DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Ehrlichkeit, am Beispiel von Martin Walser

Martin Walser gibt in seinen Tagebüchern eine Sitzung in der Akademie (der Künste) in Berlin wieder: „Zimmer 104. Jandl ist dagegen, dass Peter Handke Mitglied wird, weil zuerst die aufgenommen werden müssen, die die Grundlage geschaffen haben, auf der ein Handke aufbaut. Hans Mayer: Er wird Gabriele Wohmann schreiben, dass Handke noch nicht dran ist. Wolfgang Hildesheimer: Nicht in einem Brief, dass da dann was daliegt. Hans Mayer: Telefonieren. Ernst Jandl: Aber nicht sagen, dass der Jandl dagegen ist.“ (M.W., Leben und Schreiben - Tagebücher 1974 – 1978, Reinbek 2012, S. 161) Diese Gschaftelhuberei der Feingeister, die kleine Vorteile beachtet und dabei größere Aufgaben ignoriert, mag Martin Walser nicht. Er sieht in dieser Kehrseite eines Idealismus ein verkümmertes Vorstellungsvermögen. „Die Befriedigten glauben, weil sie befriedigt sind, müsse die Menschheit befriedigt sein. Sie glauben, das Ziel der Milliarden Jahre Entwicklung der Menschheit sei in ihnen erreicht. Also setzen sie sich hin und notieren, was sie vor sich, um sich sehen.“ (M.W., a.a.O.)

Die eingeschränkte Fantasie fördert die Literatur der Befindlichkeit. Es bleibt dabei offen, wie weit die Poeten dieser Literatur auf die Gestaltung von Nichtich freiwillig verzichten. Sie sehen jedenfalls nie von sich selber ab, auch nicht für die Gestaltung einer Figur, und richten sich mit dieser Kunsthaltung auch existentiell ein. Sie verachten alle Berufe, Milieus und Institutionen, die ihrer Sphäre der selbstzweckhaften Geistestätigkeit fernstehen. Wenn Martin Walser die moderne Selbstbezogenheit der Dichter kritisiert, so wird diese Kritik für ihn selbst gefährlich. Man kann nicht sehen, dass die Egozentrik auch einen selber betrifft, ohne nicht zu sich selber auf Distanz zu gehen. Man kritisiert dann die andern und sich selber von einer nicht – personalen Warte aus. Das schwächt die logische Argumentation und schmälert außerdem die Glaubwürdigkeit von Figuren, die man als Durchschnittsmenschen präsentiert. In „Jenseits der Liebe“ wurde die Figur Franz Horn stellenweise papieren, weil sie nicht ihre eigene Ironie gebraucht, sondern die von Martin Walser.

Martin Walser 1992
Martin Walser, 1992 (© Andreas Bohnenstengel).

Ein deutscher Autor singt heute weder das Lied der Familie noch das des Staates, sondern das der Menschheit. Diese ist nicht mehr so fern wie zur Zeit von Thomas Mann, aber sie ist immer noch fern genug. Und ihre Werte sind in einem westlichen, hochzivilisierten Land schwierig darzustellen. Was will der Autor dem Leser in Deutschland oder in Österreich einreden, wenn dort die Menschenrechte beachtet und die Verantwortung für die Intaktheit der Natur und die Entwicklung der weniger beschenkten Länder zumindest beschworen wird? Er könnte keine Kunst erzeugen, würde er einen Trinkwasser vergeudenden Europäer darstellen und dabei an Verdurstende in Afrika erinnern. Walser war das immer sehr bewusst, weil er immer wusste, dass er alles konkret darstellen muss. Das aber mindert die Möglichkeit eines Sprachkunstwerkes, das Letztaussagen herausarbeiten will, und damit die Kunst eines M. Walser. Er durfte der Vernunft, der Ethik und dem Recht in seiner Kunst nirgendwo das letzte Wort erlauben.

Dazu kommt, dass der am Nichtich interessierte Walser sein Selbst und sein Ich besonders genau kennen lernen musste, um eines Tages - vielleicht in der krisenhaften Zeit der Tagebücher 1975/76 - sagen zu können: Jetzt bin ich im Umgang mit anderen ein „Mensch“ geworden. Er erkannte sonnenklar, dass die Inhumanität der Gesellschaft, in der er Erfolg und Ansehen schon erworben hatte, nicht darin besteht, dass sie das nackte Überleben des Einzelnen ignoriert, sondern dass sie das Selbstwertgefühl jedes Einzelnen kontrolliert. Der vormals angepasste Martin Walser erlebte das nun am eigenen Leib. Die Kritik an der Person, Arten des Mobbings und vielleicht sogar eine Ausgrenzung. In jedem Fall erlebte er die Bestrafung des autonomen Selbst durch die Gesellschaft.

In den Tagebüchern kreisen seine Gedanken um die Widersprüche der ihn umgebenden Kultur, die oft auch die Widersprüche der eigenen Person sind. „Du hast dich bisher immer zu wenig tot gestellt“ (a.a.O., S. 81), „Aufmotzen und Versagen (…) das sind meine zwei Lebensinhalte“ (S. 131), „Ich sehe weiter als ich will und mehr, ich fliehe, spiele den Bestürzten, rede daher, ich werde erwischt und gestellt“ (S. 84), „Ich muss verfolgt werden, das sehe ich ein“ (S. 187), „Ich will nicht bemerkt werden“ (S. 106), „Ich möchte aus Marmor sein, so verschwiegen (…) Hart, kühl und unbeweglich möchte ich sein“ (S. 532), „Da man mich nicht achtet, kann ich selber auch niemanden achten“ (S. 171), „Ich will nicht so sein, wie ich bin. So sind schon genug andere.“ (S. 503)

Ab Mitte der 1970 er Jahre zeigte Walser nicht nur, dass der humane Mensch überall verschwindet, sondern er beobachtete und stärkte auch das rätselhafte Selbst. Dieses mit Tod und Autopoesis verbundene Wesen, das die Würde des Einzelnen übrigens besser fundiert als die abstrakte Freiheit, ist Angriffen ausgesetzt, die er abwehrt. Er schreibt zB. über das Fernsehen: „Am Schlimmsten ist ja diese Flut von Darstellung (…) Der Zuschauer ist umgeben von nichts als Darstellung. Dadurch sieht er, wie scheußlich seine Wirklichkeit ist (…) Überall umstellt von den beleidigend eleganten Darstellungen und Darstellern.“ (S. 116, 117) Er bemerkt die Illoyalität des Suhrkamp-Verlags: „Ich spüre, wie mein Bauchweh zunimmt, wenn ich an die Behandlung denke, die mir der Verlag zuteilwerden lässt (…) So erfahre ich, dass der Verlag für das gleichzeitig erscheinende Buch des Kollegen G. Roth (…) Leseexemplare hergestellt und verteilt hat. Mir aber wurde am Telefon gesagt, Leseexemplare (…) das sei zu teuer.“ (S. 199) Und er sieht, wie genau er gelesen wird: „Nach dem Interview fragte die ZDF-Journalistin, ob sich Unseld dazu geäußert habe, dass er im Buch als Unternehmer erscheine. Ich fragte sie, wie sie auf so eine Vermutung komme. Sie: Im Roman heiße es, wenn Herr Thiele lacht, sieht es aus, als habe er alle Zähne zweimal bekommen. Ich gratulierte ihr zu ihrer Beobachtungsgabe.“ (S. 326)

Auch in einem demokratisch – westlichen Land kann der intellektuelle Poet nicht alles sagen, was ihn heftig stört. Es sei denn, er ist ein geduldeter Außenseiter wie M. Walser, dessen Öffentlichkeit man nicht mehr löschen kann. Walser bemerkte zB. die Kluft zwischen der Performance- und Werbekultur zur Welt der Wirtschaft und des Alltags auf eine nicht – spielerische Art. Und, noch schlimmer, er kritisierte den Kulturbetrieb, der ihn trägt und absichert, als Moralist. Seine Tagebücher sind voll mit solchen Berichten: „Hans Mayer schlägt H. Böll als Gutachter für die Nobelpreisstiftung vor. Böll erfährt das und schickt Mayer eine Kiste Elsässer Riesling.“ (S. 37) Oder: „Uwe Johnson hat das Lektorat für Max Frisch gemacht (…) Also kann man auch von Uwe alles haben, wenn man ihm ein Darlehen gibt.“ (S. 149) Oder: „Seit jenem Gespräch mit Fest, Kaiser, Horst Krüger, bei Raddatz in Hamburg, weiß ich, dass sie diese Gegnerschaft viel, viel ernster nahmen, als ich sie nahm. Horst Krüger sagte: Wenn Sie einmal an der Macht sind und Sie haben uns alle einsperren lassen, lassen Sie sicher zu, dass man uns Bücher in die Zelle schickt. Es müssen ja nicht ihre eigenen sein.“ (S. 266)

Das ist diese Welt eines gehobenen, durch Angst und Schrecken gar nicht erzwungenen Konformismus, der dennoch etwas Abtötendes hat. Jeder ist jedem zu Dank verpflichtet und darf ihm nicht die Wahrheit sagen, weil er nicht weiß, ob er den andern nicht noch braucht. Von Zeit zu Zeit fällt einer in Ungnade, weil er durch ein Buch oder durch eine öffentliche Rede gegen ein Korrektheitsgebot verstoßen hat. Dann verliert er nicht nur die als Freunde, die sich dem Gebot verpflichtet fühlen, sondern auch alle andern, die zur tatsächlichen oder auch nur vermuteten Mehrheit weiterhin dazu gehören wollen. Diese Gleichschaltung geschieht hier – wie gesagt - in keiner autoritären oder totalitären Gesellschaft, sondern in der gut bekannten, nie vollständigen und ergo ausbaufähigen Demokratie.

Ja, Walser rieb sich zeitlebens an der Macht, die er aber nicht für sich allein wollte, sondern die er anders verteilt haben wollte. („nie siegen. Nie unterliegen. Nur gelten und gelten lassen.“ S. 489) Eine linke Illusion. Doch die Gesellschaft besteht darauf, dass sie jeden ihrer Funktionsträger, egal wo, mit Macht ausstattet, weil sie der Kooperation misstraut. Als intellektueller Poet ist Walser die von Th. Mann beschriebene „Mischlingsnatur aus Geist und Sinnlichkeit“, die ein „Leben in Würde“ ohnehin nicht zustande bringt. (Wer bringt es denn zustande?) Walser fällt sogar aus der Zunft und dem Betrieb heraus, den man zum Schutz der Literaten eingerichtet hat. Denn er ist mit Seinesgleichen seelisch nicht verwandt. „Ich will mit den Leuten, die so viel verdienen wie ich oder mehr nichts zu tun haben. Ich halte sie für Feinde. Feinde meiner Hoffnungen, meiner Bedürfnisse, Feinde meiner Sehnsucht“ (S. 205) Was ihm vor allem fremd ist, ist der moderne Konformismus, der im Betrieb das Geschäft mit der Mode nicht behindern will.

Um 1960 war Walser selber eine Mode, aber um 1975 war er „richtig“, außerhalb jeder Mode. Was er nun in seiner Literatur darstellte, war das Scheitern am Leben und dieses war halb ein vorgestelltes und halb sein eigenes, weshalb die Kritik verwirrt war. Trotzdem war und ist er ein rarer Autor, weil er die inneren Kämpfe nicht nur in ein Tagebuch hineinschrieb, sondern sie auch in der äußeren Welt mit mächtigen Kontrahenten austrug. Mit H.J. Abs (Deutsche Bank), I. Bubis (Jüdische Gemeinde), M. Reich – Ranicki (Literaturbetrieb). Er scheiterte nicht, weil er ja gehört wurde, doch er gehört nicht mehr ganz dazu und wird deshalb von höchsten Ehren ausgeschlossen. Den etwas Jüngeren und den Jungen hat er heute nicht nur durch sein Werk, auch durch sein Leben etwas zu sagen. In seinen Tagebüchern übt er eine Selbsterforschung, die anders als die Pseudo - Bekenntnisse der heutigen Literatur - rundum – mitleidlos ist. Sie schont das eigene Ich in keinem Punkt, kann also um Sympathie nicht buhlen.

© M.Luksan, September 2020

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