Unsere Kultur kann Wirtschaft, Politik und Alltagsleben nicht
beeinflussen, aber sie schickt Conchita Wurst zu Werner
Faymann, damit er ihr eine Sachertorte überreicht.
Kulturschaffende prägen Begriffe und kündigen Programme
an, doch in der Wirtschaft und in der Politik rühren
die Verantwortlichen keinen Finger. Auf Kongressen wird
applaudiert und auf Stammtischen lacht man über das
Dritte Klosett. ZB. das transparente Ich, das kein Privates mehr
kennt und sich selber arg bezichtigt (Pädophilie, Tierquälerei und
Anthropophagie kommen noch nicht vor) bedient einen
kulturellen Trend. Für diesen Trend wird die Scham, die den
Menschen verletzlich macht, aufgegeben und ein apartes
Menschsein gewonnen. Das gehört – angeblich – zur Humanität
dazu.
Das Ich, das der Einzelne zum Leben braucht, wird durch ganz
verschiedene Bereiche des modernen Lebens unter Druck
gesetzt. Wo überall und wie sehr ist überhaupt nicht untersucht.
Doch die Kultur setzt das Ich nicht nur unter Druck, sie
stellt es ideologisch in Frage. Die Kritik am Ego – Wahn ist die
Kritik an bestimmten Extremen. Als man um 1950 das Hitler – Ich
breit diskutierte, wäre niemand auf die Idee gekommen, auch
das existentialistische Ich mit abzuschaffen. Heute ist die Technik
unerhört differenziert, aber das Denken ist pauschaliert.
Mit Hilfe von ganz wenigen Gegensatz – Paaren wird überall
Ordnung in das Chaos der Sachverhalte gebracht.
Das Ich soll auf das Selbst zusammen schrumpfen. Ein Weg
dorthin ist das Ende der Scham. ZB. ein junges Paar kopuliert
öffentlich in einer U – Bahn – Station, anstatt zu Hause in seinem
Bett. Das ist gewiss ein mehrdeutiges Phänomen. Das
Verhalten ist erstens aggressiv, weil es andere belästigt. Es
beendet zweitens ein Geheimnis und macht unverletzlich. Und
drittens vermischt es den privaten Raum mit dem öffentlichen.
Natürlich gibt es auch keine Scham mehr, wenn sich H. Phettberg
im Fernsehen nackt an ein Seil binden lässt, oder wenn
F. Schuh in einer Glosse ohne zwingende Notwendigkeit auf
seine Fettleibigkeit verweist.
Im privaten Kreis - Pariser Familie, 1963
Das Ende der Scham und das Ende der Privatheit hängen
offensichtlich miteinander zusammen. Wollte man eine
Verschwörungstheorie entwerfen, könnte man eine groß
angelegte Strategie vermuten, die das Ziel hat, die
Widerstandskraft des Ich zu brechen, damit der instinkthafte
Widerstand gegen die Zumutungen der Gesellschaft aufhört.
Das wäre die Ausschaltung einer Resistenz, die aus der Scham,
dem Stolz, der Würde, nicht eigentlich aus dem Denken
kommt. Sowas Teuflisches muss man aber nicht vermuten.
Es genügt die Annahme, dass der Einzelne den eigenen Gedanken,
die eigenen Vorlieben, nicht sein Eigentum!, aber doch sein
geistig Eigenes verlieren soll, damit er lockerer einkauft.
Warum aber soll man Privatheit, basierend auf „the right to be
left alone“, aufgeben? Ein alter Römer hätte diese Frage absurd
gefunden, doch heute liegt sie nah. Weil Privatheit die Möglichkeit
zur Erpressung bietet. Sie ist der Raum, in dem sich der
Einzelne unbeobachtet weiß, sodass er sich frei und
ungezwungen verhält. Er muss im privaten Kreis normalerweise
nicht befürchten, dass Dritte von seinem Verhalten Kenntnis
erlangen und ihn deswegen bloßstellen und verletzen. -
In der modernen Gedankenwelt spielt Perfektion eine
große Rolle. Der Einzelne soll Privatheit verlieren, um
nicht durch sich selbst behindert zu sein, wenn er versucht,
sich als vollständig zu präsentieren. Damit sind wir wieder beim
transparenten Ich, dass behauptet, dass es nichts zu verbergen
hat.
Das Private und das Öffentliche sind genau genommen
schon seit langem vermengt. Durch den Sozialstaat (der
natürlich nötig ist). Wenn er Mängel in der Familie und im
Arbeitswesen ausgleicht, nimmt er Daten von denen, die er
durch Transferleistungen unterstützt. Doch die Datensammlerei
geht weit über eingegrenzte Zwecke hinaus. Sie ist ziellos,
maßlos und gigantisch. Nicht nur die Behörden, auch die
großen Arbeitgeber und natürlich die Digi – Konzerne
sind rasend fleißig dabei, die Daten des Einzelnen zu
sammeln. Haushaltsdaten. Einkommensdaten. Verwandtschafts-
daten. Gesundheitsdaten. Bewegungsdaten usf. Sie werden
entweder direkt erfragt oder indirekt aufgegriffen durch die
Spuren, die man durch Telefonieren, Mailen, Chatten und
Surfen – im – Internet hinterlässt.
Das naive Ideal „Ich habe nichts zu verbergen“ beruht auf
Unwissenheit, über die man aufklären sollte. ZB. Ein mittelständischer
Pensionist, relativ gesund, abgesichert und momentan sorgenfrei,
glaubt, dass er nirgendwo was zu verbergen hat. Er gibt
sein Alter und seine Rüstigkeit an, den Umstand, dass er sein
Auto selten verwendet. Daraufhin schließt ihn die Verwaltung
von der Mitgestaltung der „neuen Seidenstraße“ aus, die
bis nach Wien führen soll. Der Algorithmus hat nämlich
festgelegt, dass über 70-jährige, die sich nicht primär durch
Auto fortbewegen, gegen neue Verkehrswege Vorbehalte
haben.
Wer Bildung hat und sich die Welt um ihn herum bewusst macht,
kann für jeden Bereich sagen, was dort die Norm ist und ob
er selber diese Norm erfüllt. Soviel Wissen und richtige
Selbsteinschätzung ist dem Gebildeten gegeben. Doch er kennt
nie (!) die Kontexte, auf die die Daten und also auch der Typ,
der er selber ist, morgen schon bezogen werden. Und wenn
er dann einem unerwünschten Muster entspricht und
ausgeschieden wird, wird dieser Ausschluss zwar irgendwo
gespeichert, aber er erfährt nur zufällig davon und kann ihn
selber unmöglich löschen. Das ist das alte Grauen, über das
die Kafka, Orwell, Kundera geschrieben haben. In Österreich
sind solche Ausschlüsse nicht tödlich, aber Datensammlerei
erzeugt in jedem Fall irrelevante Personen, sog. marginal
men.
Arg soll es in England sein. Dieses Land der Freiheit und der
Demokratie hat sich offenbar zu einer Überwachungsgesellschaft
entwickelt. Das Gros der Engländer scheint das nicht zu
stören, doch der Künstler James Bridle geht herum, fotografiert
so viele Kameras wie möglich und malt den Umriss der
Überwachungsdrohne auf Gehsteige. Er macht Kunst als
Aufklärung. In Frankreich, Deutschland und Österreich ist
die Hysterie der Verwaltung offenbar noch nicht gegeben,
obwohl auch diese Länder starke Terror – Attacken schon
erlebt haben. Allerdings wird die Idee der Einschränkung
der Privatsphäre, die ohnehin nur die „kleine Privatheit“ ist,
bereits weltweit diskutiert, obwohl Privatheit zu den
Grundbedürfnissen des Menschen zählt.
Das Gros unserer kulturellen Sparten verfolgt – durch
Aufklärung, Ideologie und künstlerische Darstellung -
das ungezügelte Überwachen überhaupt nicht. Die
Unterhaltung liefert „Die Lugners“ am Swimmingpool und
die Starlets im „Dschungelcamp“, die de facto eine
wertlose „privacy“ vor Augen führen. Solche Sendungen
dienen erstens einer schädlichen Ideologie und täuschen
zweitens Privatheit nur vor. Und die für Aufklärung und für
Kunst zuständigen Sparten sind bemüht, die kleine Privatheit
und das intakte Ich in Frage zu stellen, anstatt sich die
große Privatheit (den privaten Besitz) als einen Hauptgegenstand
zu wählen und das Ich des Einzelnen auf die richtige Art
zu stärken.
© M.Luksan, November 2021
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