Hätte es in Wien eine offene und z.B. mild protestantische
Öffentlichkeit gegeben, so wäre die Stimme der modernen Kunst
schon 1919 in der ehemaligen Kaiserstadt laut geworden. So
hörte man sie erst vierzig Jahre später, in einer bürgerlichen
Wohnung oder in einem kahlen Theaterkeller, wenn ein Wiener
Dada ein Lautgedicht exaltiert vortrug. Im schlichten Vortragssaal
des Porrhauses wurde theatralisch ein Klavier zerhackt. Im
Foyer des Theaters gab es keine Bildcollagen a la Heartfield,
oder Bilder von Kanonen gegen Wolken, sondern gekrakelte
oder geschüttete, abstrakte Bilder. Diese bezogen sich auf
Maler wie Pollok oder Mathieu, die ebenfalls früher angefangen
hatten als die Wiener Moderne.
In Malerei und Literatur war Wien um 1960 rückständig,
obwohl die Stadt durch ihr Soziales und ihren Raum die
Lebensweise von Künstlern indirekt förderte. Diese seltsame
Förderung (sie verdient einen eigenen Aufsatz) genoss der
Hilfslehrer Otto Muehl, den seine Arbeit mit behinderten Kindern
naturgemäß nicht ausfüllte. Erstens strotzte er vor Kraft, konnte
seine Gesundheit - und seine Schönheit - täglich genießen,
zweitens hatte er ein bildnerisches Talent. Er wollte die vielen
ängstlichen und gepanzerten Menschen um ihn herum nicht
nur auflockern und sanieren, sondern auch beherrschen. Die
ihm verhassten „Wichtel“ oder „KFM“ (Kleinfamilienmenschen)
waren nicht nur seine Schäfchen in der Schule, sondern auch
seine Vorgesetzten in der Gesellschaft. In diesem Sinn
wollte Muehl nie nur ein Autonomer sein, er wollte auch
seinen sozialen Rang verbessern.
Das Thema Sex und Frau hatte Muehl durch Malereien
bereits gestaltet, als er entdeckte, dass andere möglicherweise
besser malten. Diese unangenehme Einsicht brachte
ihn nicht zur Bearbeitung seines Stils, sondern ließ ihn
das ganze Genre wechseln. Seine Anstrengung als Künstler
verlagerte sich auf weniger beachtete Aspekte der
Kunstproduktion: auf das Material der Kunst, die
Herstellungsweise, die Rezeptionsweise. Statt Leinwand,
Holz, Papier etc. wurde der menschliche Körper für ihn
interessant, der eigene und der fremde. Der Akt, durch
den er die Farbe auftrug oder das Blut durch Messerschnitte
sichtbar machte, wurde für ihn ein zentraler Moment des
Werkes. Mit dem neuen Material wurde das Thema
Sexualität nicht nur für den Aktionskünstler, auch für sein
frühes Publikum dringlich. „Versumpfung eines weiblichen
Körpers“ hieß 1962 eine Materialaktion von Muehl in einer Wiener Wohnung.
Eine Funktion des Körpers ist auch das Herauspressen
von Kot aus dem Darm. Muehl erkannte es als Steigerung
für eine wenig aufregende Aktion. Sie war das, womit das
Publikum nicht gerechnet hatte: Blut, Urin, Sperma, Kot.
Der Schock war hier wirklich nötig, weil ja das Werk
nicht fertig war und feststand, sodass man in aller Ruhe etwas
hinzu assoziieren konnte, sondern weil es eine Aktion war mit
beschränkter Dauer. Wenn da nichts Höheres - oder Tieferes -
passierte, implodierte die Kunst. Die z.B. durch Kot
geschaffene Bedeutung gehörte dann nicht zur Kunst,
sondern war die Natur selber. Außer O. Muehl brachten nur
R. Schwarzkogler, G. Brus und V. Export den persönlichen
Mut für solche Aktionen auf. H. Nitsch und O. Wiener
nicht.
O. Muehl und Aktionistin, Kunstaktion, Wien 1970.
„Politisierung“ war der nächste Schritt. Durch ihn hat Oswald
Wiener, aber auch Otto Muehl die Kunstaktion gesteigert. Sie
wollten nicht die Gesellschaft gestalten, aber doch ein
Staatssymbol herabsetzen. Etwa in „Kunst und Revolution“
im Juni 1968 im neuen Teil der Universität Wien urinierten Muehl
und zwei andere auf die österreichische Fahne, wobei die
Bundeshymne erklang. Kot und Sperma wurden ebenfalls
abgesondert. Muehl kam dafür ins Gefängnis, doch im Dezember 69
war er in Braunschweig wieder da und traktierte gemeinsam
mit Hermann Nitsch eine nackte Frau mit Urin und Kot auf
der dortigen Kunsthochschule. Zu hören waren Weihnachtslieder.
Es war ja Dezember. Abgesehen von einer Tierschlachtung
(durch Muehl) und einer Tierquälerei (durch Export), Aktionen,
die auf einer Bühne geschahen, war die sinnlich-„schmutzige“
Ablehnung anerkannter Symbole der allergrößte Effekt. Das
war um 1970 in internationalen Galerien die absolute
Sensation. Man wollte in Ausstellungen in Paris und
in New York die sogenannte „Wiener Aktion“ unbedingt
einmal nachspielen. Vielleicht in der Hoffnung, dass hier die
Natur hervorbrach in einem kulturellen Raum mit beinahe
unsinnlichen Exponaten.
Der von G. Bacher geleitete ORF schloss sich um 1970
enger an die Boulevardpresse an. Also gab er allen
Aktionisten, auch den, die an der „Uni-Ferkelei“ nicht
mitgewirkt hatten, ein Auftrittsverbot im Rundfunk. Doch
die Politik war damals fortschrittlicher als der ORF und
förderte sofort, nachdem die Auslandserfolge von Mühl,
Nitsch. Rainer u.a. bekannt geworden waren, die ehedem
geächteten, österreichischen Künstler. Eine Geistesriese
wie Peter Weibel arbeitete sich zum Akademie-Professor
durch. Ein Kunst- und Lebensrevoluzzer wie Otto Muehl
wurde über seine Kommune finanziert. Diese wurde zwar
nicht riesig, aber doch so weitgehend unterstützt, dass Muehl
den Friedrichshof im Burgenland erwerben und seine Wohnung
in der Praterstraße verlassen konnte.
Muehls erste Ehe war gescheitert. Seine neue Freundin verließ ihn
zu einem Zeitpunkt, als er in den USA die Wiener Aktion vorspielte.
Zurückgekehrt und durch Erfolg bestärkt, wollte er das
alternative Leben steigern. Mit den Leuten aus der Praterstraße
zog er aufs Land und bildete mit ihnen den harten Kern der
Kommune in Zurndorf. Bald traten bürgerlichere Personen in
die Gruppe ein, mit deren Geld der Friedrichshof adaptiert und
ausgebaut werden konnte. Der Kunstaspekt wurde zweitrangig.
Peter Skopik berichtet von der wachsenden Verachtung des
Muehl für die Ergebnisse von Malerei und Musik. Die
Sublimierung der Kunst war in der Tat ein Hindernis, wenn man
primär den KFM und den Seelenpanzer loswerden wollte. Die
Kommune übte den Urschrei und den Sex („Brüllen und Pudern“,
wie eine Kurzformel des „Spiegels“ lautete). Der freie Sex
machte die Leute nicht glücklich und wurde vor allem von
den Kommunarden als Stress empfunden.
Am Ende war die Kunst weniger als eine Therapie. Sie war
nur noch eine Art von Unterhaltung, wenn die Kommune-Mitglieder
am Abend vor der Gruppe tanzten, musizierten, schauspielerten,
nachdem sie vorher Vater und Mutter „in sich getötet“ hatten.
Muehls Macht über die Gruppe war brüchig, weil sie von
seiner körperlichen und mentalen Stärke abhing. Solange
die Quelle der Echtheit in ihm sprudelte, wurde ihm freiwillig
und gern gefolgt, wenn sie aber nachließ, gab es eine
Krise. Einmal erwog er, Rangabzeichen in der Gruppe einzuführen.
Zu diesem Zeitpunkt war die neue Urhorde, bei der
der Stärkste das Sagen hat und alle Frauen beschlafen darf,
eigentlich schon am Ende. Sie bestand nur deshalb weiter, weil
sich wirtschaftlich ein Zwangssystem eingespielt hatte und
weil so viele Kinder in der Gruppe zur Welt gekommen waren.
Auch wenn sich die Mitglieder anders sahen, so bildeten
sie doch eine Gruppe aus seelisch schwachen Menschen,
deren normaler Trainer sich zum Führer erhoben hatte.
„Auch Muehl selbst“, schrieb Skopik am Ende eines Berichts,
„war in gewisser Weise ein Opfer. Er war das Opfer der
Verherrlichung von uns allen.“
Schließlich löste sich die Kommune selber auf und das Gros
der ehemaligen Mitglieder verließ den Ort. Muehl blieb
noch eine Weile im Friedrichshof, ehe er 1991 wegen
Vergewaltigung und Kinderschändung verurteilt wurde.
Von den verhängten sieben Jahren saß er sechseinhalb Jahre ab.
Er bezeichnete sie im Nachhinein als seine „kreative Bildungsreise
in die Gedärme der Gesellschaft“, und tatsächlich hatte
er, der die Sublimierung verachtete, die Zeit in der
Einzelzelle kreativ genutzt. Er hatte über dreihundert Bilder und
ein paar bruchstückhafte Texte erzeugt. Natürlich war er nicht
dankbar für diese Freiheit der Kunst mitten im Gefängnis. Denn
er begriff sich selbst als unschuldig, als Opfer der Gesellschaft.
Das Interesse an seinem Werk war nun - im Unterschied zu 1960 -
im gesamten Kulturbereich gegeben. Der zynisch-kenntnisreiche
Rudolf Leopold hatte Muehl-Bilder bereits in seinem Besitz,
als Muehl noch im Gefängnis saß. Der noch zynischere
Claus Peymann bereitete am Burgtheater einen zweiten
„Heldenplatz“-Eklat vor, nur weil sein Vertrag als Theaterdirektor
auslief. Er machte die Lesung eines schwachen Muehl-Textes
zum Event, für die er Schauspieler von anderswo herbeiholte,
weil ihn die Burgschauspieler nicht sprechen wollten.
Trotzdem musste Robert Meyer seinen Aufruf zum Boykott
der Veranstaltung („Aus dem Gefängnis 1991 bis 1997“,
Februar 1998) beinah allein verteilen, weil die Angst der
Burgschauspieler vor den österreichischen Kulturpolitikern
so groß war.
Der Kunst von Muehl wurde lebenslang Folgendes vorgeworfen:
dass sie erstens in keinem Ausdrucksbereich höchste Form
liefert und dass sie zweitens nirgendwo intellektuell anregt.
Darüber konnte Muehl nur lachen, weil er ja den inneren
Menschen durch Veränderung der Kleingruppe hatte befreien
wollen. Die Kunst hatte er nie autonom gesehen. Alle Einschränkungen
der Kunstfreiheit, dass man keine Kinder verderben, keine Tiere
quälen, kein religiöses Gefühl verletzen darf, hatte für ihn nicht
gegolten. Das Resultat war, dass er weder für die Kunst noch
fürs soziale Leben etwas Positives erreicht hatte. Mitten im
Gefängnis aber war er zu einem herkömmlichen Maler
geworden und hatte eine Reihe reizvoller Bilder gemalt,
nachdem er sich viele Jahre vorher in Herrschaftsfantasien
verzettelt hatte. Diese Bilder sollte man isoliert vom Aufreger
Muehl betrachten, um sein Künstlertum einschätzen zu
können.
Das ist offenbar unmöglich. Am 10. Juni 2010 wurde im
Mittagsjournal des ORF-Radio eine Werbung inszeniert.
Der ORF wartete, eine Sendung lang, auf eine Entschuldigung
von Muehl, durch seinen Anwalt vorgebracht, bei den Opfern
vom Friedrichshof. Die Meldung war kombiniert mit einem
Ausstellungsbericht über Muehl-Bilder im Leopold-Museum.
Es war die größtmögliche Werbung für Maler Muehl und das
Museum, das man besuchen sollte. Die Entschuldigung kam
in letzter Minute („Eben erreicht uns die Nachricht“ etc.)
und der schlaue Moderator fügte einen vorbereiteten Satz
an den Schluss der nichtssagenden Entschuldigung. Dass
nämlich schon die Kunstgeschichte zeigt, dass Verbrechen
und große Kunst einander gar nicht ausschließen. Diese
These hätte man in einer intellektuellen Öffentlichkeit gerne
diskutiert, anstatt sie als eine taxfreie Aufwertung eines
nicht ganz deutlichen Künstlers durch einen Staatsrundfunk
zu erleben.
Milde Provokation von Saul Steinberg – Frauen mit Badewanne,
Paris 1959.
© M.Luksan, Februar 2020
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