Auf den Weg vom Porträt zum prallen Leben gelangt der Fotograf
zum Beispiel dadurch, dass er vom Studio ins Nacht-Café geht
und dort den Kuss des Liebespaares oder den eingenickten
Trinker festhält, der bewusstlos über sein Glas gebeugt ist. Der
Franzose Brassai erneuerte die Kunst der Fotografie in Richtung
auf den Alltag. Seine besten Bilder fangen Lebensmomente
klassisch ein, doch ist seine Lebendigkeit gebremst. Er hat, was hier
vielleicht ein Manko des Klassikers ist, die Bedeutung und den
Sinn eines Wortes durch ein Foto genau konkretisiert. Er nahm
z.B. den Einsamen unter der Laterne auf, als müsste er etwas
optisch veranschaulichen, was die Wörter einer Sprache bereits
modellhaft in sich enthalten.
Die Amerikaner Weegee und Dorothea Lange hatten ebenfalls mit dem
Porträt begonnen, waren aber früh an der Sensation des Bildinhaltes
interessiert. Den toten Gangster in der Blutlache hatte man so
bisher noch nicht gesehen, den scharfen Hosenbug und die
funkelnden Lackschuhe (Alles ganz umsonst!), sodass sich
die Details ungeheuer einprägen. Die Komposition des Bildes
hatte Weegee natürlich auch im Griff. Die Fotos von Lange sind
jedoch mit einem Aufruf verknüpft. Er könnte lauten: „Schluss
mit dem Elend! Politiker stellt das ab!“ Diese politische Absicht
ist bei den Elenden in ihren elenden Autos und bei den
Ausgehungerten auf ihren Lagerplätzen unmöglich wegzudenken.
Ihr berühmtestes Foto ist die „Migrant Mother“, eine abgemagerte
Wanderarbeiterin mit dem Kind an der Brust, das vor allem
dadurch irritiert, dass man sieht, dass diese Frau einmal schön
gewesen ist.
Die Migrant Mother genügte dem Anspruch der Fotografin, alles
Fotografierte als Teil seines Umfeldes abzubilden. Diese
Künstlerin hat aber leider die Beziehung des Fotografen
zum Objekt der Fotografie ignoriert. Laut Historie sprang Frau
Lange aus einem neuen Auto und ging wortlos, Foto auf Foto
schießend, auf die Wanderarbeiterin zu. Sie hatte sie vorher,
beim Vorbeifahren, gesehen. Das Porträt zeigt aber kein Ding,
sondern einen Menschen, der sich des Kameraauges bewusst
ist und dadurch verändert. D. Lange aber wollte ein objektives
Leid zeigen, für die Farm Security Behörde, die sie dafür
engagiert hatte.
Foto von Leo Kandl, Aus: Weinhaus, Zürich 1999
Das Visitformat des 19. Jahrhunderts (steife Verschlossenheit
der Person auf einem 6 mal 9 cm - Foto) war natürlich seit langem
überwunden. Dennoch war die Porträtfotografie in der Frage
unentschlossen, wie viel Lebendigkeit der Person sie an
welchem Ort erlauben oder provozieren sollte. Den Österreicher
Leo Kandl beschäftigte diese Frage vermutlich seit den Anfängen
seines Fotografierens. „Mir geht es um das Erlebnishafte“, sagte
er einmal, „Ich wollte direktere Bilder (…) unbeschönigte
Menschen.“ In einem Studio sind diese kaum zu finden, also
ging er nach draußen, wo Alltag abläuft. Doch es gibt viele
Alltage. Man kann die Leute auf der Straße aufnehmen, wo sie
an einem vorbei eilen, oder den Politiker beim Pressetermin,
wo er pseudo - locker spricht. Die Leute kann man auch zu Hause
aufnehmen, wo sie sich vor der Bücherwand präsentieren.
In solchen und ähnlichen Welten sah aber Kandl keine Chance,
die starke und flache Routine der Menschen zu durchbrechen.
Das Porträtfoto, das mehr sein möchte als nur das Abbild der
Person, wurde speziell in Österreich eine Zeitlang in der
Prominenten – Szene gesucht. So entstanden Bilder von Hundertwasser,
verschämt lächelnd und bizarr gekleidet, und von Otto Mauer,
im Schwarzrock und mit Feiermiene, und von Helmut Qualtinger,
mit dem Weinglas in der Hand. Die Wirkung von Prominenz
konnte Kandl – glücklicherweise – auch nicht benötigen. Denn
der Herausragende hat seine Posen, Manieren und Allüren
so sehr entwickelt, dass man auch dann nicht sein Wesen
sehen kann, wenn er so bescheiden und gradlinig wie der
Hungerpastor ist.
Foto von Leo Kandl, a.a.O.
Die Kunst des Leo Kandl lehnt aber die Performance oder
Selbstdarstellung des Einzelnen nicht ab, sondern zeigt
sie im Weinhaus, in der Bahnhofskantine, im Nacht-Café,
außerhalb der anerkannten Selbstdarstellungen. Man könnte
vielleicht sagen: Er zeigt Menschen, so wie sie für sich
gerne sind. Das ist einzigartig, dass hier die Fotokunst
das Wesen des Einzelnen durch seine Übertreibungen
und privaten Späße hindurch festzuhalten vermag.
In Bild Eins zeigt Kandl einen noch jungen Mann in der dunklen
Weinstube, der mit zwei Bierflaschen Theater macht. Im weißen
Hemd mit den aufgekrempelten Ärmeln ist er ein Schauspieler
seiner selbst, der sich für Beiselgäste exponiert. Auf seinem
hübschen Gesicht mit großen Augen liegt die verhaltene
Freude über den Spaß, den er sich und anderen bereitet.
In Bild Zwei hat Kandl einen Mann mittleren Alters eingefangen,
der mit zwei Fingern seiner Hand eine – noch – freundliche
Warnung ausdrückt. Gleichsam: Übertreibt es nicht, es kann
noch anders kommen! Kandl hebt das Samtsakko und die
Locken des Mannes per Blitz vom Kaffeehaus – Plüsch ab.
Dieser „Einzelne im Schatten“ veranschaulicht die
nicht – intellektuelle Nachdenklichkeit sehr gut. In Bild Drei
haben wir drei lachende Personen vor uns. Sie stehen zwischen
einem Stehtisch und einer lang gezogenen Schank. Diesmal
war Kandl nicht nur wachsam und bereit, er hat auch interveniert.
Zwei der drei Personen, ein verlotterter, ältlicher Mann und
eine Kantinenfrau mit Haarreifen und Zahnlücken, lachen
direkt ins Objektiv. Die dritte Person jedoch, eine Frau mit
Kopftuch, die sich ins Profil gedreht hat, lacht umso mehr.
Sie hat offenbar dem Zuruf „Schaut bitte her!“ nicht Folge
geleistet. Mit diesem dritten Bild fing Kandl jenen raren
Moment ein, wo der Spaß, den Menschen miteinander hatten,
noch auf ihren Gesichtern liegt, obwohl er schon vorbei
ist. Die große Lässigkeit dieses Fotos ist der Kunst,
nicht dem Zufall geschuldet.
Foto von Leo Kandl, a.a.O.
Leo Kandl hat Menschen aus aller Welt verewigt. Er besuchte vor
allem große Städte und suchte dort seine Modelle per Inserat.
So war dann das Fotoshooting immer mit Spannung aufgeladen,
in London, in Moskau oder in New York, zumal er nicht dazu
gesagt hatte, dass es um „Kunstporträts“ gehen werde. Seine
Freude am Erlebnis war die Freude am Gegenüber, das man noch nicht
kennt. Das war ein Höhepunkt seines Fotografierens, wenn aus
dem unbekannten Einzelnen das Du hervor blitzte. Er fotografierte
aber auch Dinge, z.B. benutzte Kleidungsstücke, wo die besagte
Spannung wegfiel und trotzdem eine große Sensibilität nötig
war, um typische Intimitäten (denn um totale ging es nicht!)
herauszufinden und durch die Kunst festzuhalten. Das
über den Sessel geworfene Sakko bestätigte dann nicht eine
banale Realität, sondern erweiterte den normalen Blick auf ein
alltägliches Ding.
Den Weg zu seiner Meisterschaft musste Kandl in Österreichs
beengtem Kulturmilieu finden. Hier steht ein Teil der Kunstexperten
und ein Teil der Künstler total im Bann ausländischer Moden.
Auch galt die Fotografie in Österreich lange Zeit nichts. Über diesen
Weg sollte man Kandl einmal interviewen. Man könnte dann die Normen der Moderne, die nicht zuletzt auch die Fotografie
behindern, gut studieren. Das Wort über Kandl als
„Agenten des Gewöhnlichen“ gehört zur dümmlichen Diktion.
Denn das Gewöhnliche in der Fotografie gibt's schon lange,
lange, und Leo Kandl hat diese Sphäre überwunden, indem
er mitten im Gewöhnlichen die existentielle Lebendigkeit
abbildete. R. Barthes sagt in seiner „Hellen Kammer“, dass
man durch ein Foto einem Einzelnen überraschend nahe
kommen kann. Man erkennt im Jugendfoto eine Facette
der erwachsenen Person. Diese Facette bleibt offensichtlich
erhalten und lebt weiter in der Lebendigkeit der Person.
© M.Luksan, Jänner 2022
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