Man sorgt sich um die freien Theater, die kleinen Musikgruppen,
die Poeten mit der geringen Bekanntheit, ob sie die Pandemie
überleben werden. Das kann als Vorwand dienen, um mit
einer Kunstauffassung abzurechnen. ZB. Michael Wimmer traktiert
die Freie Kunstszene mit einer sehr engen Vorstellung von Kunst.
Er sieht nicht verschiedene Kunstabsichten im Spiel, sondern
nur die totale Selbstbezogenheit der Kunst, die elitäre Absicht.
Deren „erstes Anliegen ist es nicht, sich für ihr Publikum zu
interessieren“, sondern nur Kunst zu machen und sonst gar
nichts. Den Vertretern dieser Kunst prophezeit er, dass Corona
sie zwingen wird, „vom Sockel der Selbstdarstellung
herabzusteigen und sich selbst als permanent Lernende zu
präsentieren“ (offenbar lebenslanges Lernen!) Wimmer
hofft, dass die nunmehr ungeförderte Kunst, „ihr Publikum
so wertschätzen werde wie sich selber“. (M.W., Hilfe, sie haben
uns das Publikum weg genommen, In: Wiener Zeitung, 18.,19.
04.2020)
Sinnvoller betrachtet Manfred Stangl die herrschende Moderne in
der Poesie. Er sieht sie nicht mit den Augen des Kulturpolitikers,
sondern des Künstlers, den man zu etwas zwingen will. Er
kritisiert, dass es in der Hochliteratur primär um Vernunft, Geistiges
und reine Sprache geht, wobei der Künstler - analog zum
Wissenschaftler – den Vorteil der Defizienz für den rascheren
Einblick (die stärkere Darstellung) nutzt. Der Poet schreibt
primär über Narzissten, Solipsisten und Destruktive und
präsentiert dadurch die Welt als einen sinnlosen und schlechten
Ort. „Der Gedanke, Literatur befasse sich nicht mit etwas
außer ihr Stehendem, ist eine Verdrehung von Leben, wie sie
nur die Moderne (…) produzieren konnte.“ (M.S., Ein Blatt
ganzheitlicher Ästhetik, unpubliz. Aufruf, 2020)
In der Tat werden in Malerei, Musik, Theater, Poesie ungeachtet
der Kunstfreiheit Forderungen und Standards erhoben, die
die Kreativität des Künstlers behindern. Das beginnt mit dem
überzogenen Anspruch der Modernen Kunst, im menschlichen
Jammertal etwas Grandioses zu sein, und endet mit
Gestaltungsprinzipien, die die Herstellung drastisch einschränken.
Wegen der Freiheit der Kunst werden heute diese Grundsätze
nicht mehr programmatisch aufgeschrieben und nicht mehr
haarspalterisch begründet. Wer sich heute als modern sieht,
setzt sie still schweigend voraus. ZB. die Aufsätze von Clement
Greenberg zur Malerei (Anfang der 1960 er) und die von
Roland Barthes zur Literatur (1950 er Jahre) liegen schon sehr
lange zurück.
Die Nötigkeit der Kunstmoderne steht außer Frage und doch
ist der absolute Bruch in der Geschichte der Kunst nirgendwo
zu sehen. Er wurde behauptet und wird weiter behauptet, um
die Werke der Moderne in der Kunstgeschichte aufzuwerten.
Gebilde, die einst nur schockierten, wollten bald mehr sein
als nur Denkanstöße. Die Gründer der Moderne, gebildete
Flaneure und Nichtstuer mit scharfem Bewusstsein, haben
keine obersten Grundsätze entdeckt, sondern nur solche,
die für ihre Zeit, die des Ersten Weltkriegs, passend gewesen
waren. Das Schwarze Quadrat (Malewitsch) war das Gefühl der
Gegenstandslosigkeit eines Malers. Das Lautgedicht (Ball)
war der Widerstand gegen Kriegslyrik. Trotzdem wurde in Malerei,
Musik, Theater, Poesie das raffinierte Spiel rund um das Nichts
als der Höhepunkt der Kunst – und als ihr Ende – inszeniert.
Auf Einheit, Vollendung und Schönheit bestehen die Kunstideologen
heute nicht mehr, doch am Begriff des Genies halten sie fest.
Ein Genie war um 1950 nicht nur ein super - begabter
Mensch, er war auch befreit von Malschule und Metier.
Die alten Malschulen waren ja in Nazi – Hand gewesen.
Jetzt probierte ein Arnulf Rainer ein paar Stile durch, während
er gleichzeitig die neuesten Arbeiten der Anderen beäugte,
schmiss eines Tages alles weg und fokussierte auf
Destruktion (eigener und fremder Werke). Die Originalität
seines Schaffens liegt bei ihm nicht im Werk als solchem,
sondern in der Idee der Übermalung, der Überdeckung,
der Auslöschung.
Genie – Pose, modern (Arnulf Rainer), 1985.
„Ein anderer Begriff, den es in der alten Kunst überhaupt
nicht gab, ist der Begriff der Gleichheit. Der Ideologe strapaziert
ihn deshalb so sehr, weil er den Gegensatz von Schöpfer
und Betrachter aufheben will. Natürlich will er auch sagen,
dass wir in einer politischen Demokratie leben. Mit dem Begriff
reagiert er auf das Gefühl der Nichtigkeit beim Betrachten
von Moderner Kunst (Gefühl von Nullität beim Lesen
assoziativer Texte). Er reagiert auf den Gedanken „Das kann
ich auch“. Schöpfer und Betrachter sind gewissermaßen
gleich, frei nach dem Grundsatz von Joseph Beuys: Jeder
einzelne und jede einzelne können Kunst machen, aber
nur ich, Beuys, oder ein Gremium, bestehend aus Ideologen,
kann ihm und ihr sagen, ob es Kunst geworden ist oder
nicht.
Da es nicht um naive, sondern um hochreflexive Kunst geht,
ist dieses Prinzip von Beuys in sich widersprüchlich. Warum
sollte der moderne Schöpfer mit dem großen Bewusstsein
bei der Einschätzung der erbrachten Leistung dumpf und
betriebsblind sein? - Alle diese kunstideologischen Grundsätze
haben die mittlere Allgemeinheit eines Dogmas. ZB. das
Prinzip der selbstreflexiven Kunst, dass der Schöpfer sein
Gestaltungsprinzip durch das Werk vorführt, ist eine spezielle
Forderung. Genauso speziell ist die Forderung, dass der
Maler die weiße Bildfläche des Werkes durch die Vorstellung
einer unendlichen Weiße außerhalb des Bildes entgrenzen
solle. Das ist nur eine gedankliche Spielerei, die vielleicht
den Farbauftrag im Bild minimal verändert, aber keine
große Wirkung bringt. Auch ist es ein Unfug, wenn ein
Autor davon spricht, dass er dem Leser durch seine Prosa
zeigen wolle, wie ein Satz aus dem anderen hervorgeht.
Es gibt hier keinen Manichäismus. Die Moderne Kunst ist
und probiert herum (was im Einzelfall gute Ergebnisse
bringen kann), aber sie ist innerhalb von Kunst nur eine
Möglichkeit von mehreren. Sie ist nicht die wichtigste.
Und nicht der Höhepunkt der Kunstgeschichte. Deshalb wäre
die Besetzung der Gremien in den Kunstbetrieben durch
Kulturwissenschaftler und nicht durch Journalisten (oder
Vertreter des Kunstbusiness) so wichtig. Weil ein
Wissenschaftler von Berufswegen sich nicht auf das von ihm
präferierte Phänomen beschränken kann, sondern auch
die anderen Phänomene verstehen und erklären muss.
M. Stangl sieht die Germanistik im Argen. Aber auch ein
Anhänger des Modernen muss als Germanist eine Pluralität
der Erscheinungen denken. Das scheint bei der Documenta
oder beim Bachmann-Preis – hartnäckig – zu unterbleiben.
ZB. Hubert Winkels, mehr Journalist als Wissenschaftler,
übertrug jüngst einen Begriff aus der Bildenden Kunst
taxfrei in die Literatur. Das ist großartig! sagte er über
einen Text, Das ist reine Konzeptkunst!
Wiener Szene mit Kulturstadträtin (Ursula Pasterk), 1986.
© M.Luksan, Juli 2020
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