„Die Straße“ von Andreas Maier. Ein Bürgerkind besucht das andere
zu Hause und sieht dabei den Halbwüchsigen mit der Mutter im Bett
liegen, „eng umschlungen, wie ich später mit Frauen dalag.“ Das
ist in den schönen Orten der hessischen Wetterau genauso
allgemein und weit verbreitet wie das Grapschen der Väter.
Behauptet der aufgeweckte und halb scheinheilige Icherzähler
des Buches, der die vielen Grapscher der Männer bei ihren Töchtern
nicht übersehen kann. „Es gehörte zum Leben der Väter dazu,
die Mädchen immer wieder zu berühren“. (A.M., Die Straße,
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2015, S. 18 u. 19) Das Buch
ist ernst gehalten, deshalb stört den Leser diese unklare Ironie.
Na wenn´ s dazu gehört, könnte er sagen, braucht es der Autor
nicht anzuklagen.
Das Doktorspiel kommt hier nach der begehrlichen Mutter und dem
begehrlichen Vater. Das wird aber vom Leser nicht als unlogisch
empfunden, weil eine Art von Nachdenken sämtliche Vorkommnisse
dieser Erzählung synchronisiert. So kann Maier ein Erlebnis überall
dort erzählen, wo er den dazu gehörenden, allgemeinen – und
verallgemeinernden - Gedanken ausdrückt. Thomas Bernhard lässt
grüßen. Die Erinnerungen an das Doktorspiel sind eingebettet in ein
polemisches Nachdenken, ohne Understatement und ohne Humor,
über Doktorspiel. Etwa so: „Es waren immer nur Mädchen, die sich
überall gegenseitig Dinge hineinsteckten und wieder herauszogen (…)
Für diese Momente waren die Mädchen immer wie ausgetauscht (…)
Diese Augen erglänzten dann in einem aufgeregten, geradezu
fiebrigen Lächeln (…) Alles hatte eine völlig Eigene, unbezwingbare
Logik, und in ihren aufgeregten Momenten, während diese Logik
galt, war alles selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders
sein (…), als dass jetzt dieser Finger vorne oder hinten in das
betreffende Mädchen hineinkommt, so schnell es geht und so tief
es geht“ (a.a.O., S. 23 und 25)
Der Stil von Bernhard wird hier nicht auf die tödlichen Momente
des Lebens angewandt, sondern auf den erwachenden, den
heimlichen und den verbotenen Sex. Für den Sex ist aber
die beschworene Gleichheit des Menschen nicht ganz so evident
wie für den Tod. Es sind viele Einzelne denkbar, die den Sex als
banal, als nur physisch erregend, als nur flach befriedigend, ja
sogar als ärgerlich erleben (obwohl der Sex die meiste Zeit ihres
Lebens tatsächlich präsent ist, indem er schlummert). Wenn
man diese Einzelnen in Rechnung stellt, vielleicht als eine
schweigende Mehrheit, so kann man die große Bedeutung von Sex
nicht für alle Bewohner zB. der Wetterau behaupten. Dennoch
formuliert Maier: „Es gehörte zum Leben der Väter dazu, die
Mädchen immer wieder zu berühren (…) es gehörte zum Leben der
Mädchen dazu, diesem immer wieder aufs Neue ausgesetzt zu
sein (…) zum Leben der Ehefrau gehörte dazu, einen Mann
neben sich zu haben, der sich in solchen Handlungszusammenhängen
mit der eigenen Tochter und den anderen Mädchen befand“
(a.a.O., S. 19)
Maier denkt einseitig über seine Themen nach. ZB. Th. Wolfe
entfaltet in seinem Entwicklungsroman „Schau heimwärts Engel“
die Vitalität seiner Hauptfigur im ständigen Wechsel von Licht und
Schatten. Er gestaltet die persönliche Beziehung zur Mutter und
das Erwachen der Sexualität, die ersten Erfolge durch Kreativität
und die Furcht vor Benotung und vor Mobbing durch die Gruppe,
die Erfolge beim Lernen und die sexuellen Anwandlungen
angesichts attraktiver Frauen. Er lässt nichts aus, was konstitutiv ist
für das Leben von Eugen Gant. Die Vollständigkeit der Welt
des Unerwachsenen ist Maier aber nicht wichtig. Er braucht für
die Schilderung der angeblichen „Schwärze“ der Welt eine
generelle Miserabilität der Welt, zumindest in punkto Sex. Deshalb
schreibt er die Geschichte einer Jugend vom Doktorspiel über das
Auftauchen der sog. schmutzigen Wörter über das Opfer eines
Pädophilen bis zum alten Onanisten (den er scheinheilig von der
Denunziation sämtlicher Figuren ausnimmt) als die Geschichte
einer schwarzen Legende, wo nur ein einziger, nämlich das
Erzähler-Ich, für die schlecht verborgene Sexualität eine Sprache
hat.
Aus folgendem Grund ist der Icherzähler nicht ganz plausibel:
Er stellt seinen Finger für die Doktorspiele zur Verfügung,
er erlebt den geschändeten Buben monatelang im Haus
seiner Eltern, und er besorgt dem Onanisten die Heftchen mit
den nackten Frauen, aber er ist nur verwundert und überrascht
über diese unfromme Welt. Dieser kühle Mitspieler und
Beobachter ist nirgendwo lustvoll involviert. Geschockt ist er
auch nicht. Trotzdem eine Verwerfung: „Ein Großteil dessen, was
ich hier schreibe, hat lange Zeit nie existiert, auch die Kinderärsche
nicht, auch nicht mein Finger in diesen Ärschen, nicht, dass ich
mich zur der Mutter ins Bett legen sollte.“ (a.a.O., S. 178)
So erinnert sich der Autor lange Zeit an nichts, ehe dann
ein Buch über dieses Thema nötig wird und die Erinnerungen
aktiviert werden.
Verbotener Sex angeblich in Fachwerkhäusern.
Erst viele Jahre später macht sich der Autor seine Gedanken.
„Es handelt sich, kurz gesagt, um die Geschichte der Maschinisierungsgrade unserer Sehnsucht. Erst ist es namenlos, später
nennen sie es dann Liebe oder Perversion oder Glück oder
Verbrechen (…) dabei ist es nur die zunehmende Maschinisierung
der Sehnsucht. Die ganze Wetterau war ja ein Sehnsuchtsgebiet.“
(a.a.O., A. 179) Das ist hoch akademisch und zugleich a la Bernhard
formuliert. Maier liefert hier ein Bekenntnis: „dabei bin ich von der
Kirche, der Schule, den Schriften um mich herum, aber auch von
den Gesprächen (…) immer nur dahingehend instruiert worden, dass
der Mensch eine Person und ein eigenständiges Wesen und
intelligent und seiner selbst bewusst und für sich selbst und die
anderen verantwortlich und so weiter sei“ (a.a.O., S. 179) Doch
die Triebe sind stärker und ein Bild vom Menschen braucht man
sich – laut Maier - nicht zu machen.
Die hier geäußerte Kritik berührt die Könnerschaft von Maier
nicht. Er ist ein Autor, der den Fokus seines Themas nie
verliert, der rhetorischen Schwung ganz leicht erzeugt und der
die Länge einer Szene immer trifft. Gerade deshalb ist es
schade, dass er eine Episode nicht narrativ und nicht mit
allen Details erzählt, sondern sie analysiert und durch Bilder
illustriert (durch Bilder, die zitieren, nicht darstellen). Die Suche
der Bürgerwehr nach dem Exhibitionisten ist eine Ausnahme.
Sie ist plastisch und voll mit schwarzem Humor, weil sie narrativ
und nicht schematisch erzählt ist wie die Episode mit John
Boardman. Dieser wird als sehr dick, immer in der Küche
und immer essend beschrieben, sodass er als Trauma – Fresser
im Kopf des Lesers irgendwie entsteht. Er soll aber einen
„Hang zur Dialektik“ gehabt haben, den man sich nicht
vorstellen kann – er ist nirgendwo dargestellt.
Die ersten sexuellen Regungen, Bilder, Wörter, Situationen
sind ein würdiges Thema. Aber man muss als Autor unbedingt
wissen, wo man über sich selber und wo man über
Gehörtes schreibt. Man kann dann die Betroffenheit, die man
selbst verspürt hat, widerspruchsfrei darstellen. Gegen diese
Sorgfalt hat A. Maier in seiner kunstvollen, aber halb
unehrlichen Erzählung verstoßen. Für die Sexwelt eines
Unerwachsenen will er damals keine Sprache gehabt haben,
doch seine Vorstellungskraft arbeitete auf Hochtouren:
„Ich stellte mir den Reichelsheimer bzw. Wölfersheimer
vor, wie er seinen Schwanz in Johns Arsch hineinschob, ich
stellte mir Johns leeres Gesicht währenddessen vor, und all
das war die Geburt dieser seltsam verklärten, seltsam kaputten
Person.“ (a.a.O., S. 182) Wie das bei Sensiblen halt so ist,
waren Bild und Sprache immer schon im Spiel.
© M.Luksan, März 2019
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