Vielen Damen und Herren der Literatur genügt es nicht,
kleine Sprachkunstwerke zu fabrizieren und sie vom Leser
prüfen zu lassen, ob die Form den angepeilten Inhalt trifft.
Sie wollen auch mit Grundsätzen übereinstimmen, die zu
einem für zeitgemäß gehaltenen Literaturbegriff dazugehören.
Dabei bedenken Sie nicht, dass ein solcher Begriff immer
eingeschränkt ist: dass er nicht alle Möglichkeiten von poetischer
Literatur beinhaltet. „Wer erzählt, zählt nicht“ - so lautete
einst ein kleinliches und restriktives Prinzip, an das sich
heute niemand mehr hält.
Ein paar andere Prinzipien, die – genau genommen – Dogmen
sind, sind aber noch in Kraft, denn sie werden gebraucht,
um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhöhen und das
eigene Gebilde aufzuwerten. Zum Beispiel der „allwissende
Autor“ ist noch immer ein No-Go in der Literatur,
obwohl der auktoriale Autor auf jeder zweiten Seite sagen
kann: Ich weiß wirklich viel, doch in folgender Sache weiß ich
nichts, weil ich sie nicht bedacht, nicht recherchiert,
nicht vorbereitet habe! - Ein solches Eingeständnis will ein
heutiger Autor nicht machen. Er fühlt sich stärker und
sicherer, wenn er mit Hilfe von Literaturideologie einen
höheren Wert für sein Zeug einfordern kann als mit Hilfe
seiner Persönlichkeit.
Eine heutige Autorin teilte unlängst mit, dass sie Figuren
überhaupt nicht darstellen wolle. Figuren nicht darstellen,
ist ihr gutes Recht. Sie fügte aber eine ideologische Rechtfertigung
hinzu. Sie sagte: Wenn ich schreibe, sitzen solche Figuren
„nicht mit am Küchentisch“. Das ist eine ungeschickte Wendung,
die mehr Fragen öffnet als beantwortet, aber immer noch
vorteilhafter für sie, als wenn sie gesagt hätte: Ich habe weder
Sinn noch Gestaltungskraft für Figuren! - I. Bachmann, die
um die passende Form für den jeweiligen Inhalt noch
rang, hat ideologische Sätze hinterlassen, die man in
Klagenfurt manchmal an die Wand heftet. Einer lautet: „Ich weiß
keine bessere Welt“ (id est: Kommt mir nicht mit Visionen
und Utopien!) Sie hat jedoch nicht das Gebot der negativen
Darstellung befolgt, das im Grunde ärger einschränkt als der
Verzicht auf die auktoriale Gebärde. Sie hat zum Beispiel
in „Malina“ eine totale Aufwertung des erzählenden Ich und
eine totale Abwertung der umgebenden Figuren nicht
praktiziert.
Wer das jedoch tat, war Thomas Bernhard. Die Denunzierung
sämtlicher Figuren ausgenommen das sprechende Ich gehört
untrennbar zu seiner Kunst. Es ist bis heute nicht
untersucht, ob das Schmähen und das Schimpfen bei Bernhard
eine Ideologie der Literatur weiter entwickelt hat oder ob
es primär eine Schreiberleichterung für den Autor gewesen
ist. Eine solche Fragestellung gilt noch als Tabu. Im
Roman „Frost“ wertet Bernhard halb Salzburg ab. Er
schreibt „von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen
(…) nicht größer als einen Meter vierzig im Durchschnitt,
torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch
erzeugt.“ Diese allgemein erfasste und als typisch für die
Gegend erkannte Bevölkerung, ordnet er dem realen Ort
Weng im Pongau zu, ohne dass die Literaturkritik
gesagt hätte: Das ist nicht Freiheit der Poesie, sondern
deren Missbrauch! - Der Text strotzt auch vor pseudowissenschaftlichen Erklärungen, die außer Werner Schneyder
wohl kaum jemand moniert hat: „Die extremen, den in ihr
lebenden Menschen fortwährend irritierenden und
enervierenden und in jedem Fall krank machenden
Wetterverhältnisse (…) erzeugen immer wieder solche
geborenen oder hineingezogenen Salzburger.“
Andreas Maier, ein Bernhard – Schüler, schreibt in
„Die Straße“: „Es war egal, ob das Zimmer und das Haus
und die Straße in unserem Ort und unsrem Kreis, dem
Wetterauerkreis, lagen oder ob das Zimmer und die Wohnung
und alles Weitere in Frankfurt oder Hamburg oder beim
Lahn – Dill – Kreis oder in irgendeinem Landkreis in
Ostwestfalen lagen, die Straße, auf der alles kam, war dieselbe,
die Menschen waren dieselben, die Magazine waren dieselben,
und die Abnehmer waren ebenfalls dieselben. In jedem Ort, in
jeder Stube sahen sie dieselben Busen, dieselbe zukolorierte
Scham, dieselben Ärsche, so wie sie, eine Wand weiter in
der nächsten Wohnung, den neuen Dr. Sommer – Artikel
lasen.“
Auch hier ist nicht eine Person, sondern eine ganze Gegend
betroffen. Eine ganze Gegend ist geil und sogar strafrechtlich
relevant, weil in den Fachwerkhäusern der Wetterau -
laut Maier – eine Menge Pädophile wohnen. Die Rhetorik
ist stark, aber die satirische Botschaft ist schwach, denn sie
lässt sich restlos in die Formel fassen: „die Straße, auf der
alles kam“. Ähnlich wie Bernhard schafft Maier eine
poetische Welt, die krank, ekelhaft und Angst machend ist
und zu der das Erzähler – Ich nicht dazu gehört. Obwohl
es in der erzählten Handlung mitspielt, ist es – wie Parzifal -
völlig frei von der allgegenwärtigen Amoralität.
Natürlich soll ein Autor/eine Autorin bei der Darstellung der
unglücklichen Jugend mit der sozialen Umwelt abrechnen.
Er/sie darf aber nicht die halbe Welt als die ganze Wahrheit
präsentieren. Der Leser, der bei Trost ist, will keine geile
Wetterau und keinen krüppelhaften Pongau bewundern,
sondern er wünscht sich die Fülle der Welt. Dazu gehören
die positiven Erfahrungen mit der Welt und die negativen mit
dem eigenen Ich. Bei Bernhard trägt das Ich maßlose
und wahnsinnige Züge, doch bei Maier achtet es auf Maß
und Vernunft. Aus diesem Grund ist er noch anfechtbarer
als Bernhard, der stets die ganze Existenz im Auge hatte
und ein Buch nur über Doktorspiele, schmutzige Wörter
und die Opfer der Pädophilen nicht geschrieben hätte.
Die Leute im Betrieb sollten mit ihren Dichtern und Dichterinnen
einmal über die Fülle der Welt reden. Die Fülle der Welt
und das Fading des Ich. Die heikle Beziehung zur Mutter
soll dargestellt werden, aber auch der Ruhepunkt, der die Tante
war. Das Erwachen der Sexualität soll dargestellt werden,
aber auch die Erfolge durch Kreativität. Die Furcht vor Mobbing
soll dargestellt werden, aber auch der Sieg im Wettbewerb.
Natürlich ist das Ich, das nur überleben will, am
Häufigsten verbreitet, aber es ist nicht annähernd so
ergiebig wie das Ich, das in der Gesellschaft einen Platz
erkämpfen will. Ein Teil der heutigen Literatur missbraucht
die Kreativität und die Schönheit dafür, das Banale und
das Rationale aus der Prosa auszuschließen. A. Maier
behauptet in „Die Straße“, dass er zwischen 14 und 16
von dem Wort „ficken“ stark bewegt wurde. Kann sein. Aber
mit 16 hat ihn möglicherweise schon der Wunsch bewegt,
ein Suhrkamp – Autor zu werden. Auch so einen Wunsch
will der Leser in der Literatur dargestellt haben.
© M.Luksan, März 2021
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