DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Ein Moment der Wahrheit in der Fotografie

Auf den Weg vom Porträt zum prallen Leben gelangt der Fotograf zum Beispiel dadurch, dass er vom Studio ins Nacht-Café geht und dort den Kuss des Liebespaares oder den eingenickten Trinker festhält, der bewusstlos über sein Glas gebeugt ist. Der Franzose Brassai erneuerte die Kunst der Fotografie in Richtung auf den Alltag. Seine besten Bilder fangen Lebensmomente klassisch ein, doch ist seine Lebendigkeit gebremst. Er hat, was hier vielleicht ein Manko des Klassikers ist, die Bedeutung und den Sinn eines Wortes durch ein Foto genau konkretisiert. Er nahm z.B. den Einsamen unter der Laterne auf, als müsste er etwas optisch veranschaulichen, was die Wörter einer Sprache bereits modellhaft in sich enthalten.

Die Amerikaner Weegee und Dorothea Lange hatten ebenfalls mit dem Porträt begonnen, waren aber früh an der Sensation des Bildinhaltes interessiert. Den toten Gangster in der Blutlache hatte man so bisher noch nicht gesehen, den scharfen Hosenbug und die funkelnden Lackschuhe (Alles ganz umsonst!), sodass sich die Details ungeheuer einprägen. Die Komposition des Bildes hatte Weegee natürlich auch im Griff. Die Fotos von Lange sind jedoch mit einem Aufruf verknüpft. Er könnte lauten: „Schluss mit dem Elend! Politiker stellt das ab!“ Diese politische Absicht ist bei den Elenden in ihren elenden Autos und bei den Ausgehungerten auf ihren Lagerplätzen unmöglich wegzudenken. Ihr berühmtestes Foto ist die „Migrant Mother“, eine abgemagerte Wanderarbeiterin mit dem Kind an der Brust, das vor allem dadurch irritiert, dass man sieht, dass diese Frau einmal schön gewesen ist.

Die Migrant Mother genügte dem Anspruch der Fotografin, alles Fotografierte als Teil seines Umfeldes abzubilden. Diese Künstlerin hat aber leider die Beziehung des Fotografen zum Objekt der Fotografie ignoriert. Laut Historie sprang Frau Lange aus einem neuen Auto und ging wortlos, Foto auf Foto schießend, auf die Wanderarbeiterin zu. Sie hatte sie vorher, beim Vorbeifahren, gesehen. Das Porträt zeigt aber kein Ding, sondern einen Menschen, der sich des Kameraauges bewusst ist und dadurch verändert. D. Lange aber wollte ein objektives Leid zeigen, für die Farm Security Behörde, die sie dafür engagiert hatte.

Pariser Familie
Foto von Leo Kandl, Aus: Weinhaus, Zürich 1999

Das Visitformat des 19. Jahrhunderts (steife Verschlossenheit der Person auf einem 6 mal 9 cm - Foto) war natürlich seit langem überwunden. Dennoch war die Porträtfotografie in der Frage unentschlossen, wie viel Lebendigkeit der Person sie an welchem Ort erlauben oder provozieren sollte. Den Österreicher Leo Kandl beschäftigte diese Frage vermutlich seit den Anfängen seines Fotografierens. „Mir geht es um das Erlebnishafte“, sagte er einmal, „Ich wollte direktere Bilder (…) unbeschönigte Menschen.“ In einem Studio sind diese kaum zu finden, also ging er nach draußen, wo Alltag abläuft. Doch es gibt viele Alltage. Man kann die Leute auf der Straße aufnehmen, wo sie an einem vorbei eilen, oder den Politiker beim Pressetermin, wo er pseudo - locker spricht. Die Leute kann man auch zu Hause aufnehmen, wo sie sich vor der Bücherwand präsentieren. In solchen und ähnlichen Welten sah aber Kandl keine Chance, die starke und flache Routine der Menschen zu durchbrechen.

Das Porträtfoto, das mehr sein möchte als nur das Abbild der Person, wurde speziell in Österreich eine Zeitlang in der Prominenten – Szene gesucht. So entstanden Bilder von Hundertwasser, verschämt lächelnd und bizarr gekleidet, und von Otto Mauer, im Schwarzrock und mit Feiermiene, und von Helmut Qualtinger, mit dem Weinglas in der Hand. Die Wirkung von Prominenz konnte Kandl – glücklicherweise – auch nicht benötigen. Denn der Herausragende hat seine Posen, Manieren und Allüren so sehr entwickelt, dass man auch dann nicht sein Wesen sehen kann, wenn er so bescheiden und gradlinig wie der Hungerpastor ist.

Pariser Familie
Foto von Leo Kandl, a.a.O.

Die Kunst des Leo Kandl lehnt aber die Performance oder Selbstdarstellung des Einzelnen nicht ab, sondern zeigt sie im Weinhaus, in der Bahnhofskantine, im Nacht-Café, außerhalb der anerkannten Selbstdarstellungen. Man könnte vielleicht sagen: Er zeigt Menschen, so wie sie für sich gerne sind. Das ist einzigartig, dass hier die Fotokunst das Wesen des Einzelnen durch seine Übertreibungen und privaten Späße hindurch festzuhalten vermag. In Bild Eins zeigt Kandl einen noch jungen Mann in der dunklen Weinstube, der mit zwei Bierflaschen Theater macht. Im weißen Hemd mit den aufgekrempelten Ärmeln ist er ein Schauspieler seiner selbst, der sich für Beiselgäste exponiert. Auf seinem hübschen Gesicht mit großen Augen liegt die verhaltene Freude über den Spaß, den er sich und anderen bereitet. In Bild Zwei hat Kandl einen Mann mittleren Alters eingefangen, der mit zwei Fingern seiner Hand eine – noch – freundliche Warnung ausdrückt. Gleichsam: Übertreibt es nicht, es kann noch anders kommen! Kandl hebt das Samtsakko und die Locken des Mannes per Blitz vom Kaffeehaus – Plüsch ab. Dieser „Einzelne im Schatten“ veranschaulicht die nicht – intellektuelle Nachdenklichkeit sehr gut.
In Bild Drei haben wir drei lachende Personen vor uns. Sie stehen zwischen einem Stehtisch und einer lang gezogenen Schank. Diesmal war Kandl nicht nur wachsam und bereit, er hat auch interveniert. Zwei der drei Personen, ein verlotterter, ältlicher Mann und eine Kantinenfrau mit Haarreifen und Zahnlücken, lachen direkt ins Objektiv. Die dritte Person jedoch, eine Frau mit Kopftuch, die sich ins Profil gedreht hat, lacht umso mehr. Sie hat offenbar dem Zuruf „Schaut bitte her!“ nicht Folge geleistet. Mit diesem dritten Bild fing Kandl jenen raren Moment ein, wo der Spaß, den Menschen miteinander hatten, noch auf ihren Gesichtern liegt, obwohl er schon vorbei ist. Die große Lässigkeit dieses Fotos ist der Kunst, nicht dem Zufall geschuldet.

Pariser Familie
Foto von Leo Kandl, a.a.O.

Leo Kandl hat Menschen aus aller Welt verewigt. Er besuchte vor allem große Städte und suchte dort seine Modelle per Inserat. So war dann das Fotoshooting immer mit Spannung aufgeladen, in London, in Moskau oder in New York, zumal er nicht dazu gesagt hatte, dass es um „Kunstporträts“ gehen werde. Seine Freude am Erlebnis war die Freude am Gegenüber, das man noch nicht kennt. Das war ein Höhepunkt seines Fotografierens, wenn aus dem unbekannten Einzelnen das Du hervor blitzte. Er fotografierte aber auch Dinge, z.B. benutzte Kleidungsstücke, wo die besagte Spannung wegfiel und trotzdem eine große Sensibilität nötig war, um typische Intimitäten (denn um totale ging es nicht!) herauszufinden und durch die Kunst festzuhalten. Das über den Sessel geworfene Sakko bestätigte dann nicht eine banale Realität, sondern erweiterte den normalen Blick auf ein alltägliches Ding.

Den Weg zu seiner Meisterschaft musste Kandl in Österreichs beengtem Kulturmilieu finden. Hier steht ein Teil der Kunstexperten und ein Teil der Künstler total im Bann ausländischer Moden. Auch galt die Fotografie in Österreich lange Zeit nichts. Über diesen Weg sollte man Kandl einmal interviewen. Man könnte dann die Normen der Moderne, die nicht zuletzt auch die Fotografie behindern, gut studieren. Das Wort über Kandl als „Agenten des Gewöhnlichen“ gehört zur dümmlichen Diktion. Denn das Gewöhnliche in der Fotografie gibt's schon lange, lange, und Leo Kandl hat diese Sphäre überwunden, indem er mitten im Gewöhnlichen die existentielle Lebendigkeit abbildete. R. Barthes sagt in seiner „Hellen Kammer“, dass man durch ein Foto einem Einzelnen überraschend nahe kommen kann. Man erkennt im Jugendfoto eine Facette der erwachsenen Person. Diese Facette bleibt offensichtlich erhalten und lebt weiter in der Lebendigkeit der Person.

© M.Luksan, Jänner 2022

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