Historiker beschreiben einen Lebensbeginn unter Betonung des
prügelnden Vaters und der Charakter – Mängel des Sohnes.
Bis in den Ersten Weltkrieg. Bei 1916 enden sie mit der
Aussage: Im Krieg festigte sich sein Charakter, in dieser Zeit
wurde er zu jenem Hitler, den es nur einmal gibt. - Beim
jungen Stalin arbeitet die Geschichtswissenschaft sehr
ähnlich. Auch bei ihm hebt sie bestimmte mentale und geistige
Fähigkeiten nicht hervor, als ob sie befürchten müsste, für
eine Schreckensgestalt Bewunderung zu wecken. Sie betont
auch bei Stalin den gewalttätigen Vater, ferner die schweren
Krankheiten und das raue Leben auf den Straßen von
Gori, doch plötzlich, nach dem Ausscheiden aus dem
Priesterseminar in Tiflis, präsentiert sie Stalin nicht nur als
einen Anhänger des fernen Lenin, sondern auch als einen
gefährlichen, fast fehlerlos agierenden Gangster. Kein Wort
über bestimmte Fähigkeiten, über die hier ein ursprünglich
romantischer Kopf verfügte und die er offenbar schnell
entwickelte.
Durch Gewalt im Elternhaus kann das narzisstische Spiegelbild
entstehen, mit dessen Hilfe die Person die erlittene Demütigung
lebenslang kompensiert. Doch der Narzissmus entsteht auch
ohne Gewalt durch den Vater. Plausibler ist der niedrige Status der
Familie. Bei Hitler wie bei Stalin sinkt die Familie wirtschaftlich
zu einem Zeitpunkt ab, wo der Sohn die Einzelheiten des
Geschehens schon bewusst erlebt. Der soziale Abstieg ist dann
ein größerer Schock als die Prügel. Der niedrige Status erklärt die
lebenslange Unverbundenheit der Person mit einer sozialen Klasse
oder Gruppe. Stalin misstraute dem Proletarier, Hitler verspottete
den Kleinbürger. Ferner durchliefen beide Protagonisten eine
Kirchenschule, in der der große, religiöse Ernst dem Schüler
das Denken von Pluralität verbietet.
In beiden Fällen weckten weder die Familie noch die Schule
beim Einzelnen einen Korpsgeist, eine Loyalität oder eine
Solidarität, sie waren – im Gegenteil – der Person zuwider.
Werte der Familie und der Schule wurden später für die
Öffentlichkeit nur geheuchelt. Sowohl von Hitler wie von
Stalin ist der Spruch überliefert, dass man nicht für die Schule,
sondern fürs Leben lernt (auch von Mussolini, der allerdings
den Wert von Bildung schätzte). Die Intelligenz, um die es hier
geht, hat nichts mit Hochschule oder Universität zu tun,
sondern mit aktivem Leben. Sie beinhaltet das rasche Lernen,
die Trennung des Wichtigen vom Unwichtigen, das treffsichere
Wort und die Fähigkeit, Dinge zu definieren, doch der
Einzelne gibt ihr keine Zeit. Er stürzt sich ins Leben und rafft
Erfahrungen. Hitler als „akademischer Maler“ in einer Großstadt,
Stalin als Agitator im politischen Untergrund einer Provinz.
Für das Raffen von Erfahrungen darf die Person nicht
furchtsam sein, nicht versonnen, nicht introvertiert usw.
Durch das „Herz des Abenteurers“ wird Intelligenz praktisch,
entfaltet sie sich nicht im Wust der Sprache und auch nicht
im Studierzimmer.
Von Stalin sind härtere Jugendjahre überliefert als von
Hitler. Bei ihm gibt es keine Rente und keine Unterstützung
durch Familienangehörige. Er taucht in verschiedenen Berufen
ganz kurz auf, ehe er wieder im Untergrund verschwindet,
wo ihm zunächst niemand ein Entgelt für Werbereden
bezahlt. Noch ehe seine Verbrechen beginnen, lebt er von
Schuldenmacherei und Erpressungen im Bekanntenkreis,
während er unbezahlt die „Arbeit“ eines Aufrührers
macht. Anders Hitler, der nach dem Tod seiner Mutter
eine winzige Waisenrente bezieht, die er auf keinen Fall
verlieren will. Für diese Rente muss er eine feste Adresse
nachweisen und einen Beruf angeben. Er nennt sich also
„Maler“ oder „Schriftsteller“ und meldet sich lieber
im Obdachlosenheim an, als zu riskieren, dass ihn
die Behörde an einer angegebenen Adresse nicht antrifft.
Auch er genießt nicht die Anteilnahme einer Familie wie
zB. Mussolini, dem die Eltern 1902 Geld in die Schweiz
nachschickten.
Der Mut für das ungesicherte Leben wird durch den Mut
des Psychopathen verstärkt. Dieser hat in der Regel
mehr Mut als der sogenannte normale Mensch. Sofern
er seelisch überhaupt berührt wird, tritt bei ihm immer gleich
der Ausnahmezustand ein. Er muss gewinnen, denn es
geht ums Überleben. Das psychopathische Überleben-Müssen,
ist beim jungen Stalin mit einer kalten Intelligenz
gepaart, die scheinbar von Anfang an da ist. ZB. Simon
Sebag Montefiore, der im Übrigen gute Arbeit macht, erklärt
nicht, wie Dschugaschwili als Priesterschüler vom
Konspirieren im Schlafsaal des Klosters zum listigen
Politgangster wird, der sich am besten mit Berufsverbrechern
versteht. Hingegen konnte Brigitte Hamann zeigen, wie
der junge Hitler seinem chaotischen Leben in Wien
dennoch eine Form gab. Er tat es mit Hilfe seiner festen
Gewohnheiten, die ihm deutlich bewusst waren und die er
konsequent lebte. In einem entbehrungsreichen Leben mit
Geldnot und vielen Absteigen und gegenseitiger „Vernaderung“
bei der Behörde (Hitler und Rainhold Hanisch) entstand
dennoch ein Charakter.
Hitler und Mitkämpfer 1933
in München (Erinnerungs - Treffen).
Stalin und Hitler beeindruckten ihre nähere Umgebung, lange
bevor sie die Massen beeindruckten. Man behauptet nichts
Falsches, wenn man sagt, dass das soziale Leben ihrer Zeit und
dessen Abbild in der Öffentlichkeit ihren Typus grundsätzlich
akzeptierte. Und heute? Ein ichbezogener und verschlossener
junger Habenichts, der von sich sagt, dass er „erleuchtet“
sei, findet Null Akzeptanz. Doch in kriegerischen Zeiten,
die aus banalen Gründen den heldischen Mann feiern,
der sein Leben dem Kampf für ein Ideal widmet, konnte
dieser Typus selbst dann nicht abgelehnt werden, wenn man
ihn privat unsympathisch fand.
Es wird sich nie ganz zeigen lassen, wie sich Hitler und Stalin
in ihren Gruppen konkret durchgesetzt haben, doch wie sie in
ihren Gruppen sichtbar auftraten, ist vielfach dokumentiert.
Vor 1920 konnte Hitler nirgendwo schreiend, mit der
Reitgerte wippend, unnahbar und herausgeputzt auftreten. Doch
die Fotos aus der Zeit der Anfänge der NSdAP zeigen ihn
mit gepflegtem Bärtchen, starrem Blick und hoheitsvoller Haltung.
Im Unterschied zu ihm wirkt Stalin nie herausgeputzt, fast
ungepflegt, seine Haltung ist nicht forciert und er gibt seinem
Gesicht keinen Ausdruck. Auch für die Zeiten seiner absoluten
Macht ist sein Understatement gut dokumentiert. Er konnte
nicht wie Hitler eine schon bestehende Hierarchie für sich benutzen,
er musste sich in Kampfgruppen, bestehend aus unterschiedlichen
Mitgliedern, durchsetzen. Er trat meist als stiller Beobachter
und stiller Befehlshaber in der Gruppe auf, dem jedoch
der Ruf der Grausamkeit vorauseilt. Diesen bestätigt er nicht
durch Schreien oder durch anderes, symbolisches Verhalten,
sondern durch neue Grausamkeiten. Hitler aber musste
seinen Machtwillen (und seine Macht) ständig symbolisieren.
Er musste den Rabauken spielen, um den Rabauken in seiner
Gruppe zu gefallen. So erhält die an Otto Ballerstedt verübte
Körperverletzung von 1921 einen tieferen Sinn. Hitler saß dafür
einen Monat lang im Gefängnis.
Missliebige oder Verräter hat Hitler früh erkannt, hatte aber
anfangs nicht die Macht, die betreffende Person auszuschalten.
Außerdem respektierte er die deutschen Behörden. 1918
musterte er als Soldat nicht ab, sondern war ein bezahlter
V – Mann der Reichswehr bis Ende 1920. Er bespitzelte
Soldatenräte, die er auch verriet. Der Respekt vor Behörden
fehlte Stalin gänzlich. Er muss sich im Untergrund wie
ein Fisch im Wasser bewegt haben, weil er ganz rasch
ein Überprüfer war, der zB. neue Bandenmitglieder in einen
Hof führen ließ, wo er von einem Fenster aus das Verhalten
der wartenden Männer studierte. Die Forschung nimmt an,
dass er kein Spitzel der Ochrana war, doch sollte diese
Frage angesichts seiner milden Haftstrafen und seiner letzten
Sibirien – Verbannung, die er als privilegierter Häftling nahe
des Polarkreises zubrachte, offen bleiben.
Die ersten, von Stalin angeordneten Morde betrafen tatsächliche
und vermeintliche Spitzel in seiner Kampfgruppe. Ein derartiger
Mord wurden in der Parteiwelt der Bolschewiki immer schon
als die Lösung eines Sicherheitsproblems versachlicht. ZB.
bei einem Raubüberfall, der Unbeteiligte in Mitleidenschaft
ziehen konnte, wurde die Sicherheitsfrage immer einseitig
am Überleben der Bande berechnet. Das hat der Staatsmann
vom Gangster später übernommen, dass die Sicherheit des
engsten Kreises der Sicherheit der Bevölkerung vorzuziehen
ist, und dass der Sicherheit des Einzigen, der man selber ist,
am Ende die Mitarbeiter geopfert werden.
Stalins Überfall auf den Geldtransport in Tiflis 1907 ragt
unter ähnlichen Raubmord – Verbrechen total hervor. Die
Sicherheit für die Bande erhöhte die Opferzahl. Über vierzig
Tote, weil gleich zehn Sprengsätze unter die Pferde einer
gepanzerten Kutsche und unter die Pferde der Kosakenwächter
geworfen wurden. Nach den Explosionen schossen die als
georgische Bauern verkleideten Banditen die Noch-Lebenden
tot und nahmen das Gros der Geldsäcke an sich. Der
Clou war, die Kutschenwächter und die Bankbeamten
nicht in der Bank zu überfallen und zu entwaffnen, um
so die Zivilisten am Platz und die Pferde zu verschonen,
sondern den größtmöglichen Tumult zu schaffen. Das ist
geglückt. Die erschrockenen Wächter in der Bank liefen zu
den toten und verwundeten Kosaken hin und wurden
in ein Gefecht verwickelt. Diese Abläufe dachte sich Stalin
in einer Wohnung aus, fünf Minuten vom Platz entfernt,
wo er selber mit seiner Frau und einem neugeborenen
Kind lebte. Er plante und probte diesen Überfall in einem
Zeitraum von sechs Monaten.
Beim Überfall in Tiflis war Stalin für Lenin bereits so wichtig,
dass man ihm die Teilnahme an der Durchführung wahrscheinlich
untersagt hatte. Eine spezielle Furchtsamkeit des Josef
Dschugaschwili ist nicht bekannt. Hitler verfolgte Stalins
Schritte erst in den 1920 er Jahren, vielleicht angeregt durch
Alfred Rosenberg, der in seiner Zeitschrift „Der Weltkampf“
die Maßnahmen der Bolschewiki gegen ihre Bevölkerungen
empört, aber auch fasziniert anprangerte. Die Paranoia
Stalins war früher entwickelt als jene Hitlers, auch die Methoden
der kollektiven Unterdrückung waren in Russland früher da.
Dennoch ist der Gedanke von Ernst Nolte auf infame Weise
falsch, die russischen Gräuel hätten Hitler erschreckt und
angespornt zugleich, sodass aus ihm ein Nachahmungs- und
ein Präventivtäter geworden wäre. Der NS hat höchsteigene
Destruktivität entfaltet.
In jungen Jahren versuchten Stalin und Hitler so viel
wie möglich zu erleben. Das Turbo-Leben bekamen sie gar
nicht satt, denn sie machten selbst im größten Stress
ihre goldrichtigen Beobachtungen. Zu dieser Begabung, durch
Leben besonders schnell zu lernen, kam die spezielle
Spielernatur hinzu. Sie machten – wie Spieler – immer wieder
Einsätze mit Haut und Haar, bei denen sie aber nicht blind,
sondern überlegt handelten (die kleinen Fehler fürchteten
sie am meisten). Im Kreise ihrer engsten Mitarbeiter
propagierten sie ihre Wahnsinnseinsätze als unbedingt
nötig. Sie mussten auch bei großem Risiko durchgeführt
werden. Die Brutalität der Durchführung wurde durch eine
tiefe, innere Überzeugung dieser Jahrhundertmörder
gerechtfertigt, dass nur der Mann, der seine Selbstliebe
und seinen Hass auslebt, der wirklich freie und ganze
Mann sei (der Unfug der Antidekadenz, etwa 1880, stammt
aus einer zeitungshaften Ideologie).
Stalin und Hitler totalisierten auch ihr Leben, um es zu
mythisieren, und verbanden das mit Rache. Hitler
ließ zB. Martin Bormann nach Reinhold Hanisch suchen,
aber dieser war schon verstorben. Ballerstedt, der Hitler
ins Gefängnis gebracht hatte, wurde ermordet. Stalin ließ
Widersacher aus seiner Zeit in Georgien ausforschen und
umbringen. Sobald Stalin und Hitler die alleinige Macht
in Händen hatten, wollten sie durch noch mehr Macht
nicht nur die Kontrolle vergrößern, sondern auch
in alle Lebensbereiche der Menschen eingreifen - um diese
zu verändern. Ihre Anhänger durften dann Alles, was
der Führer gebot, mit rechtfertigen, und durften Alles, was
das System kontrollierte, mit kontrollieren, doch sie hatten
kein Handeln mehr, das sie vorher selbst beschlossen
hatten. Dieses letztere Kapitel ist gut bekannt. Unter dem
Titel „Der neue Mensch“.
Stalin und Mitkämpfer 1936 in Moskau (Kongress).
© M.Luksan, Jänner 2020
|