Weil die mentalen Unterschiede zwischen Mann und Frau bis zum
Sprichwort hin bekannt sind, hat eine Studie zum Vermeidungs-
verhalten in Corona-Virus-Zeiten nicht überrascht. Frauen
weichen einem Passanten ohne Mund- und Nasenschutz auf dem
Gehsteig eher aus als Männer. Die Klügeren geben nach, aber
die Männer sagen sich: Wegen eines Ignoranten werde ich
meine Schrittrichtung nicht verändern. Eine durch Banalität
erzwungene Flexibilität wird als Eingriff in ein persönliches
Freiheitsrecht verstanden. Die geringste Sorgfalt bei der
Vermeidung von Nähe legten in Berlin gut verdienende
Männer an den Tag.
Der Mann, der seine verschiedenen Freiheitsrechte so weit
wie möglich ausdehnt und dabei mit dem Gesetz in Konflikt
kommt, ist eine uralte Geschichte – und er ist ein Lieblingsthema
der Philosophie. Kant war hier leider keine große Hilfe,
weil er das Thema nicht empirisch behandelt hat. Die eigene Freiheit,
die dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, besagt nicht
viel. Das Problem der Freiheit bricht bei jedem zweiten Inhalt
auf. Der eine sieht seine Freiheit darin, so viel Land wie möglich
zu kaufen, während der andere sich nur frei fühlt, wenn er
im ganzen Land frei herumziehen kann. Eine Freiheit, die
der Einzelne in den USA – zumindest früher – durch Waffengewalt
sicher stellen durfte.
Dieses Nichtausweichen des Mannes auf dem Gehsteig
erscheint wie eine Pointe für den Charakter der heutigen
politischen Brutalinski. Ein D. Trump – oder ein J. Bolsonaro -
beachten die schädlichen Folgen ihres Verhaltens für die
Allgemeinheit partout nicht. Die Kritiker betonen hier zu sehr
die psychischen Mängel dieser Minusmänner, ohne das
Prinzip der Stärke zu beachten, dass die Betreffenden bereits
aus politischen Gründen immer und überall zur Schau stellen
müssen. Nicht aus Bosheit, sondern aus Prinzip werden
Empfehlungen und Direktiven von Dritten als eine
Einschränkung der Stärke einer rundum autonomen Person
missachtet.
Diese Art von Autonomie gibt es nicht, aber sie wird ideologisch
behauptet. Man könnte sie vom händlerischen Stadtpatrizier,
vom Bürger mit den Bürgertugenden, vom Republikaner
(der mehr sein will als ein bloßer Liberaler) herleiten,
doch auch ursprünglich war diese Autonomie nicht wirklich
da, weil Stadtadel auf Erblichkeit der Ämter beruhte. Heute
wäre der Einzelne mit Bürgertugenden, der gegen
Korruption gefeit ist, eine wünschbare Figur, aber es gibt ihn
nicht. Er ist nur eine gedankliche Weiterentwicklung eines
politischen Typus aus dem 18. Jahrhundert.
Zum Ideal des starken Einzelnen, wie ihn die Republikaner
in den USA strapazieren, gehören drei Eigenschaften
unbedingt dazu. Der Einzelne ist frei von Krankheit, er
sucht Wettbewerb und wehrt Gewalt selber ab, und er verdient
sich, zu jeder Zeit und an jedem Ort und egal womit, seinen
Unterhalt selber. Das verrät das Ideal der Studierstube,
aber auch das Großsprecherische des Volksredners, es
ist bei konkreten Menschen nicht zu finden.
Diese drei Eigenschaften des idealen Starken hat D. Trump
übrigens schon betont. Er hat durch ärztliche Atteste
zu zeigen versucht, dass er ungewöhnlich gesund ist,
er hat betont, dass ihm Angriffe nichts ausmachen und
nur seine Entschlossenheit verstärken, und er hat
gesagt, dass man bei ihm lernen könne, wie man durch
bloßes unternehmerisches „Genie“ sich Geld massenhaft
verdient. Für diese Ideologie musste er echte Falschspielerei,
nämlich Weglassung, begehen, weil sie sonst zusammen
gebrochen wäre. Er ließ die Rolle seines Vaters (Fred Trump),
die Rolle des Familienbesitzes und die Rolle eines
Steuernachlasses durch die Stadt New York bei
seinen Selbstdarstellungen völlig weg. Man darf sich hier
wirklich wundern, warum die Propaganda der Gegenseite
diese schwarzen Flecken in der Trump – Karriere niemals
thematisiert hat.
Selbsttätig für den eigenen Unterhalt sorgen wird
weiterhin eine Bedingung für Autonomie sein. Diese
Kondition für Freiheit können, aus guten Gründen, die Künstler
in der Regel nicht erbringen (ergo die „Kunstfreiheit“, um
die ganze Kreativität trotz der Alimentierung des
Künstlers zu garantieren). In einer Ein- und Zweidrittel-Gesellschaft werden jedoch ganz andere und riesige
Bevölkerungsgruppen diese Bedingung nicht erbringen.
Kann es dann echte Autonomie überhaupt noch geben?
Das ist ein Problem der Zukunft.
Laurie Anderson, 2014 (Foto: Bill Gordon / Flickr)
Die amerikanische Musikerin und Filmemacherin Laurie
Anderson (Ehefrau von Lou Reed) nannte drei Fähigkeiten,
die speziell dem frei schaffenden Künstler eine Art von
Glück ermöglichen: Keine Angst vor Niemandem, ein
guter Bullshit-Detector für die Kultur, die uns umgibt,
und Geld verdienen mit dem, was man ohnehin gerne
macht. Das ist eine recht genaue Umschreibung des
US-amerikanischen Linksprotestlers in den 1970er
Jahren, in einer Zeit, als die Eigenschaften eines Hippies,
eines Spontis und eines Autonomen in einer Person
noch vereinigt waren. Und es ist als Forderung ungleich konkreter als das Ideal des autonomen, starken Mannes.
© M.Luksan, Juni 2020
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