Ich bin so sehr in die Wörter vertieft, sagte Peter Handke,
dass ich eine Geschichte nicht arrangieren will. - Er wollte
keine Wörter im Text, die sich dem ersten Spiel entziehen,
weil sie dem zweiten dienen müssen. Er nahm
(und nimmt) an, dass für ein vollgültiges Beschreiben das
starke Erzählen geopfert werden muss. Dieses Vorurteil
stammt aus der Kunstideologie des Neuen, die Mitte der 1960 er
Jahre in die Köpfe von Verlegern, Literatur - Vermittlern
und Autoren gelangte. Unklar, welcher Club Voltaire sie
damals durchsetzte – Die Wiener Gruppe war es nicht.
Handke verfasste gerade seine Sprechstücke, als der Zweifel
an der Sinnhaftigkeit der Sprache in der Literatur überall
geäußert wurde. In den 1920 er Jahren waren das
wissenschaftliche Bedenken, doch jetzt waren es
modische Vorbehalte von Kulturleuten, die nicht vorhatten,
aus der Umgangssprache auszusteigen.
Neben dem Medium der Sprache wurde auch der Poet –
scheinbar - neu gesehen. Ja, früher kam es in der Malerei –
nicht in der Literatur! - vor, dass ein Maler für seine Kunst
den Zustand der Normalität verlieren wollte. Das war zwar
nicht ernst gemeint, aber eine deutliche Willenskundgabe für
das Neue. Diesen Unfug übertrug man von der Malerei
in die Literatur und pries vor allem in den USA das
Rauschgift und den Alkohol, nur weil Autoren auf
einmal das Ganz Neue wollten. Handke hat diese
selbstzerstörerische, diese Beatnik – hafte Dummheit nie
mitgemacht, aber er hat selber nach dem Ganz Neuen gesucht.
Nach der Sprachkunst, die es vor ihm noch nie gegeben
hat. Schon als junger Mann ließ er die Wiener Gruppe
hinter sich, denn er wollte nie nur das Versagen der Sprache,
immer auch die Rückkehr zum Ich gestalten. Ferner wollte
er das mangelhafte Ich durch den eigenen Sprachgebrauch
reinigen und stärken. Vielleicht wollte er auch mit der Welt
versöhnt sein, in dem Moment, wo er sein Inneres durch
Sprache ausgeschrieben hatte.
Den Wunsch Nummer 1 hat Handke sich erfüllt. Er
gestaltete die Rückkehr zum Ich und hörte mit der Sprachkritik
auf. Das brachte ihn wirklich weiter. Er gelangte von den
„Hornissen“ bis zur „Stunde der wahren Empfindung“.
Konsequent erweiterte er seine Sprache und machte
sie kontinuierlich und bildhaft. Er schuf eine Prosa, die ihm
höchste Preise und einen Ehrenplatz in der Literatur
verschaffte. Doch diese Prosa ist extrem fragmentiert, sie
zählt kaum ganze Werke, und was schlimmer ist als das
Fehlen der Einheit der Kunst, sie ist mit Lächerlichkeit
durchsetzt. Letzteres hat damit zu tun, dass ihm die Überhöhung
der Rückkehr zum Ich oft missglückte. ZB. das Erlebnis
der Zeitlosigkeit in dem Text „Lampen auf der Place
Vendome“: Handke wandert durch Paris, die Angst
nagt in ihm, doch auf der Place Vendome gehen die
Lichter an und er wähnt sich mit dem All verbunden.
Die besagte Ideologie des Neuen behauptet, dass es keine
Geschichte gibt, dass Gleichzeitigkeit vorherrscht, dass
man in den Anderen nicht hineinschauen kann. Und
sie betont den Vorrang der Defizienz. Warum schreibe ich
über Angst?, fragte sich Handke, und seine Antwort war:
Weil ich nur bei Angst sicher sein kann, dass ich nicht schwindle. -
Dieses Vorurteil unterschlägt, dass er auch bei ruhiger
Aufmerksamkeit und leichter Verärgerung authentisch sein
kann. Doch Siegfried Unseld gefiel die Sicht, er griff
die Idee des rätselhaft - kaputten Dichters auf.
Zur Zeit des „Lenz“ (1973, P. Schneider) und des „Wunschlosen
Unglücks“ (dritte Auflage 1975 ) warben die Verlage
nicht nur mit sensiblen Romanhelden, auch mit Autoren,
die privat um ihre seelische Gesundheit ringen.
Das „Wunschlose Unglück“ ist nun ein ganzes Werk. In diesem
Buch über den Tod seiner Mutter betont Handke mehr als
einmal, wie nötig es für ihn war, den Text zu schreiben. Seltsame
Beteuerung, weil ja die Mutter gestorben war. Recht besehen
wird jedoch ein Kernstück der besagten Ideologie schlagend.
Handke macht sich selbst über den Produktionsakt des
Textes hinaus dem Leser interessant. Er behauptet indirekt,
dass seine reale Persönlichkeit genauso interessant sei
wie das Werk. Das „Wunschlosen Unglück“ liefert
keine Lebensgeschichte (das ganze Leben fördert diese
Einheit nicht). Es trat aber die Mutter aus den Episoden
als eine gut erklärte, vollständige Figur hervor. Zudem
hatte Handke eine superdichte Erzählung geschaffen.
Da dies mit Material geschah, das nicht nur aus
dem Leben des Autors stammt, darf man sagen: Die
Kraft des wirklichen Erzählens setzte sich hier gegen die
Ideologie durch.
Man kann die Erzählung über Handkes Mutter mit dem
dickeren Roman „Schau heimwärts, Engel“ von Thomas
Wolfe vergleichen. Man sieht hier zwei Autoren am Werk,
die drauflos schreiben und nur ein einfaches Konzept
haben. Sie haben aber beide eine Menge Material,
eigenes und fremdes. Sie fangen beide mit dem
Anfang an und erlauben sich während des Schreibens
Einfälle, die im Material nicht vorhanden sind.
Sie sind spontan. Damit hört ihre Ähnlichkeit freilich
auf. Der Unterschied besteht nun darin, dass Handke
keinen Höhepunkt will und den ganzen Text lang auf gleicher
Höhe mit dem Anfang bleibt, bis er irgendwann - durch eine
Pointe im ersten System - endet. Wolfe aber sucht und
findet beim Schreiben des „Engels“ eine Ordnung für das
ganze Buch.
Für Wolfe ist auch die Zeitlinie, auf der er das Material
verteilt, nicht nur eine bloße Abfolge wie bei Handke,
sondern auch eine Entwicklung. Seine epische Prosa
hat nicht nur durch Form ihre große Wirkung, sondern
auch dadurch, dass die Teile der Abfolge durch intime
Motive miteinander verbunden sind. Hingegen erzählt
Handke „Geschichten“ ohne genaue und starke Motive. Man
sieht das etwa an einem Spätwerk, der Erzählung „Kali“,
dass das Fehlen der intimen Motive arge Folgen für
das Erzählen hat. Zitat: „Auf einmal fragte er sie durch die
Kabinenwand: Warum möchten Sie sterben? - Sie, unsichtbar:
Ich möchte nicht. Ich muss. Ich soll. So ist es bestimmt. So wird
es gefordert. - Er: Und warum? - Ich habe es ausgesprochen,
dass ich es tun werde. Habe so mein eigenes Urteil
gesprochen. Und nun habe ich das zu vollstrecken. Es ist
gesagt und hat getan zu werden.“ (P.H., Kali - Eine
Vorwintergeschichte, Frankf. 2008, S. 114 f.)
Handke verzichtet auf die Glaubwürdigkeit, das verlangt
die Ideologie. Er möchte trotzdem eine Beziehung
zwischen zwei Menschen offenbaren. Herauskommt
der papierene Dialog. Im Übrigen ist das tragende
Verhältnis in diesem Buch, die Beziehung zwischen
dem Mann und der Frau, der Diva und dem Salzherren,
albern. Man muss sich vorstellen: Ein Poet, der
nachweislich über Empathie und Psychologie verfügt,
erlaubt Figuren, die sich nahekommen sollen, nur eine
komische Metaphysik. Wie erklärt sich der Eigensinn?
Die Antwort darauf ist nicht leicht zu geben. Handke
ekelt sich vor Seelenäußerungen, die er kennt und
die er oft gehört und gelesen hat. Und er befolgt das
Diktat des Neuen.
Anders Wolfe, der von keiner Ideologie der Kunst erfasst
wurde, die ihm die Möglichkeit eines Nullpunkts vorgegaukelt
hat. Er hatte Meister, denen er nacheiferte, und er war
begeistert vom Material der Welt. Weder ein abstraktes
Prinzip noch Ekel hinderten ihn daran, das Gewöhnliche und
dass Oft – Geschehene noch einmal zu gestalten. Er
entdeckte im Stil eines Meisters, den er fast beherrschte,
die Keimzellen des Neuen und ließ sie wachsen. - Dagegen
Handke, der nie jemandem nacheiferte und Naivität nicht zu
kennen scheint. Er baute sich die eigene Diktion im
Elfenbeinturm selber auf. Das machte er tastend und
ohne fremde Hilfe, jeder Text war ein Experiment. Man
kommt nicht umhin, den ruhigen Purismus und die zähe
Konsequenz dieser Selbsterziehung zu bewundern. Die Kehrseite
dieser Genialität ist aber leider eine höhere Art von Sturheit.
Der Poet, der jede Sache mit eigenen Worten sagt, will
am Ende auch keinen fremden Gedankengang mehr
nachvollziehen.
Die Ideologie des Neuen ist noch immer da, aber sie ist
geschwächt. In der Malerei steht das Abstrakte nicht mehr in
der ersten Reihe, in der Musik hat die Struktur wieder eine
Entwicklung, und in der Literatur wird wieder erzählt. Der
Fortgang und der Erfolg der Künste wurde also nicht nachhaltig
beschädigt. In den Winkeln der Betriebe hält sich die Ideologie
und versucht weiterhin, die Aufmerksamkeit in ihrem Sinn
zu lenken. Die neuen Dichter sind manchmal verwirrt, weil
sie selbst herausfinden müssen, ob sie wirklich nur sich selber
und die Sprache haben (und nicht auch den Andern und
durch ihn die Welt), doch ein echtes Talent reimt sich
das selbst zusammen. Handke hält sicher daran fest, nur
die passiven Momente eines Menschenlebens zu gestalten,
aber er liest vielleicht kein Wort mehr von den Lippen
des namenlosen Ideologen. Er sieht vielleicht sogar, dass
eine Ideologie der Kunst – im Unterschied zu einer der
Politik – etwas Kleinliches hat, das den Künstler selber
beschädigt. Wenn nicht, so kann man trotzdem sagen, dass
bei ihm auch der Fehlweg interessant ist.
© M.Luksan, April 2020
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