DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Die Ästhetik der Ganzheit

Manfred Stangl, der tiefe Einblicke in die moderne Malerei und Literatur philosophisch verallgemeinert, zitiert gegen Schluss seines Buches einen Sufi – Dichter und Meister: „In den Wassern seiner Liebe zerging ich wie Salz/ Nichts Gutes, nichts Schlechtes. Kein / Schuldspruch/ und auch kein Zweifel bleiben zurück.“ (M. S., Die Ästhetik der Ganzheit, Wien, 2020, S. 398) So lösen sich das Gute und das Schlechte auf, es wird niemand mehr schuldig, und niemand kann das, was ist und was sich darüber sagen lässt, ernsthaft anzweifeln. Diese östlich – philosophische Vorstellung, dass sich das Ich im Anderen auflöst, befördert nun auch eine richtige Kritik an unguten Phänomenen.

Martin Stangl Gesichtfoto

Eine wesenhafte Ganzheit hat Manfred Stangl vor Augen, und er spürt sie, wenn´ s wahr ist, auch in seinem Herzen. Diese Ganzheit, die in der Kunst gewissermaßen besteht, ist im Leben des Einzelnen, in der Gesellschaft und im Weltall nicht zu finden. Sogar im All ist sie gar nicht denkbar, wenn man weiß, dass viele Weltalle möglich sind und es wahrscheinlich mehr als einmal gebangt hat. So gehört diese schöne Sache, die mit Vollkommenheit und Ewigkeit eng verknüpft ist, zu den Dingen, die leider fehlen. Dabei würde man sich den gütigen Gott (Stangl würde sagen: die freundlichen Götter) im Leben durchaus wünschen, weil die Idee der All – Liebe etwas Schönes ist.

Der Gedanke der Ganzheit ist praktisch hilfreich, wenn man zB. die Lebensinteressen verschiedener Gruppen in der Gesellschaft überlegt und dabei nicht Partei ergreift. Oder wenn man an die durch Eisschmelze veränderten Meere und an das dadurch veränderte Wetter denkt. Soziologisch, biologisch, meteorologisch etc. ist das Ganze ein heilsames Leitmotiv. Aber es ist keine Wesenheit, aus der heraus man eine Moral und einen Zorn gewinnen könnte, so wie das die Religiösen ganz leicht können. Die Ganzheit ist nur eine funktionale, die man ähnlich sehen muss wie die Staatsverfassung. Handelt man ihr zuwider, riskiert man die Zerstörung.

Stangl ist mit esoterischen Bildern und Gedanken wohl vertraut und er hat einen philosophischen Überblick. Trotzdem oder gerade deshalb formuliert er eine Menge Sätze wie „Dem Mann des Abendlandes graut vor dem Tod“ oder „Nichts hasst der Lineare abgrundtiefer als den Gestank der Wiederkehr“ (a.a.O., S. 74). Beides wissen wir nicht, weil es den Mann des Abendlandes und den Linearen in reiner und konkreter Form nirgendwo gibt. Wir sehen aber, dass in diesem hoch interessanten Buch ein Vorurteil gegenüber dem klaren und logischen Denken besteht, das die logische Argumentation Stangls glücklicherweise nicht beschädigt.

Das Irritierende seines Buches hängt mit dieser Illusion zusammen, dass ein Denker die Prinzipien, die er – mit Recht - nicht mag, radikal bekämpfen könnte. Mit der Wurzel ausreißen, kann man Unkraut oder schädliche Käfer im Garten, das ist zu schaffen. Völlig unfassbar aber sind Lichtfunken, die in der Materie gefangen sind und die man nach einer uralten Reinheits-Idee (etwa zweitausend Jahre alt) mit Leidenschaft und rhetorischem Schwung endlich befreien möchte. Wer wie Stangl unsere Kultur durch viele ideologieanfällige Konformisten besetzt sieht (sie sitzen dort, wo mediale Verstärkung, Macht, möglich ist), muss sich immer auch die Frage stellen, ob dieser Zustand auf einem Zufall oder auf einem Urkonflikt beruht.

Ich glaube nicht, dass dieser gedanklich tief bohrende Autor ein substantielles Gut – Böse - Schema verfolgt. Die Übermacht der Konformisten ist keinem Urkonflikt geschuldet. Ansonsten könnte man sich jede Aufklärung über eine Ideologie und die Schaffung einer neuen Mehrheit ersparen, und müsste stattdessen zur Entmischung schreiten. Dann müsste man das Zyklische vom Linearen, das Synthetische vom Analytischen, das Weibliche vom Männlichen „sauber“ abtrennen und einseitig fördern, bis der letzte gefangene Lichtfunke befreit ist. Wenn dann das reine Licht gewonnen und der dunkle Materieklumpen im Nichts verschwunden ist, wären in der Kultur, in der Gesellschaft, in der Menschheit, nur noch die gewünschten Prinzipien übrig, die anderen wären ausgeschaltet.

Die Lichtfunken - Befreierin Maria Szepes hat in ihrem Buch „Der rote Löwe“ einen Alchemisten nach dem Pulver für das ewige Leben suchen lassen und dabei das Denken mit der Welt- und Lebensverleugnung gleichgesetzt. Das ist dieses Vorurteil, das einem die Sprache, das Ich, den Intellekt, den Geist als Widersacher des Bewusstseins sehen lässt. Stangl selbst hat den Intellekt, der ja nur für die Begriffsbildung zuständig ist, damit Trennschärfe entsteht und wir nicht mit immer neuen Worten über das Gleiche schwatzen, durch eine Zusatzbedeutung eingeengt: „er funktioniert linear, reiht (…) aneinander, sodass es ihm von Grund auf gar nicht möglich ist, Ganzheit zu verstehen“ (a.a.O., S. 230) Beim Bewusstsein könnte einem ein OP – Arzt sagen, dass sich die Vigilität nach einer Operation als Gefühl der Ganzheit, aber auch als das der Zerstücktheit melden kann.

Das durch die heutige Kultur geschwächte Leben des Einzelnen sollte man ernster nehmen, als man gegenwärtig tut. Wie schaut die Ganzheit beim Einzelnen aus? Schlecht. Sie wäre aber eine Bemühung wert. Wer „diachron“ von „synchron“ unterscheiden kann, weiß, dass die Wiederholung mit dem Fortschreiten koexistiert. Das Leben heißt Wiederkehr, aber nur für eine bestimmte Zeit. Der ständige Wechsel von Wiederkehr und Einmaligkeit findet im Tod sein Ende. In diesem Tod, der der Geburt nicht ähnlich ist, hat die Einmaligkeit das letzte Wort. Gerade wenn man über das Sterben nachdenkt, sieht man besonders deutlich das Selbst, das sich lebenslang wie eine Feder immer wieder aufrichtet, ehe es der Tod für immer löscht. Anschließend findet man dieses rätselhafte Selbst (das ein guter Zugang zum Bewusstsein ist) weder in den Flügen des Storches noch in den Routen des Blauwales noch im Zyklus des Mondes.

Manfred Stangl sieht vielleicht nicht den Einzelmenschen ganz klar, doch aber die Anmaßung durch moderne Kunst und die Manipulationen durch Kultur. Dafür hat er einen sicheren Instinkt und verdichtet er auch seine Sprache zum Geist der Stunde. Die Betonung des Nichts und der männlichen Negativität schränkt alle Frauen, die in der modernen Kunst mitmachen, stilistisch ein. Stangl sieht, wie wenig frei die Autorinnen bei aller Kunstfreiheit wirklich sind. Für die Modernität müssen sie entweder die Wörter hin und her wenden für Effekte (E. Jelinek) oder kunstvoll als Kindchen plappern (I. Bachmann, die Heidegger – Spezialistin, in „Malina“). Auf keinen Fall dürfen sie das ganze Leben poetisch hinstellen, sondern müssen ihr Leid mit List verwalten. Sie dürfen den Schmerz der Witterung nicht aussetzen, weil ihn sonst Wind und Regen lindern könnten und auch das Positive sichtbar wird.

Von der Kunst, die nicht alles sagt, zur „Kunst, die bewusst nichts sagen will“. Diese sollte, laut Stangl, „in Medienzeiten unerträglich lärmenden Verkaufsgeschwätzes schweigen“. Sie ist, wie Werbung, auf eine blinde Art affirmativ. „Formal hip“, schreibt Stangl, „von Inhalten entleert, untergräbt sie weder Herrschaftsworte, noch hinterfragt sie den Alpha – Wert.“ (a.a.O., S. 82) Sie wirbt nur für sich selber und vermischt sich sogar mit Werbung. Ein Teil der modernen Kunst hat tatsächlich Botschaften, die mit denen der Werbung identisch sind. „In den Sprachstücken“, schreibt Stangl, „faseln flache Charaktere eine banale Welt. Die aufgeblähten Worte vermitteln Größe und Bedeutung, doch hinter den Sprachgittern darbt eine vereinfachte Darstellung vom Leben: der angeblich natürliche Kampf um Macht und Geld.“ (a.a.O., S. 113)

Bei der Einführung in die verschiedenen Fragen seines Buches übt Stangl eine große Transparenz. Es ist ihm nicht erlaubt, die verschiedenen Anreger seines Denkens zu unterschlagen (A. Okopenko, W. Ullrich, O. Rosner etc.). Zum Beispiel half ihm Ortwin Rosner, der Literaturforscher, die „Attacke gegen das Reale“ weitgehend zu verstehen: „Einerseits ist das Reale das Leben (…) Andererseits erkennt der kritische Verstand, dass das Leben von Kontrolle und Herrschaft und Zwang eingeengt wird, schaut jedoch dabei nicht ins eigene Gesicht, sondern spricht sich aus (…) gegen jegliches Beschreiben“ (a.a.O., S. 122) Dazu kommt noch die schamlose Rechtfertigung durch wissenschaftliche Erkenntnis, die man die „naturwissenschaftliche Chimäre“ der modernen Kunst nennen könnte.

Rein theoretisch könnten alle Hervorbringungen der Künste in dafür geschaffenen Kunstöffentlichkeiten um das „interesselose Wohlgefallen“ der Kunstinteressierten blauäugig rittern. Das haben die Codes der Kunst in der Vergangenheit immer weitgehend verhindert. Seit den Kunstakademien des Dritten Reiches ist das gänzlich unmöglich (nicht seit dem „Schwarzen Quadrat“ von Malewitsch, nicht seit dem „Ulisses“ von Joyce, nicht seit dem „Watschenkonzert“ von Schönberg, sondern erst seit A. Hitler!). Zu den Codes, was Kunst ist und was Kunst nicht ist, kam nach 1945 folgendes Argument: Dieses Werk ist gewiss Kunst, denn die Nazis hätten es sofort verfolgt. - Still und leise, ohne Diskussion, fand etwa fünf Jahre nach der Nazi – Überwindung eine Kultur – Umwertung statt, die das Kind mit dem Bade ausgoss. Das obige Argument wird von Betrieben, Gremien und Experten der Kunst immer noch als Freibrief für Ignoranz und Intoleranz benutzt.

Auch die nicht – verrückten, weil allgemein plausiblen Kriterien sind in Schweigen und Lichtarmut gehüllt. Stangl schreibt: „natürlich hat die Hochpostmoderne auch ihre Netze und ziemlich genaue Kriterien, über die man nur nicht spricht. Man mag diese Kunst eben, oder man mag sie nicht“ (a.a.O., S. 152) An dieser Stelle bringt er das düstere Beispiel vom „Kürbisficker“, der mindestens vier schöne Kunstkriterien erfüllt, aber alles andere als ein schönes Werk ist (die Frauen sollten sich dazu äußern). Ein Akteur, den man nur auf einer Leinwandprojektion sieht, stößt sein Glied in einen weichen Kürbis hinein. „Meiner Erinnerung nach von Erwin Wurm anlässlich einer make-nite (12 Mistkübel und 1 Video) 1996 getan.“ (a.a.O., S. 153)

Stangl hat die Verwalter der Kunst, die zu schweigen verstehen, und die lauten Künstler, die die Werke liefern, im Auge, aber auch die Novizen der Kunst. Das sind diejenigen, die die Regeln dieses In- und Out – Spiels noch nicht kennen und denken, dass es auf ihre Erfahrungen ankommt. Sie wollen ihre Fragmentiertheit und ihre Ganzheit künstlerisch ausdrücken, doch das ist naiv, darum geht es nicht. So werden die Jungen in die Ego – und Nichts – Kultur hinein gelockt, die ihnen das Gefühl für Ganzheit austreibt. „Die Kunstschaffenden der Moderne gaukeln Suchenden, Leidenden und Interessierten vor, es gäbe einzig eine zerrissene, schlechte Welt, aus der heraus nur eine Kunstreligion Erlösung bringen könnte“ (a.a.O., S. 400)

Niemand wagt es heute, sich der Nichts – Kultur zu verweigern, indem er statt Nichts zum Beispiel „Baum“ sagt, denn auch die Regeln für „sinnvolles Sprechen“ werden überwacht. Dagegen kann auch Manfred Stangl nicht viel machen, aber er hat noch die Parodie parat. Und die ist stark: „Neodada lang schon da da. Sprach als Installata und gemixte Insalata, ha da Wut, die Flut aus Bild und Fut, origeil und porschefeil, weil Seil Seil (…) was groß Kunst das, was viel schön Spaß, muss hohe Kunst sein, geht leicht ins Auge rein (…) und Neodada ganz abstrakt, ha da lass ma jeds dritte Wort weg, ah da, so schauts aus, so schnauz draus, Kunst sunst Dunst, Nieselbrunst, ergo sum: Kreiselbrumm, Beislstumm, Riesentrumm, Seltendumm, seisdrum.“ (a.a.O., S. 156) Obwohl der Autor diese Zeilen nicht als Kunst versteht, sind sie formal nicht schlechter als echter Neodada. Das heißt nun auch: Manfred Stangl gibt es nicht nur in seiner Philosophie, auch in seiner Poesie nicht billig.

© M.Luksan, Oktober 2020

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