DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Welche Stärke ist gemeint?

Weil die mentalen Unterschiede zwischen Mann und Frau bis zum Sprichwort hin bekannt sind, hat eine Studie zum Vermeidungs- verhalten in Corona-Virus-Zeiten nicht überrascht. Frauen weichen einem Passanten ohne Mund- und Nasenschutz auf dem Gehsteig eher aus als Männer. Die Klügeren geben nach, aber die Männer sagen sich: Wegen eines Ignoranten werde ich meine Schrittrichtung nicht verändern. Eine durch Banalität erzwungene Flexibilität wird als Eingriff in ein persönliches Freiheitsrecht verstanden. Die geringste Sorgfalt bei der Vermeidung von Nähe legten in Berlin gut verdienende Männer an den Tag.

Der Mann, der seine verschiedenen Freiheitsrechte so weit wie möglich ausdehnt und dabei mit dem Gesetz in Konflikt kommt, ist eine uralte Geschichte – und er ist ein Lieblingsthema der Philosophie. Kant war hier leider keine große Hilfe, weil er das Thema nicht empirisch behandelt hat. Die eigene Freiheit, die dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, besagt nicht viel. Das Problem der Freiheit bricht bei jedem zweiten Inhalt auf. Der eine sieht seine Freiheit darin, so viel Land wie möglich zu kaufen, während der andere sich nur frei fühlt, wenn er im ganzen Land frei herumziehen kann. Eine Freiheit, die der Einzelne in den USA – zumindest früher – durch Waffengewalt sicher stellen durfte.

Dieses Nichtausweichen des Mannes auf dem Gehsteig erscheint wie eine Pointe für den Charakter der heutigen politischen Brutalinski. Ein D. Trump – oder ein J. Bolsonaro - beachten die schädlichen Folgen ihres Verhaltens für die Allgemeinheit partout nicht. Die Kritiker betonen hier zu sehr die psychischen Mängel dieser Minusmänner, ohne das Prinzip der Stärke zu beachten, dass die Betreffenden bereits aus politischen Gründen immer und überall zur Schau stellen müssen. Nicht aus Bosheit, sondern aus Prinzip werden Empfehlungen und Direktiven von Dritten als eine Einschränkung der Stärke einer rundum autonomen Person missachtet.

Diese Art von Autonomie gibt es nicht, aber sie wird ideologisch behauptet. Man könnte sie vom händlerischen Stadtpatrizier, vom Bürger mit den Bürgertugenden, vom Republikaner (der mehr sein will als ein bloßer Liberaler) herleiten, doch auch ursprünglich war diese Autonomie nicht wirklich da, weil Stadtadel auf Erblichkeit der Ämter beruhte. Heute wäre der Einzelne mit Bürgertugenden, der gegen Korruption gefeit ist, eine wünschbare Figur, aber es gibt ihn nicht. Er ist nur eine gedankliche Weiterentwicklung eines politischen Typus aus dem 18. Jahrhundert.

Zum Ideal des starken Einzelnen, wie ihn die Republikaner in den USA strapazieren, gehören drei Eigenschaften unbedingt dazu. Der Einzelne ist frei von Krankheit, er sucht Wettbewerb und wehrt Gewalt selber ab, und er verdient sich, zu jeder Zeit und an jedem Ort und egal womit, seinen Unterhalt selber. Das verrät das Ideal der Studierstube, aber auch das Großsprecherische des Volksredners, es ist bei konkreten Menschen nicht zu finden. Diese drei Eigenschaften des idealen Starken hat D. Trump übrigens schon betont. Er hat durch ärztliche Atteste zu zeigen versucht, dass er ungewöhnlich gesund ist, er hat betont, dass ihm Angriffe nichts ausmachen und nur seine Entschlossenheit verstärken, und er hat gesagt, dass man bei ihm lernen könne, wie man durch bloßes unternehmerisches „Genie“ sich Geld massenhaft verdient. Für diese Ideologie musste er echte Falschspielerei, nämlich Weglassung, begehen, weil sie sonst zusammen gebrochen wäre. Er ließ die Rolle seines Vaters (Fred Trump), die Rolle des Familienbesitzes und die Rolle eines Steuernachlasses durch die Stadt New York bei seinen Selbstdarstellungen völlig weg. Man darf sich hier wirklich wundern, warum die Propaganda der Gegenseite diese schwarzen Flecken in der Trump – Karriere niemals thematisiert hat.

Selbsttätig für den eigenen Unterhalt sorgen wird weiterhin eine Bedingung für Autonomie sein. Diese Kondition für Freiheit können, aus guten Gründen, die Künstler in der Regel nicht erbringen (ergo die „Kunstfreiheit“, um die ganze Kreativität trotz der Alimentierung des Künstlers zu garantieren). In einer Ein- und Zweidrittel-Gesellschaft werden jedoch ganz andere und riesige Bevölkerungsgruppen diese Bedingung nicht erbringen. Kann es dann echte Autonomie überhaupt noch geben? Das ist ein Problem der Zukunft.

Laurie Anderson
Laurie Anderson, 2014 (Foto: Bill Gordon / Flickr)

Die amerikanische Musikerin und Filmemacherin Laurie Anderson (Ehefrau von Lou Reed) nannte drei Fähigkeiten, die speziell dem frei schaffenden Künstler eine Art von Glück ermöglichen: Keine Angst vor Niemandem, ein guter Bullshit-Detector für die Kultur, die uns umgibt, und Geld verdienen mit dem, was man ohnehin gerne macht. Das ist eine recht genaue Umschreibung des US-amerikanischen Linksprotestlers in den 1970er Jahren, in einer Zeit, als die Eigenschaften eines Hippies, eines Spontis und eines Autonomen in einer Person noch vereinigt waren. Und es ist als Forderung ungleich konkreter als das Ideal des autonomen, starken Mannes.

© M.Luksan, Juni 2020

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