Der an sich wichtige Literaturbetrieb ist heute eine Welt der Sprüche,
der Events und des Marketings, der sich vom Servicebetrieb für
Buchleser und Buchautoren entfernt hat. Der Betrieb macht auf
unverkäufliche Bücher aufmerksam (G. Rühm), aber auch auf Bücher,
die nur billige Bestseller sind (J.M. Simmel) und verwendet für beides
die gleiche Aufreißersprache der Werbung, wie sie überall praktiziert
wird. Die Lobreden sind von den Klappentexten nicht zu unterscheiden.
Es loben Verleger, Lektoren, Redakteure, Kritiker, Politiker, nur selten Kulturwissenschaftler, und sie schwatzen von „großer Form, die beglückt“,
vom „Meister aller lebenden Romanciers“, vom „schönen Buch, das
durch seine Sprache besticht“, vom „intelligentesten Spannungsroman,
der je geschrieben wurde.“
Liest man in der Buchhandlung in einem dieser Bücher, etwa drei
Minuten lang, ist man in der Regel enttäuscht. Wie konnte der Redner
zu diesem Lobgesang gelangen? Die Sprache besticht nicht,
die Intelligenz blitzt nicht, die große Form teilt sich nicht mit. Sie
kann es nicht, weil die Sätze zu leer sind, zu sehr in sich selbst
versponnen, weil nur die kleine Form da ist. Das ist jene, wo das
Durchmurmeln den Text mitformuliert hat (die Rhythmisierung).
Eine dünnepische Prosa erkauft sich diese kleinliche Formbewusstheit
um den Preis semantisch schwacher Sätze. Der Betrieb gibt
selten reife Urteile ab, er verleiht lieber vorformulierte Prädikate.
Der Betrieb ist keine geschlossene Institution, er ist ein Konglomerat.
Ein Kooperationsverbund von Vereinen, Akademien, Literaturhäusern,
Medien und Stiftungen, der für das Buch eine löbliche, zusätzliche
Öffentlichkeit erzeugt, die der Buchhandel allein nicht schafft.
Aber auch hier gilt, was für jeden Privatverein gilt. Der Verein kann
nur so gut sein, wie die besten seiner Mitglieder sind. Elisabeth Borchers
war ein Mitglied des Betriebs. Sie war zuerst nur Lektorin, die als
Lyrikerin für ihre Arbeit gut geeignet war. Erst bei Suhrkamp, als
sie zur Beraterin von Siegfried Unseld aufstieg und schon eine Menge
Manuskripte von später bekannten Autoren durch ihre Hände
gegangen war, trat sie über ihren Arbeitsplatz hinaus in den
Betrieb ein und gehörte verschiedenen Jurien an.
Diese Frau hatte eine größere sprachliche Kompetenz als die meisten
ihrer Kolleginnen und Kollegen im Betrieb und sie hatte einen besseren
Überblick als diese, zumal sie nicht bloß fertige Werke gelesen,
sondern an deren Fertigstellung gleichsam mitgearbeitet hatte.
Sie wäre geeignet dafür gewesen, die öden Prädikate und
die platten Sprüche der populär sein wollenden Gremien in Richtung
auf den idealen Betrieb hin zu überwinden. Damit ist ein Betrieb
gemeint, der die Urteile nicht vorkaut und der nicht Rankings für
Qualitätsunterschiede macht (so wie sie für Restaurants, Hotels und
Fluglinien sinnvoll sind), sondern der eine möglichst große Zahl von Damen und Herren der Literatur präsentiert und das Publikum
selber für die Beurteilung reif macht und es dazu ermuntert.
Um das Publikum aufzuwerten, war aber Frau Borchers zu
brav und zu loyal und sie fühlte sich außerdem als ein Mitglied
der Elite für Sensibilität und Sprachgenauigkeit. Sie gehörte zu
jenem Typus von Juror, der durch das ständige Achten auf feine
Unterschiede sich eines Tages vom gröberen Publikum abgetrennt
fühlt und an die gelingende Kommunikation mit diesem nicht mehr
glaubt. Das Aristokratische von Frau Borchers betont Martin Lüdke
in seinem Nachwort. Halb war sie Dame, halb neigte sie zur
Übertreibung. „Sie hatte nichts Zögerliches, war schnell mit einem
Urteil zur Hand und konnte kompromisslos unbarmherzig verdammen,
was ihr missfiel (…) Sie konnte auch, zuweilen hemmungslos,
schwärmen.“ (In: E. Borchers, Nicht zur Veröffentlichung bestimmt,
Frankfurt a. Main, 2018, S. 163)
Der Betrieb präsentiert die Werke mit Hilfe von Übertreibung. ZB.
Marcel Reich – Ranicki gab einst dem Lektor des Paul List Verlages
den Rat, er möge bei Buchrezensionen die Zwischentöne vermeiden.
Färben Sie das Gute, sagte er sinngemäß, und das Schlechte kräftig ein,
sonst wird Ihre Kritik gar nicht gelesen! So hat sogar dieser Kritiker
und Mentor der Literatur, der dem idealen Betrieb in punkto Offenheit
und Rationalität nahe kam, sich durch die – gewollte – Grobschlächtigkeit
seiner Sprache vom Ideal entfernt.
Durch Dazugehören kann außerdem Einäugigkeit entstehen. ZB.
Joyce Carol Oates erinnert sich in ihrem Witwenbuch „Meine Zeit
der Trauer“ an eine subalterne Staatsbeamtin, die ihr gegenüber
den Beruf der Schriftstellers verächtlich ansprach und sie dadurch
ängstigte. Die Humanität schien ihr ganz verloren. An anderer
Stelle ihres Buches schreibt die Oates locker und naiv von der
ekelhaften Unart unbekannter Autoren, sie als berühmte Autorin um
einen Rat oder um ein Vorwort zu bitten.
Der Betrieb behandelt Werke und Personen, die er schon einmal
gewürdigt hat, weich und nachsichtig, während er Werke und
Personen, die noch nicht dazugehören, mit Härte und Ignoranz
belegt. Er achtet auf eine schroffe Trennung von Drinnen und Draußen,
die man normalerweise nur bei Kirchen, Firmen oder Parteien
findet. Das schafft ein Paradox, denn der Literaturbetrieb präsentiert
sich als ein Bereich, der auf Gespräch und Mitmenschlichkeit
größten Wert legt.
Ferner beachtet er Geschmacksnormen oder Grundsätze,
die die kreative Arbeit einschränken. Diese Grundsätze stehen
nirgendwo geschrieben, weil ja die Forderung nach Kunstautonomie
gleichsam ein Gründungsstatut des Betriebes ist. Doch die
Lektoren und Juroren beachten sie gleichwohl und manchmal werden
diese Prinzipien bei einem Wettlesen oder bei einer Buchmesse als
Spruch an die Wand geheftet: Schreib dich frei - Mach es neu -
Change Your History – Nach innen führt dein Weg – Dein Denken
interessiert uns nicht - Außenwelt hast du nicht - Erklär uns nicht
die Welt – Erspare uns jede Utopie – Du hast nur die Sprache -
Nimm sie nicht zu ernst. - Das sind riesige Einschränkungen, die man
der Kunst nicht vorschreiben kann.
Elisabeth Borchers hatte eine Literatur vor Augen, der eher P. Handke
als M. Walser nahe kam, trotzdem war sie auch gegenüber
Walser sehr loyal (wie gegenüber allen, die sie als Lektorin betreute).
Sie war auf Seiten von Walser, als dieser wegen seiner Friedenspreisrede
1998 nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Verlag absank.
Er „las 'In Goethes Hand´, anschließend in die Lindenwirtschaft und
dort ein Ende des Genusses. Burgel eröffnete Walser, er sei auch im
zweiten Klassiker – Reden – Band nicht aufgenommen. Walser verlässt
heiß empört das Lokal (…) Ein elender Kotau vor Bubis, eine tiefe
Verletzung Walsers, eine Missachtung sondergleichen“ (E.B., a.a.O.,
S. 65)
Sie war loyal und beachtete die Trennung von Drinnen und Draußen.
Gerade deshalb wunderte sie sich über die Härte des Verlags
gegenüber Walser. Sie leistete sich aber ein eigenes Denken,
das nicht erst mit dem Schreiben ihrer Autobiografie (1999)
begann: „Wohin man schaut und liest: Hochstapelei. Selbst in den
oberen Rängen, selbst in den Logen. Man kommt nicht umhin,
vor sich selbst zu erschrecken, wie dreist man (ich meine mich)
zugestimmt hat, wohl wissend, dass es sich um Machwerke handelte.“
(E.B.,a.a.O., S. 18)
Wegen dieser und ähnlicher Zeilen schalteten die Rezensenten
des Borchers´ schen Erinnerungsbuches die psychologische Abwertung
ein. Sie sahen die Bitterkeit der zu kurz gekommenen Künstlerin
am Werk. Frau Borchers stilisierte sich aber eher bei ihrer eigenen
Einsamkeit als bei der Hohlheit des Betriebs. Wenn sie über den
Betrieb spricht, resumiert sie überaus knapp die ihr immer schon
bewussten Widersprüche, die sie möglicherweise schon einmal
formuliert hatte. ZB. wenn sie an die „Orte“ von M.-L. Kaschnitz denkt,
die sie textlich fast halbierte, ehe sie erschienen und Lobeshymnen
für die Kaschnitz erbrachten. Oder wenn sie an Andre Kaminski
denkt, der einfach keinen passenden Titel für ein Hauptwerk fand,
sodass sich die Borchers den Titel ausdenken musste („Nächstes
Jahr in Jerusalem“).
Frau Borchers verschweigt die Eitelkeit nicht, die man nicht nur beim
Chefverleger (SU = S. Unseld) und beim Starkritiker (MRR = M.
Reich – Ranicki) findet, sondern auch bei jedem Autor und bei jeder
Autorin. Eine halb ärgerliche, halb natürliche Eigenschaft jener
Personen, die für wenig Geld die Sprache für Geist und Schönheit
verdichten. Siehe A. Camus, der „Beruf der Eitelkeit“. Im Unterschied zu
einem Lehrer, Schlosser oder Brückenbauer achtet ja der Künstler
auf seine Wirkung in der Öffentlichkeit. Er nimmt sie zu ernst und leidet
unter jeder Missachtung und Hintanstellung. Frau Borchers verschweigt
ihre eigene Eitelkeit nicht, wenn zB. SU vergass, sie zu seinem
Heringsschmaus einzuladen, oder wenn er sie zur Party der Kaschnitz
mitschleifen musste, weil die Kaschnitz sie nicht eingeladen hatte.
Die Borchers hat in ihren unvollständigen Memoiren weniger das
Bild einer gekränkten und verbitterten Frau gezeichnet, als das einer
stolzen und nüchternen Person. Sie hat Indiskretionen begangen
betreffend gewürdigte Personen, indem sie Pfuschereien, Irrtümer und
Hohlheiten des Betriebs mitteilte. Die Leute sind halt meist nicht so gut,
wie sie in der Öffentlichkeit erscheinen. Auf diese Wahrheit hat Frau
Borchers bestanden. Leider hat ihr Buch (sie konnte es nicht überarbeiten)
für die Botschaft die richtige Form nicht gefunden. Sie hat die Welt der
Unwahrheiten mit der Welt der Einsamkeit (ihrem privaten Ich) vermischt
und so die Botschaft abgeschwächt. „Schon oft“, schrieb sie, „habe
ich gedacht, ohne dieses Papier und diese Maschine gäbe es kein
Leben mehr. Vater tot, Mutter tot, die Söhne anderswo, die Liebe
nicht auffindbar“ (E.B., a.a.O., S. 145). Ihr lakonischer Pessimismus
ist damit belegt. Für den Leser des Buches bleibt jedoch die Frage
offen, ob die Borchers, eine Frau ohne jede Lobby, eine heimliche
Außenseiterin gewesen ist.
© M.Luksan, November 2018
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