetisch formuliert. An jenem Morgen des
6. Juni 1944 zitterte die Atmosphäre in verhaltener Erregung. Hätte ich
damals gewusst, was ich heute weiß, so wäre mir die Stille nicht so
unerträglich gewesen (…) An diesem Tage legte der italienische Krieg
sein Ohr auf die Erde, um auf den normannischen Krieg zu horchen.
(A.A., Die Kirschen der Freiheit, Zürich 1968, S. 122) Hinter den
Bäumen am anderen Talrand konnte ich Häuser sehen, und ich
vernahm das Geräusch rollender Panzer (…) Darauf tat ich etwas
kolossal Pathetisches – aber ich tat´ s -, indem ich meinen Karabiner
nahm und unter die hohe Flut des Getreides warf. (a.a.O., S. 130
und 131)
Bei seinem Bemühen, die Bedeutung des Vorganges zu erhöhen, scheitert
Alfred Andersch an seinen Kunstmitteln. Es ist, als ob dieser fähige
Autor ein Problem damit gehabt hätte, etwas Erfundenes glaubwürdig
zu erzählen. Das Fiktive war seine Fahnenflucht. Lange nach seinem
Tod haben verbissene Andersch – Verächter den Nachweis erbracht,
dass er als Wehrmachts – Soldat nicht einsam desertiert, sondern
die ganze Truppe nördlich von Rom die Waffen niedergelegt hatte.
Rainer Schepper, der sich nicht erhöhen und stilisieren will, hatte nur
eine kommunikative Aufgabe zu bewältigen. Er musste eine Wirklichkeit
im Nachhinein erfassen und allgemein verständlich machen. Das
ist ihm gut gelungen.
Sein Fußmarsch auf der Rheinstraße nach Norden ist ähnlich
ungewöhnlich wie seine Desertion. Er übersteht auf dem zwanzigtägigen
Marsch die Gefahren einer gesetzlosen Welt. Auf Empfehlung einer
deutschen Familie, die ihm extra ihre Visitenkarte mitgibt, erscheint
er bei Konrad Adenauer in Rhöndorf. Dieser Politiker war jener
Familie angeblich verbunden und seine, schon damals gegebene
Bedeutung wurde dem Weitwanderer nicht dazugesagt. Schepper
hörte nur von Adenauers Alter. Da ich den alten Herrn im Mittagsschlaf
nicht stören wollte, setzte ich mich etwa zwei Stunden lang auf eine
Bank am Zennigsweg, nicht weit von seinem Haus, und schellte dann
nach 15 Uhr bei ihm an. An der Tür erschien Adenauer persönlich,
fragte nach meinem Begehr, nahm Karte und Grüße kühl entgegen
und wünschte mir einen guten Heimweg, ungeachtet dessen, dass ich
ihm die Empfehlung seiner Freunde, mich für eine Nacht bei sich zu
beherbergen, hatte wissen lassen. Enttäuscht setzte ich meinen Weg fort.
(a.a.O., S. 67 und 68)
Rainer Schepper hat keine Memoiren geliefert, wo der Erinnernde
hinter die Ereignisse und Personen zurücktritt, sondern er nimmt
den Leser auf eine diskrete Suche mit. Weniger der Durchgang ist
ihm interessant als das Wesen. So kehrt er immer wieder zu Wahrheit,
Moral und Heil (für den gefährdeten Neinsager) zurück. Trotz
der vielen Namen hat Schepper kein Name – Dropping gemacht,
denn er sucht die tiefe Person. Er differenziert Lehrer, Ausbildner,
Vorgesetzte, Schüler, indem er meistens dazu sagt, wie er zu jedem
stand. Dort, wo er es nicht macht, ist die Nennung eine Art Höflichkeit
von ihm, sie dient der Vollständigkeit des Berichts.
Er fand den Geist nicht bei seiner Mutter, nicht bei seinem Vater,
nicht bei seinen Lehrern, er entdeckte ihn selbst und der
der Selbstautorisierte entstand gleich mit. Dieser ist schlecht für eine 3
Karriere. Schepper ließ sich durch bloße Macht, sei es ein Vorgesetzter
sei es eine Gruppe, eine mühsam gefundene Erkenntnis nicht ausreden.
Festigkeit und Eigensinn kamen hinzu (in der Welt, in der man sich
durch Anpassung durchsetzt. War im Dritten Reich nicht anders). So darf
man sich seine Konflikte nach 1945 erklären. Er verlor eine Anstellung
bei einer Tageszeitung, litt unter dem Schweigen der Kirche und dem
Schweigen der Politik, und hatte Dauerärger mit der Schulbehörde. Er
kämpfte zB. für eine Lehrbeauftragte in Wuppertal, die man wegen
Kontakte zur DDR entlassen hatte. Oder er trat, noch vor Willy Brandt, für
eine Aussöhnung mit der DDR ein. In der Schulbehörde wurde gegen ihn
intrigiert, er wurde hin- und her versetzt und in der Schulhierarchie ganz
unten festgehalten. Am Ende wurde er in die Frühpension gezwungen.
Ab 1978 hatte Rainer Schepper genügend Zeit für den Vortragenden,
den Rezitator und den Publizisten. Er hat diese Tätigkeiten intensiviert
und wurde recht bekannt. Durch Radiosendungen (WDR, Antenne Münster),
aber auch durch Fernsehen (Bürgerfernsehen Münster)... Sein Leben
zeitigte ein sichtbares Ergebnis: die Mitteilung geistiger Welt an andere
Menschen. Die Prosa Scheppers ist nicht hochpoetisch, aber sie
ist hochrelevant. Denn sie zeigt exemplarisch, wie der Geist in unsere
Gesellschaft kommt und welche Rolle er dort spielt, wenn man den
Geistträger nicht approbiert. Rainer Schepper wurde ein Randseiter
des Etablierten, aber einer bei dem man die Kriterien der sprachlichen
Echtheit bestimmen kann, um sie zB. gegen irreführenden Journalismus
oder gegen falsche Töne in der Literatur anzuwenden.
Rainer Schepper, Lebensreport, Elsinor Verlag, Coesfeld, 2. Auflage 2016
© M.Luksan, Juni 2018
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