DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Ein großes Manko der Literatur

Vielen Damen und Herren der Literatur genügt es nicht, kleine Sprachkunstwerke zu fabrizieren und sie vom Leser prüfen zu lassen, ob die Form den angepeilten Inhalt trifft. Sie wollen auch mit Grundsätzen übereinstimmen, die zu einem für zeitgemäß gehaltenen Literaturbegriff dazugehören. Dabei bedenken Sie nicht, dass ein solcher Begriff immer eingeschränkt ist: dass er nicht alle Möglichkeiten von poetischer Literatur beinhaltet. „Wer erzählt, zählt nicht“ - so lautete einst ein kleinliches und restriktives Prinzip, an das sich heute niemand mehr hält.

Ein paar andere Prinzipien, die – genau genommen – Dogmen sind, sind aber noch in Kraft, denn sie werden gebraucht, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhöhen und das eigene Gebilde aufzuwerten. Zum Beispiel der „allwissende Autor“ ist noch immer ein No-Go in der Literatur, obwohl der auktoriale Autor auf jeder zweiten Seite sagen kann: Ich weiß wirklich viel, doch in folgender Sache weiß ich nichts, weil ich sie nicht bedacht, nicht recherchiert, nicht vorbereitet habe! - Ein solches Eingeständnis will ein heutiger Autor nicht machen. Er fühlt sich stärker und sicherer, wenn er mit Hilfe von Literaturideologie einen höheren Wert für sein Zeug einfordern kann als mit Hilfe seiner Persönlichkeit.

Eine heutige Autorin teilte unlängst mit, dass sie Figuren überhaupt nicht darstellen wolle. Figuren nicht darstellen, ist ihr gutes Recht. Sie fügte aber eine ideologische Rechtfertigung hinzu. Sie sagte: Wenn ich schreibe, sitzen solche Figuren „nicht mit am Küchentisch“. Das ist eine ungeschickte Wendung, die mehr Fragen öffnet als beantwortet, aber immer noch vorteilhafter für sie, als wenn sie gesagt hätte: Ich habe weder Sinn noch Gestaltungskraft für Figuren! - I. Bachmann, die um die passende Form für den jeweiligen Inhalt noch rang, hat ideologische Sätze hinterlassen, die man in Klagenfurt manchmal an die Wand heftet. Einer lautet: „Ich weiß keine bessere Welt“ (id est: Kommt mir nicht mit Visionen und Utopien!) Sie hat jedoch nicht das Gebot der negativen Darstellung befolgt, das im Grunde ärger einschränkt als der Verzicht auf die auktoriale Gebärde. Sie hat zum Beispiel in „Malina“ eine totale Aufwertung des erzählenden Ich und eine totale Abwertung der umgebenden Figuren nicht praktiziert.

Thomas Bernhard



Wer das jedoch tat, war Thomas Bernhard. Die Denunzierung sämtlicher Figuren ausgenommen das sprechende Ich gehört untrennbar zu seiner Kunst. Es ist bis heute nicht untersucht, ob das Schmähen und das Schimpfen bei Bernhard eine Ideologie der Literatur weiter entwickelt hat oder ob es primär eine Schreiberleichterung für den Autor gewesen ist. Eine solche Fragestellung gilt noch als Tabu. Im Roman „Frost“ wertet Bernhard halb Salzburg ab. Er schreibt „von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen (…) nicht größer als einen Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt.“ Diese allgemein erfasste und als typisch für die Gegend erkannte Bevölkerung, ordnet er dem realen Ort Weng im Pongau zu, ohne dass die Literaturkritik gesagt hätte: Das ist nicht Freiheit der Poesie, sondern deren Missbrauch! - Der Text strotzt auch vor pseudowissenschaftlichen Erklärungen, die außer Werner Schneyder wohl kaum jemand moniert hat: „Die extremen, den in ihr lebenden Menschen fortwährend irritierenden und enervierenden und in jedem Fall krank machenden Wetterverhältnisse (…) erzeugen immer wieder solche geborenen oder hineingezogenen Salzburger.“

Andreas Maier, ein Bernhard – Schüler, schreibt in „Die Straße“: „Es war egal, ob das Zimmer und das Haus und die Straße in unserem Ort und unsrem Kreis, dem Wetterauerkreis, lagen oder ob das Zimmer und die Wohnung und alles Weitere in Frankfurt oder Hamburg oder beim Lahn – Dill – Kreis oder in irgendeinem Landkreis in Ostwestfalen lagen, die Straße, auf der alles kam, war dieselbe, die Menschen waren dieselben, die Magazine waren dieselben, und die Abnehmer waren ebenfalls dieselben. In jedem Ort, in jeder Stube sahen sie dieselben Busen, dieselbe zukolorierte Scham, dieselben Ärsche, so wie sie, eine Wand weiter in der nächsten Wohnung, den neuen Dr. Sommer – Artikel lasen.“

Auch hier ist nicht eine Person, sondern eine ganze Gegend betroffen. Eine ganze Gegend ist geil und sogar strafrechtlich relevant, weil in den Fachwerkhäusern der Wetterau - laut Maier – eine Menge Pädophile wohnen. Die Rhetorik ist stark, aber die satirische Botschaft ist schwach, denn sie lässt sich restlos in die Formel fassen: „die Straße, auf der alles kam“. Ähnlich wie Bernhard schafft Maier eine poetische Welt, die krank, ekelhaft und Angst machend ist und zu der das Erzähler – Ich nicht dazu gehört. Obwohl es in der erzählten Handlung mitspielt, ist es – wie Parzifal - völlig frei von der allgegenwärtigen Amoralität.

Natürlich soll ein Autor/eine Autorin bei der Darstellung der unglücklichen Jugend mit der sozialen Umwelt abrechnen. Er/sie darf aber nicht die halbe Welt als die ganze Wahrheit präsentieren. Der Leser, der bei Trost ist, will keine geile Wetterau und keinen krüppelhaften Pongau bewundern, sondern er wünscht sich die Fülle der Welt. Dazu gehören die positiven Erfahrungen mit der Welt und die negativen mit dem eigenen Ich. Bei Bernhard trägt das Ich maßlose und wahnsinnige Züge, doch bei Maier achtet es auf Maß und Vernunft. Aus diesem Grund ist er noch anfechtbarer als Bernhard, der stets die ganze Existenz im Auge hatte und ein Buch nur über Doktorspiele, schmutzige Wörter und die Opfer der Pädophilen nicht geschrieben hätte.

Die Leute im Betrieb sollten mit ihren Dichtern und Dichterinnen einmal über die Fülle der Welt reden. Die Fülle der Welt und das Fading des Ich. Die heikle Beziehung zur Mutter soll dargestellt werden, aber auch der Ruhepunkt, der die Tante war. Das Erwachen der Sexualität soll dargestellt werden, aber auch die Erfolge durch Kreativität. Die Furcht vor Mobbing soll dargestellt werden, aber auch der Sieg im Wettbewerb. Natürlich ist das Ich, das nur überleben will, am Häufigsten verbreitet, aber es ist nicht annähernd so ergiebig wie das Ich, das in der Gesellschaft einen Platz erkämpfen will. Ein Teil der heutigen Literatur missbraucht die Kreativität und die Schönheit dafür, das Banale und das Rationale aus der Prosa auszuschließen. A. Maier behauptet in „Die Straße“, dass er zwischen 14 und 16 von dem Wort „ficken“ stark bewegt wurde. Kann sein. Aber mit 16 hat ihn möglicherweise schon der Wunsch bewegt, ein Suhrkamp – Autor zu werden. Auch so einen Wunsch will der Leser in der Literatur dargestellt haben.

© M.Luksan, März 2021

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