Wer ohne die Liebe seiner Eltern aufwächst und gegen Körpernormen
verstößt, braucht später einen guten Psychiater, mit dem er die
Fülle seiner Schwächen und Störungen durcharbeitet. Er wird in seiner psychischen Struktur vom Sozialen und vom Körper her
beschädigt sein. Er muss dann lebenslang aufpassen, dass er
nie bis zu dem Punkt gelangt, wo er sich entweder selbst vor
Schmerz verzehrt oder seine Umwelt unter seiner Not leiden
lässt. Die Sängerin Martha Butbul, bekannt als „Jazz Gitti“, ist
in diese destruktive Phase nie eingetreten. Sie ist trotz ihrer
inneren Spannungen nie schuldig geworden, das legen ihre
Erinnerungen nah (Jazz Gitti, Ich habe gelebt, Wien 2014).
Das will man ihr hoch anrechnen und das kann man als die
seelische Leistung ihres Lebens bewundern.
Nicht erfreulich ist ihre Mythomanie. Sie hat fest an einem
Jazz Gitti – Mythos gearbeitet. Ferdinand Bohdal, der nicht-jüdische
Vater, rettete seine jüdische Frau trotz eigener Schwierigkeiten mit
den Nazis vor der sicheren Vernichtung. Er hatte eine Urkunde
gefälscht und war desertiert und versorgte dennoch eine versteckte
Frau. Wenn´s wahr ist. Nach dem Krieg wurde ihm gedankt, indem
diese Frau, Marthas Mutter, sein Lotterleben akzeptierte. Er hatte
„ungefähr so viele Freundinnen“ wie Anzüge im Kasten (30 Stück).
Obwohl die toughe Mutter mit Business ausgelastet war, rächte sie sich
durch Seitensprünge mit Liebhabern („ständig fesche, junge Männer
im Geschäft“). Als sie 1960 verstarb, verwandelte sich der Vater,
der angeblich „ein Kämpfer“ gewesen war, in eine halbe Portion
und brachte mit nur einer Frau, die ihm jetzt genügte, das Gros
von Mutters Erbe durch.
Martha Butbul färbte das Elend ihres Elternhauses bunt. Sie
überspielt im Buch auch ihre Hässlichkeit als Kind und als
junge Frau und betont stattdessen ihre unbekümmerte und laute Art.
Sie hat den Trick ihres Lebens nicht erklärt. Um in den
Peer Groups nicht das ideale Opfer zu sein, musste sie stets
die „Flucht nach vorne“ antreten. Sie musste lernen, sich
selber zu verkleinern, noch ehe die andern sie herabwürdigen
konnten. So entwickelte Buthbul schon in jungen Jahren das
Talent, andere auf eigene Kosten zu unterhalten, weit über die
bloße Nehmer - Qualität hinaus.
Sie gewann einen Wettbewerb für junge Schlager – Talente in einem
Wiener Tanzlokal. Unter den Juroren saß Fatty George. Obwohl
sie diesen Erfolg sowie ein „Espresso Gitti“ („Gitti“ ist ihr zweiter
Vorname) bereits vorzuweisen hat, geht sie ein zweites Mal
nach Israel. Sie lebt dort am Rand der jüdischen Familie ihrer
Mutter, bis 1971. Diesen langen Aufenthalt kann sie durch ihre Ehe
mit einem Marokkaner und durch die Geburt ihrer Tochter Shlomit
gut erklären. Er ist auch der am meisten glaubwürdige Teil.
Sie hatte eine verheerende Ehe mit einem jüdischen Nordafrikaner,
der in Israel nicht als vollgültiger Jude galt, und sie musste
einen Lebenskampf durch niedrigste Berufe jahrelang bestreiten.
Das kommt den Realitäten dieser Jahre nahe.
Wieder in Wien schuf sie sich Ordnung in Geist und Seele. Sie
ließ sich von Izahk Butbul, der ähnlich wie ihr Vater ein hübscher
Mann war, jedoch charakterlos, talentlos und faul, sofort scheiden.
Sie bezahlte diesen Mann sogar aus und verkaufte ihr Espresso am
Mexikoplatz, in dem sie nicht mehr arbeiten wollte. Sie arbeitete
stattdessen als Kellnerin im Café „Alt Wien“, wo sie durch ihre
Leutseligkeit in Künstlerkreisen eine erste Bekanntheit
erlangte. Da sie in einem Lokal ihr eigener Chef sein wollte
und etwas Geld auf der Kante hatte, begann sie, ein Lokal selbst
zu betreiben. In der Heiligenstätter Straße. In der Probusgasse.
Sie erlaubte, dass Jazzmusiker bei ihr auftraten, die in Wien der
1970 er Jahre sehr am Rande standen. Sie selbst hatte mit Jazz
nichts am Hut. Sie trat nur zwischen zwei Nummern als
Schlagerparodistin auf, um wie einst vor Fatty George einen
Schlager wie „Es geht die Lou lila, von Kopf bis Schuh lila, auch
das Dessous lila“ als kleine Ablenkung vom Jazz zu trällern.
Ein Witzbold hat den Namen „Jazz Gitti“ erschaffen. Er war
nicht ernst gemeint. Der Name stellte noch 1985 bei Wiener
Nachtschwärmern ein Missverständnis dar, wenn diese überlegten,
ob sie ins „Jazzland“ (am Schwedenplatz) oder zur „Jazz Gitti“ gehen
sollten. Als singende Wirtin hatte sie einen Namen, aber keinen
als Jazz – Sängerin. Die Herzen in- und ausländischer Musiker
gewann sie nicht durch Musikalität, sondern durch derbe
Leutseligkeit. „Ich häng euch an den Eiern auf!“, schrie sie
z.B. durchs Lokal, wenn sich Gäste schlecht benahmen. Obwohl
sie den Wert des Geldes schon kannte, hatte sie erhebliche,
wirtschaftliche Sorgen. Ihr Lokal am Bauernmarkt. Ihr Lokal auf
der Seilerstätte. Die große Not scheint es trotzdem nicht gewesen
zu sein, wenn sie in den Jahren 84 und 85 in der Gruppe „Drahdiwaberl“
oft auftrat und außerdem eine eigene Gruppe namens „Jazz Gitti
and her Discokillers“ gründete.
Sie trat schon damals im „Roten Engel“ und anderswo oft auf,
doch dieses Live - Geschäft musste und wollte sie überwinden,
obwohl sie es gern machte und die Mundpropaganda
lief. Für die große Bekanntheit und für das große Geschäft
bedurfte es des Rundfunk – Multiplikators (heute kann es
auch das Internet sein). Den Sprung dorthin machte sie
durch ihre Teilnahme an einer Werberahmensendung, die der
ORF vor seiner abendlichen „Zeit im Bild“ ausstrahlte. Die öde
Werbung kam vor und nach dieser fünfminütigen Sendung vor
den Abendnachrichten. Da die Abfolge von Spaß und Werbung
stets ein wenig wechselte, konsumierten die meisten Zuschauer
in ganz Österreich immer den ganzen Block.
Diese 25 teilige Sendung „Die 50 er kommen“ wird in Butbuls
Buch mit keinem Wort erwähnt. Sie enthielt aber ihre ersten,
nachhaltigen Fernseh- Auftritte überhaupt. Und zwar
parodierte sie z.B. einen Torten - Schlager aus den 1950 er Jahren
in einem AIDA – Lokal. Die zweite Gruppe in dieser Sendung,
„Schurli und die Motorbienen“, parodierten ebenfalls Schlager und
Schnulzen aus der gleichen Zeit. Sie machten das aber feiner und
lustiger als Martha Butbul, was ihnen zum Nachteil gereichte.
Denn in einem solchen Fernsehformat hat das Geistvolle
einen schlechten Stand. Merkbar vermittelt sich hier nur der
gröbste Effekt und das war Jazz Gitti, die durch Kleidung
und Körpersprache ihren Freak – Bonus steigerte und das
Gros des Publikums, also alle schlichten Gemüter, gewann.
Die Moderatorin Chris Lohner wirkte feiner, normaler und
schwächer als Jazz Gitti, zumal sie schon ein Star war und
nur sich selber parodierte. Ihre eigene Funktion in der
Serie hat Frau Butbul nicht gefallen. Denn sie war in der
Sendung weder das leibhaftige Zentrum noch war sie
das Spaß – Kriterium für die ganz Show.
Von 1987 bis 1990 brach sie in nur drei Jahren total
durch. Es gab das Album „A Wunda“, damals noch als LP, den
„World Music Award“ in Monaco, aus den Händen von
Cliff Richard, und ihr erstes Auftauchen im „Musikanten Stadl“.
Frau Butbul gab der gespensterhaften Lustigkeit dieser Serie
durch ihre Kurzauftritte eine gewisse Frische. Der Gipfelpunkt
dieses Höhenfluges war ein Auftritt in der Wiener Stadthalle
vor zwölftausend zahlenden Personen. Von der Bühne aus schrie
Frau Butbul in ihr riesiges Publikum hinein: „Die kleine Blade vom
Mexikoplatz singt heute in der Stadthalle!“ Und das war genau der
Satz, den ihr Publikum jetzt von ihr hören wollte. Der irreführende
Satz besagte nichts anderes als: Ich und ihr, wir haben es geschafft
(We have got it made!, sagen die Amerikaner, wenn sie sich selbst
im Team feiern) – Und diesen geschäftlichen Erfolg feiern wir
hic et nunc gemeinsam!
Auch die 90 er Jahre waren durchaus ihre Zeit. Die Diskokillers
fielen auseinander und sie machte mit anderen Musikern
CD s. Aber sie hatte viele Fernsehauftritte und gab mehrere Jahre
hindurch im Schnitt hundert Konzerte pro Jahr. Das Live – Geschäft
war jetzt einträglicher als früher, weil sie jetzt berühmt und
der deutsche Markt dazugekommen war. Ihr gestresster Körper
meldete sich zu Wort und sie musste, zwanzig Jahre nach einer
Magenverkleinerung überall an ihrem Körper komplizierte
Operationen machen lassen. Es mussten Fettschürzen,
Fettkugeln, Hautlappen usw. sorgfältig entfernt werden. Diese
körperlichen Mängel benennt sie in ihrem Buch schonungslos.
Sie hat ihren Körper gewiss nie geliebt und zählt ihren Kampf
gegen ihn zu den Niederungen ihres Lebens klar dazu.
„Ich hab gelebt“ ist ja im Grunde ein zweideutiger Titel. Er
meint nicht nur die Höhen und die Abgründe eines Lebens,
sondern auch, dass die Lebenshöhepunkte voll genossen
wurden. Hier ist der Jazz Gitti – Mythos voll gegeben.
Denn was waren die Höhepunkte im Leben von Martha Butbul,
wenn man die verkauften Karten, die verkauften Tonträger
und die Gagen weglässt? Ihr aufgerissener Mund und ihre
verdrehten Augen, die auf so vielen Fotos zu sehen sind,
sind nicht die Symbole ihres Lebens, sondern die ihrer Kunst.
Sie hat dadurch, dass sie keine Lügen erfindet, sondern
durch Aufbauschungen und Weglassungen schwindelt,
nicht verschwiegen, dass sie die schönen Dinge des
Lebens alle extrem hart gewonnen hatte. Nicht fröhlich,
nicht spielerisch, sondern ernst und unter Verzicht auf
eigenes Wohlgefallen. Das schnelle Auto. Das schöne Haus. Die
Luxusreise. Der schöne Mann. Der gute Sex. Ohne großen
Einsatz und also ohne Umwege hat Martha Butbul war wahrscheinlich
nur das gute Essen und den ehrlichen Applaus des Publikums
genossen.
Der Konflikt zwischen ihr und Marika Lichter kommt im Buch
nicht vor. Er wurde erst 2017 vor Gericht entschieden.
Er sei hier trotzdem erwähnt, weil er Neid, Verachtung und
Streit um Kleinigkeiten auch in der Billigkultur verrät. Marika
Lichter, die Tanz und Musik professionell erlernt hatte,
hatte nicht nur den Charakter, auch die Intelligenz von
Martha Butbul unterschätzt. Sie verriet am Telefon, dass
sie die Kunst von Jazz Gitti verachtet und trotzdem leichtes
Geld durch sie verdienen wollte. Sie wollte Geld dafür
haben, dass sie die verachtete Kollegin an den ORF
angeblich vermittelt hatte. Doch Jazz Gitti hat niemanden
gebraucht, um dem ORF als Teilnehmerin für „Dancing Stars“
vorzuschweben.
Mit dem ORF hat Jazz Gitti immer klaglos kooperiert. Vielleicht
hat er deshalb ein so schlampiges Jubel – Porträt geschaffen.
Darin ist Martha Butbul einfach eine jazzbegeisterte, großzügige
und menschenfreundliche Frau mit einer Naturstimme, die sich
alles selbst beigebracht hat. Das ist ein Klappentext, kein
sachliches Porträt. Der Klappentext ist undeutlicher als das Buch,
in dem sich Jazz Gitti selber darstellt. Es fehlen völlig die
wichtigsten Aspekte. Trotz ihres starken Talents, im Sinne
von Präsenz und Schwung auf der Bühne, hat diese Künstlerin
nie, wie z.B. Trude Herr, auch eine feinere Kunst versucht.
Schon der Versuch war ihr offensichtlich fremd. Und sie hat
zweitens ihre große Lebenskraft nur für das Aufstehen vom
Boden und für das Überleben durch Spaß und Hanswursterei
(in der Gruppe) gebraucht und nie für das Nein – Sagen und für
das Aufbegehren verwendet. Am Ende des Buches ist folgender
Satz recht seltsam: „Ich lebe dafür, Menschen zu unterhalten,
egal, ob ich vor Dutzenden auftrete oder vor Tausenden
singe.“ Wenn dem so wäre, hätte sie der kommerzielle Erfolg
nicht so tief befriedigen dürfen und sie hätte zumindest
zeitweise den Zweifel und die Trauer eines Max Böhm,
eines anderen Publikumslieblings, verspüren müssen,
dessen einsames und sehnsüchtiges Ich durch wirtschaftlichen
Erfolg nicht gestillt wurde. -
Ein Titel – Vorschlag für die zweite Auflage ihres Buches:
„Ich habe für mich gelebt – schwer genug war´ s.“
© M.Luksan, Februar 2022
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