Weil die Wirtschaft so sonnenklare Interessen hat, versteht man
gut, dass Wirtschaftsleute über die negativen Aspekte von
Profit, Wachstum und freier Marktwirtschaft nicht reden wollen.
Nicht in der Öffentlichkeit. Dort wollen sie die Kritik dieser Begriffe in
Zeitungen, Stücken, Songs und Filmen nicht abgehandelt haben.
Die Fachwissenschaft mag wirtschaftliche Dominanz kritisieren,
doch die Einwände soll man nicht als Redensart, als Witz, als
Allgemeinbildung in allen Köpfen vorfinden. Kann man das der
Wirtschaft verdenken? Nein. Anders ist es mit der Kultur selbst,
die sich zur Erleichterung, zur Belehrung und zur Entfaltung des
Menschenlebens eingerichtet hat. Ein deutscher Schauspieler
moderierte einst Fernsehspiele mit dem Titel „EWG – Einer wird
gewinnen“. Er war ein tätiger Verkünder des humanen Umgangs,
warb aber für das Europa der Konzerne. Später erfanden
Werbemenschen den Spruch „Geiz ist geil“, natürlich nicht für
die Entfaltung des Menschen. Und mit dem Wort „Resilienz“
schufen Humanwissenschaftler den Begriff der Selbstausbeutung
für den Kommerz der anderen.
Schon in den 1970ern wurde die Ideologie der Intimität
durchschaut. Man hat ihr aber nichts entgegengestellt, die Kultur
ließ es offenbar nicht zu. Kritische Soziologen haben beschrieben,
wie der Abbau des Rollenverhaltens nicht nur Aufrichtigkeit und
Nähe ermöglicht, sondern auch das Zwischenmenschliche
schwächt und unter Umständen zur Hölle macht. Dennoch haben
sich die Kulturbereiche in der wertlosen Behauptung überboten,
dass alle Übel im Sozialen in der Anonymität und im kalten
Herzen wurzeln. In Wahrheit verlangt der soziale Kontakt beides:
Spontaneität, Direktheit und Selbstoffenbarung, aber auch
Selbstdisziplin, Rollenspiel und persönliche Diskretion. Diese
alte Weisheit haben die Verkünder der Intimität auf den Mist
geworfen. Sie haben in der Politik, in der Kunst und im
sozialen Alltag ein neues Spiel eröffnet und neue
Kommerz-Wege erschlossen.
Ein Opfer der neuen Nähe wurde ein introvertierter,
österreichischer Lehrer, der zu seinen Lehrverpflichtungen am
Vormittag hinzu auch Nachmittagsbetreuung übernahm.
Da konnte er sich nicht mehr hinter der Rolle des Fachlehrers
verstecken, sondern musste bei den halbwüchsigen Kindern
auch Ballspiele und körperliche Wettbewerbe leiten. Für
diese Tätigkeit war er ungeeignet. Er konnte mit der
Respektlosigkeit der Jungen nicht umgehen, verlor in
Turnsälen und auf grünen Wiesen seine Autorität. Seine
Nerven brachen zusammen, in einem Supermarkt konnte
er nicht mehr sprechen. Er wurde ins Spital eingeliefert und
saniert. Die Sache ging glimpflich aus, er ging in Frühpension.
Dem Lehrer wurde außerhalb des Klassenzimmers eine Nähe
vorgeschrieben, die ihm nicht möglich war. Diese Nähe
kann auch in einer U–Bahn aufbrechen und dort von
jedermann ein Verhalten erzwingen, das man gar nicht verlangen
darf. Eine nackte Frau geht durch den U-Bahn-Zug, hinter ihr
der Fotograf, und er nimmt weniger die Frau als die Gesichter
der Passagiere auf. TV besteht heute aus solchen Einfällen. In
manchen Zeitungen betet man die Befreiung eines unklaren
Inneren an, im Glauben, der soziale Kontakt wäre umso echter,
je frecher man nach dem Kern der fremden Person greift, in
jenem Fall nach der Sexualität.
Während der Einzelne sein Privates verlieren soll, verbreitet
sich die begründete Angst und erhält keinen kulturellen
Ausdruck. Ein amerikanischer Autoverkäufer verlor seinen
Job in einem Autohaus. Er lebte weiter mit seiner besser
ausgebildeten Frau. Diese hat einen Abschluss in Pharmazie
und trat in die Forschungsabteilung eines Konzerns ein.
Durch das unterschiedliche Einkommen ging die Ehe
in die Brüche. Die Frau ließ sich scheiden und der
Ex-Verkäufer verließ als Schuldig-Geschiedener die
gemeinsame Wohnung. Er quartierte sich in einem Neubau
ein, wo die Miete ständig erhöht wurde. Nach einem Jahr
zog er aus und schläft nun in seinem Auto, das er auf großen
Parkplätzen abstellt. Da schlafende Obdachlose manchmal
überfallen werden, schläft er mit dem Revolver unter dem
Sitzpolster.
Kultur als reines Geschäft.
Der Rechtspopulismus hat die Angst dieses Arbeitslosen
abgebildet. Er hat damit Hetze erzeugt, keine anerkannte
Kultur. Er verband das Bild des weißen, obdachlosen Mannes
in dem Auto mit dem Bild der illegalen Einwanderer, die man
nahe der Grenze aufgegriffen und gesammelt hatte. Illegale
Einwanderung, so die Erklärung, kostete diesem Amerikaner,
der in seinem Auto wohnt, den Arbeitsplatz. Das war eine
unbewiesene und auch unplausible Behauptung, weil
mexikanische Einwanderer in der Regel keine Facharbeiter
sind. Die alte, kaum noch verwendete Erklärung ist
wesentlich plausibler. Sie spricht von einer Krise der
marktwirtschaftlichen Produktion, der zufolge sich die Stückzahl
der Autos und die Zahl der Autoverkäufer verkleinert hat.
Durch die Zunahme der Ehescheidung bei verarmten
Familien ist die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt
respektive der Grundstückspreis gestiegen. Diesem
Gedankengang steht heute die neueste Philosophie im
Wege. Diese besagt, dass nicht nur das Wesen die
Erscheinungen bestimmt, auch die Erscheinungen das
Wesen beeinflussen. Das klingt vernünftig, ist es aber nicht.
Die Wechselseitigkeit wird nur durch Gedankenspiel
gewonnen. Trotzdem wendet man diese neue Interdependenz
auch auf den Fall des Autoverkäufers an. Etwa so: Der
Verkäufer ist ein mangelhaftes und massenhaft vorkommendes
Subjekt, das durch die Fülle seiner Mängel den Rückgang der
Autoverkäufe und alles Übrige bewirkt hat. Hier hat dann
keine objektive Logik, sondern das Subjekt selber, nicht das
Wesen, sondern die Erscheinung, die allgemeine Malaise
bewirkt.
Der Vorwurf an die Kultur lautet also, dass sie existentielle
Angst und existentiellen Druck vom Einzelnen nicht wegnimmt,
sondern all dies – mit naturwissenschaftlicher Lässigkeit -
übersieht und den Menschen stattdessen zurecht modelt
für den nächsten und neuesten Kommerz. Bei der Modernen
Kunst kann man die ungute Prinzipienreiterei besonders
gut verfolgen. Ein österreichischer Bildhauer wurde als
großes Talent in die Akademie aufgenommen. Nach
einem Jahr erhielt er die Chance, in die Klasse eines
Weltberühmten aufzusteigen. Er zeigte seinem Freund,
der schon Mitglied in dieser Meisterklasse war, einen Jüngling
in Stein, den er fertig gestellt hatte. Dieser war ein wenig
wie der „David“ gearbeitet, aber ohne naturalistische
Details. Der Freund sah das und wurde nachdenklich.
Am Ende empfahl er dem künftigen Novizen, auf
Gegenständlichkeit ganz zu verzichten. Der junge Bildhauer
hielt sich daran und erzeugte lebenslang nur Kuben,
solche mit und solche ohne Löcher, bis er plötzlich mit
69 Jahren, er war nicht so berühmt geworden wie sein
Lehrer, lauter Männer, Frauen und Liebende in der Art des
einstigen Jünglings gestaltete. Er lebte die Aufrichtigkeit
des Künstlers erst im Alter aus. Mit Hilfe der Aufrichtigkeit
muss er nicht mehr darauf achten, was die Kunstöffentlichkeit
über ihn sagt.
Auch wenn Kultur nicht nur die „Sprache“ schafft für alle
Erfahrungen des Menschen, sondern auch die für
künftige Erfahrungen, die der Mensch noch nicht gemacht
hat, soll sie den Umbau des Menschen nicht selbst betreiben.
Das wäre was für eine Partei - für Kulturpolitik. Der
Umbau geschieht durch Politik, durch sozialen Alltag
und durch die Wirtschaft. Erleichterung, Belehrung und
Entfaltung des Menschenlebens, Funktionen, die ja noch
gelten!, soll die Kultur nicht selbst blockieren. Wenn die
Wirtschaft das macht, soll sich die Kultur kritisch melden.
Darum sollen Theater, Film, Literatur und Philosophie den Mut
zur Wahrheit nie verlieren, indem sie z.B. zeigen, dass man
Nähe nicht einseitig leben kann, oder dass man bei Angst
unbedingt den Kontext mitbehandeln muss oder dass die
Freiheit der Kunst nur beim Künstler liegen kann, und nicht
auch woanders. Das sollten die Kulturbereiche sagen und
darstellen, sogar dann, wenn sie dadurch die geschäftliche
Ausbeutung eines Produkts ungewollt behindern.
© M.Luksan, November 2019
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