DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Boulevard: Schnellgang statt Tiefgang

Der Boulevard brachte J.R. Ewing, die Figur aus der Serie „Dallas“, mit der Mozartkugel und mit dem österreichischen Rundfunk-Chef auf ein- und derselben Seite. In Salzburg war Larry Hagman privat abgestiegen und in Wien hatte Gerd Bacher etwas über den ORF gesagt. Das war nicht das Gleiche. Es war nicht homolog, nicht analog, doch der Journalist hatte es auf eine Seite gestellt, die sogar mit einem Begriff übertitelt war. Der Begriff lautete „Szene“. Man hatte sich bei der Zeitung offenbar gedacht: Der Schauspieler Hagman und der Medienmanager Bacher sind Promis - Promis gehören zu einer Szene - und „Dallas“ wird durch den ORF ausgestrahlt. So funktioniert flüchtiges Denken, wenn es eine provisorische Ordnung schafft. Bevor Hagman in Salzburg eintraf, hatte er anderswo schon gesagt, dass er aus der Serie ausscheiden und die Serie ihr Ende finden werde. In Wien hatte der auf Werbung bedachte Bacher Neuerungen im Fernseh-Programm angekündigt. Für die simple Nachricht, dass Hagman in Salzburg gelandet war, wählte der Journalist den Titel: „J.R. gibt sich die Mozartkugel“.

Das Ineinanderschieben von verschiedenen Bedeutungen in die Form eines Satzes bringt auf den ersten Blick Kurzweil und Spaß. Der Leser „knackt“ die Überschrift durch die genaue Lektüre des Beitrags und wird durch ein „Aha“ belohnt. Auch kann der Journalist annehmen, dass der Leser die besagte Seite nicht überblättert. Doch auf den zweiten Blick bleibt es offen, ob Hagman als J.R. sich in der Serie erschießt oder ob Hagman als Privatperson in der Mozartstadt Mozartkugeln isst. Der flapsige Titel intendiert zwar beide Sachverhalte, der Text präzisiert aber nichts, löst keinen der Sachverhalte ein. Er erweitert nur die Bedeutung eines ursprünglichen Sachverhalts durch Assoziation.

Der Journalist erregt die Aufmerksamkeit des typischen Zeitungslesers, der den Text lieber überfliegen als lesen will. Niemand gab dem Journalisten extra Geld, dass er in der Zeitung die Ankunft des Schauspielers werbesprachlich meldete. Trotzdem trieb der Journalist diesen Aufwand. Wenn er plötzlich wie ein Kabarettist formuliert, kann das den echten Kabarettisten verärgern. So wollte Hans Peter Heinzl einen Satz wie den folgenden in einer Zeitung nicht lesen: „Wien ist, wo am 10. November der anständige Bürger in die Zelle wandert.“ Der Autor dieses Satzes, sagte Heinzl sinngemäß, war entweder noch nie im Häfen oder er hat noch nie einen Stimmzettel eingeworfen. Und er hat Recht. Mit welchem Recht unterschlägt ein Profischreiber die totale Unähnlichkeit einer Gefängniszelle mit dem Wandschirm in einem Wahllokal?

Der Reporter – Journalist versteckt nicht nur sein Nachdenken, er verlängert – oder vernebelt – auch den Weg zum Sachverhalt. Das macht er durch sprachliche Bilder und durch indirekte Aussagen. Dabei soll er aber – für den typischen Zeitungsleser - die leichte, die schnelle und die unterhaltsame Lektüre bieten. Welcher Art ist der Journalist, der den Satz „Wiesenthal durchlitt ein Wiesen - Tal der Depression“ geschaffen hat? Dieser Journalist ist nicht dumm, sondern tückisch. Er erklärt nämlich, dass es dem Leser egal sein soll, was es mit dem Gemüt von Simon Wiesenthal – während der Angriffe durch Bruno Kreisky – auf sich hatte, er solle nur die Zeitung nicht weglegen oder beim Überfliegen innehalten. So erzeugt er absichtlich Worte wie „Husum hat Pickel“, „Der Film ist wie eine Schusswunde“, oder „Madonna ist der große Trendstaubsauger“.

Die Buntheit des Boulevards wird durch eine Sprache geschaffen, die im Zweifelsfall die Mehrdeutigkeit des Wortes wählt. Sie entsteht auch durch die Anordnung der Texte auf einer Seite. Beispiele aus zwei Boulevardzeitungen, vom 11. Juni 2018. Die Zeitung „Österrreich“ stellt den Titel „U – Haft für Susannes Killer“ neben den Titel „Trump trifft morgen Kim“. Doch der irakische Mädchenmörder, der im Nordirak verhaftet und im Flugzeug nach Deutschland gebracht wurde (damit er dort den Prozess bekommt), hat mit Trump nichts zu tun, der sich auf den „kleinen Raketenmann“ schon freut. Die Unverbundenheit der zwei Nachrichten wird durch den Begriff „Welt“ im oberen Streifen der Seite quasi aufgehoben. Das geschieht auch durch den Begriff „Society“ - auf einer anderen Seite. „So startet Gabalier seine Tour“, heißt es da, und darunter steht: „David & Victoria Beckham: Folgt nun die Scheidung?“. Es hat aber der Auftritt von Gabalier im Münchner Stadion, das er füllen will, keinen Zusammenhang mit den Beckhams, die einer Zeitung erklärt haben, sie würden über ihr Ehe-Aus nichts sagen, solange der Scheidungsrichter nicht gesprochen hat.

Die besagten Nachrichten übersteigen riesenhaft die Wirklichkeit des normalen Lesers. Beide Nachrichten sind für ihn exotisch und mehr als das. Ein irakischer Psychopath flüchtet in seine Heimatstadt Zakho, wo ihn die Polizei aus dem Bett holt, damit er in der Stadt Erbil ins Flugzeug steigt, das ihn nach Deutschland bringt. Sowie: Der arge Kim wartet schon in einem Hotel auf der Insel Sentosa auf den argen Trump, der sich noch auf Paya Lebar - Singapur befindet, wo er sich selbst für eine Absicht lobt: er will die Verhandlungs-Chance auf Sentosa nutzen.

Würde hier zum Beispiel ein Dichter sagen, diese Zusammenstellung der Nachrichten schiene ihm wirklicher als sein eigenes, tägliches Leben, so dürfte man ihn als ein „Opfer der Literaturideologie“ bezeichnen. Diese schätzt ja die Wirkung von Wissenschaft, Medien und Internet auf den Einzelnen so hoch ein, dass dieser die Einsicht in sich selbst und die in seine Umwelt gar nicht mehr präsentieren soll. Der besagte Dichter würde vergessen haben, dass jede Wirklichkeit erlebbar sein muss. All diese bunten und exponierten Typen, die den Boulevard bevölkern, hohe Politiker, verwirrte Mörder, Konzernchefs, Extremsportler, Pornodarsteller, Millionenerben, Transvestiten sowie der Papst und der Dalai Lama sind für den normalen Leser völlig irrelevant. Sie leben in Welten, die er nicht erleben kann.

Die zweite Zeitung, „Heute“, bringt in einem Kasten auf Seite 2 folgende fünf Artikel: „Schüler bespritzt Lehrer mit Wasserpistole - Haft“, „Vor Parteitag: Hotels sperren AfD – Politiker aus“, „Mittelmeer: Über tausend Flüchtlinge gerettet“, „Tokio: Todesopfer bei Messerattacke in Zug“, „Landshut: Brand in BMW – Werk – drei Verletzte“. Diese fünf, unalltäglichen Meldungen hängen miteinander nicht zusammen, sind aber durch einen Titel gebündelt. Er lautet: „Mehr Welt auf heute.at - News Flash“. Die Titel sind so geschickt gewählt, dass sie die, jeweils nachfolgenden, vier Zeilen Text in sich enthalten. Die Substanz der Nachricht soll im Titel geborgen sein. Für den Leser entsteht beim Wechseln von einem Artikel zum andern eine Pseudo-Souveränität. Er durcheilt die Welt, so wie man eine Check-Liste durchgeht, wo man die Personen oder die Dinge nicht auf ihren Inhalt, sondern nur auf ihre Anwesenheit hin prüft. Das Spiel der schnellen und scheinbar genauen Information spielt die Zeitung „Heute“ unter allen ähnlichen Zeitungen vielleicht am besten.

„Heute“ ist kunstfertig, doch ihre Mini – Artikel generieren manchmal ein Halbwissen, dessen sich der Leser nicht bewusst ist. Auf Seite 3 lautet ein Titel „Warum fehlte Prinz Philip bei der Parade?“ Und der Text lautet: „Philip schonte sich bei der Geburtstagsparade der Queen für seinen 97. Geburtstag am gestrigen Sonntag. Dafür fiel der Inder Charanpreet Singh Lall mit Turban auf.“ - Der Journalist hatte das Bild vom Turbanträger und wollte etwas über das Alter des Prinzen sagen. Ohne es zu wollen, öffnete er eine Frage: Der Inder ersetzte Philip als einen Paradierenden, also wäre der Prinz mitmarschiert. In seinem Alter? - Egal, würde der Journalist sagen, ich wollte die Banalität nicht zeigen. Deshalb sagte ich nicht: Als Philip fast 97 Jahre alt war, gab´ s in London diese Parade, deren Bild wir zufällig haben, bei der er aber nicht dabei war.

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Entschleunigung inmitten von Verkehr: Yoga – Übende in Manhattan, NYC

Der Boulevard ist heute besser gemacht denn je, aber er täuscht die Bedeutung einer Sache und die Konnexität verschiedener Sachen immer noch vor. Er fördert nicht die Dummheit, aber doch die Oberflächlichkeit beim Leser. Und er beschleunigt die Lektüre. Der Einzelne sollte wieder stärker auf die eigene Wirklichkeit fokussiert sein, egal was die Ideologen behaupten, denn es geht um ein Gegengewicht gegen die Boulevardisierung des Kopfes. Diese bringt Spaß und – da und dort – sogar schnellere Resultate, aber sie behindert das halbwegs klare Denken. Der Einzelne sollte lieber den Zusammenhängen im eigenen – und im fremden – Leben nachgehen, als ganz dem Wissen der Wissenschaft zu entsprechen und ganz die Welt-Nachrichten zu glauben. Das Eigene ist vielleicht unbunt und fade, aber es hat in jedem Fall mehr echte Konnexität als jede Zeitung.

© M.Luksan, September 2018

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