Als Jack Unterweger zum ersten Mal verurteilt wurde (1976), war das
Knastschreiben ein Trend. Es war der gut gemeinte Versuch, die
Milieuprägung eines Kriminellen aufzuheben und diesen frei zu
machen für die Normalität. Sein Ich sensibler zu machen. Sein
Bewusstsein zu erweitern. In einer Zelle ist das nicht leicht zu
bewerkstelligen, deshalb führte man Lesezirkel, Häfenzeitungen
und Schreibkurse ein, die von außerhalb geleitet wurden. Das
„Genie“ von Unterweger lag nicht in der poetischen Begabung,
sondern in der Anwendung von Sprache und expressivem Verhalten
zum Zwecke der Manipulation von Menschen. Er brachte es in
der Kunst des Schreibens nicht sehr weit, erlernte nur die
Grundlagen und wandte sie im Sozialbereich sofort an. Er war
wie jemand, der dauernd Sprüche auswendig lernt, um für jede
Gesprächssituation einen Spruch zu haben und eine gesellige
Runde zu dominieren.
Im Häfen begann er nicht mit Harter – Männer – Literatur, sondern
mit „Gutenachtgeschichten“ für das ORF Radio. In Anpassung an seine
frühen Förderinnen Sonja Eisenstein (Kinder – und Märchenliteratur)
und Marga Frank („Betthupferl“ - Sendungen). Wichtiger als das
Schreiben von Gedichten, Dialogen, Prosa und Tagebuch war
ihm das Briefeschreiben an die Promis. Seine prominenten
Adressaten kannte er im Grunde nicht, aber er beherrschte sofort
die Tricks, wie man ihnen schmeicheln und die eigene, karge
Welt rührend vor Augen führen konnte. Er schrieb über seine
Weltlosigkeit wie ein Kind und über die zweite Chance in seinem
Leben wie ein Geläuterter. Sein Verbrechen schilderte er in
der Sprache der Psychoanalyse. Mit jedem Promi, der ihm
antwortete, mit jedem Buch, das er veröffentlichte, mit jedem
Häfenurlaub, der ihm gewährt wurde, warb er für sich selbst und
vergrößerte er seinen Erfolg.
Die österreichische Medienöffentlichkeit ist kein Ort der reinen
Argumente, genauen Vorwürfe und genauen Rechtfertigungen,
der Einzelne wird hier nicht streng gewogen und gerecht beurteilt.
Sie ist stattdessen ein theaterhafter Ort, wo ein Sünder
Nachsicht und Milde für sich erwarten darf, so er sich nur richtig darstellt.
Unterweger fälschte die zwei Taten, die er vor seiner
ersten Verurteilung begangen hatte, zu einer einzigen Tat um,
und erfand sich selbst als Affekttäter. Er wollte Spielball seiner
eigenen Destruktion gewesen sein, ein Blackout gehabt haben,
die Tat nunmehr bereuen. Für die Glaubwürdigkeit des
Affekttäters musste er die Souveränität verneinen. Er behauptete
dass er Souveränität nie erlangt hätte und in Zukunft auch nicht
anstrebe. Ihm ginge es um Frieden, Anerkennung und Normalität,
man müsse nur den wirtschaftlichen Druck von ihm wegnehmen.
Er schrieb humanistische Kulturschaffende an. Die nähere Tätigkeit
eines jeden Promis lernte er durch Radiohören und Zeitungslesen –
im Gefängnis - kennen. Dabei beachtete er die Regel, dass die
helfende Person möglichst autonom sein und nicht auch für
eine Partei oder Interessensgruppe stehen sollte. Ideal war
Günther Nenning. Auch bei Peter Huemer war der Nimbus des
Autonomen wichtig, dass er etwa kein Erfüllungsgehilfe von
Gerd Bacher war. Bei Ernest Bornemann spielte die Sexualforschung eine Rolle. Ferner schrieb er Schauspielerinnen an, die
erotische Rollen gespielt hatten (Marisa Mell, Erika Pluhar). Seine
Einsamkeit beim Schreiben teilte er österreichischen Dichtern mit,
von denen er annahm, dass sie isoliert waren und die Welt außerhalb
ihrer Werke kaum kannten (Milo Dor, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek).
Jedes Ja, das ihm hier ein Promi gab, durfte Unterweger als ein
Ja der österreichischen Medienöffentlichkeit deuten.
Zu seinem Täterbild hinzu erfand er die Mutter als professionelle
Hure. Diese falsche biografische Angabe hätte Peter Huemer
überprüfen sollen, bevor er das Unterweger - Interview in Stein
machte. Er übernahm unwahre Behauptungen aus dem Mund
des Häftlings ganz ergriffen und ließ sich mehrmals zu falschen
Fragen verleiten (die Mutter hassen, mit der fremden Frau die
eigene Mutter töten u.a.). 1991 setzte Elisabeth Scharang in einer
anderen Radio – Sendung die Sicht von Huemer fort und
formulierte eine falsche Alternative: „Hat Unterweger den Mord
wegen 130 DM und einem Pelzmantel begangen, oder war es ein
plötzliches Blackout, in dem jahrelang aufgestaute Aggressionen
gegen die Mutter frei geworden sind?“ (J. Leake, Der Mann aus
dem Fegefeuer, München 2010, S. 103) Sie verfolgte auf
diese Weise die falsche Spur weiter, die Unterweger selbst gelegt
hatte. Ein englischer Journalist, John Leake, überwand als
erster diese lahme Unterweger – Aufklärung in Österreich durch
ein vollständiges Porträt des Mörders.
Jack Unterweger.
Unterweger war schlau und intellektuell zugleich. Er hätte
ohne diese begriffliche Auffassungsgabe, die er auf keiner
Universität hatte schulen können, vielleicht auch Wirtschaftskapitäne
angeschrieben. Dann hätte er übersehen, dass der Wirtschaftskapitän
für den leidenden Einzelnen gar keinen Begriff hat. Vor solchen
Fehlern warnte ihn sein Intellekt. Auch das Sagbare und
das Unsagbare für seine Rolle als Täteropfer in der Öffentlichkeit
waren ihm bewusst. Er hat zum zB. die pauschal begründete
Ablehnung seiner Person durch eine genaue Gegenkritik der
Vorurteile nirgendwo beantwortet. Das wäre öffentlich
schlecht angekommen. Er führte das Nein der Journalistinnen
Eva Deissen und Marga Swoboda zu seiner Person nicht auf
deren Nähe zur Kronen Zeitung zurück, sondern auf deren angebliche
sexuelle Unbefriedigtheit. Diese einfache und derbe Reaktion wies auf seinen Mythos als Frauenbefriediger hin.
Der Sex als die wahre Leidenschaft von Jack Unterweger, der
so gerne lieben wollte, aber leider durch Traumata daran gehindert
wurde, war ebenfalls eine Fiktion. Der Mord von 1974 war nicht
nur keine Tat im Affekt, er war auch kein Sexualmord, er war
ein in die Länge gezogenes, unaussprechlich Drittes. Dieser
Mord als Lust am Mord, bei dem die Sexualität wirkt, aber
nicht praktiziert wird, war die heimliche Welt dieses schmal
gebauten und nachdenklich wirkenden, kleinen Mannes mit
dem Bubengesicht. Der Psychiater Reinhard Haller hat diese
Welt schon vor Jahren gut beschrieben. Sie war nicht ganz
unbekannt, als Unterweger in die Öffentlichkeit eintrat.
So war viel Ignoranz im Spiel, wenn die verschiedenen
Unterweger – Förderer und die verschiedenen Radio- und
Filmemacher die Gerichtsakten von 1976 einfach nicht lasen.
Die 1991 begangenen Morde schließen an den Mord von 1974
an: durch die Art des Opfers (junge Frau), durch den Tathergang
(sadistische Tötung, nach vorhergehender Fesselung) und
durch den Zustand der Leiche (keine koitalen Spuren im
Körper des Opfers). Grauenvoll und expressiv war 1991 die
Deponierung der Leiche in einem Waldstück oder in
einem Bachbett. Leake schreibt: „Füchse hatten das Fleisch ihres
rechten Beines weggefressen (…) Er (der Mörder, Anm. M.L.)
hatte ihr Gesicht in den Dreck gedrückt, ihre Beine gespreizt
und ihr Hinterteil so gedreht, dass Anus und Genitalien der
Frau den Beobachter direkt ansahen.“ (D.L.; a.a.O., S. 39 f.)
Unterweger verachtete nicht nur seine Opfer, auch die ganze
Gesellschaft. Er hatte die Entdecker der Leiche erschrecken wollen
und mit ihnen jenen Teil der Menschheit, der zu einer solchen
Tat nicht fähig ist, durch Spott herausgefordert.
Eine bestimmte Society hatte Unterweger aus dem Gefängnis
geholt, seinen Erfolg als Dichter aber nicht garantiert. Jetzt war
er herausgehoben aus der Anonymität, aber wirtschaftlich
ungesichert. Er stand unter materiellem Druck. Die Journalistin
Margit Haas hat die soziale Versagensangst bei Unterweger
bemerkt. Der ORF tat, was er konnte, aber es war zu wenig.
Unterweger selbst sah sich am unteren Ende der Gesellschaft
und nahm das absolut nicht hin. Da fand er in die Souveränität des
Serienmörders zurück. Fremde Personen töten, ohne dass man
einen materiellen Gewinn hat oder ohne, dass man Rache übt,
ist nur bei Sexualtätern und bei Geistig Verwirrten üblich.
Ausnahme: der Mordlust – Täter. Er will die Todesangst in den
Augen seines Opfers sehen und eine Zeitlang Herr über Leben
und Tod sein.
Diese schreckliche Souveränität, die abgelöst von Gewissen,
Mitgefühl, Zehn Geboten und ethischem Empfinden auf
primitive Art gefunden wird, hat Jack Unterweger für die Ichstärkung allen Ernstes verwendet. Es ist vorstellbar (eine
hier geäußerte Fiktion!), dass der umsichtige, die Wörter abwägende,
nicht unter Rededruck stehende, weil ständig am Verhalten
und Denken des Anderen arbeitende Unterweger von einem
Mord im Wienerwald direkt in eine Innenstadt – Bar fährt, dort
seine Freundin und einen Verleger trifft, vor denen er in
Tränen ausbricht, weil sich sein Roman „Kerker“ nicht gut
verkauft. Die zwei Anderen sprechen ihm Mut fürs Leben
zu und er denkt belustigt: Was wisst ihr beide schon vom
Leben!
Jack Unterweger war sich bewusst, dass er per se den Fall
einer geglückten Resozialisierung zu liefern hatte. Dafür
war ihm die Freiheit nicht genug. Er sah, dass er die Promis
nicht wirklich interessierte und dass es ihnen egal war, wer er
wirklich war. Und es war um 1990 tatsächlich nicht klar, wer er
war. Er wollte auch Ansehen und Wohlstand haben. Als er sah,
dass es diese Art von „Normalität“ für ihn nie geben würde,
trat er wieder in die geheime Welt ein. Diese trennte er von
seinem übrigen Leben ab, ohne dass seine Psyche und sein
Geist Schaden nahmen. Ja er empfand sogar ein spielerisches
Vergnügen, die Aufdeckung seines Doppellebens zu
vereiteln. Mit diesem spielerischen Verhalten vor dem
Hintergrund scheußlicher Destruktion steht er möglicherweise
einzigartig da.
© M.Luksan, Juni 2019
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