DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Märchen vom vollen Leben

Wer ohne die Liebe seiner Eltern aufwächst und gegen Körpernormen verstößt, braucht später einen guten Psychiater, mit dem er die Fülle seiner Schwächen und Störungen durcharbeitet. Er wird in seiner psychischen Struktur vom Sozialen und vom Körper her beschädigt sein. Er muss dann lebenslang aufpassen, dass er nie bis zu dem Punkt gelangt, wo er sich entweder selbst vor Schmerz verzehrt oder seine Umwelt unter seiner Not leiden lässt. Die Sängerin Martha Butbul, bekannt als „Jazz Gitti“, ist in diese destruktive Phase nie eingetreten. Sie ist trotz ihrer inneren Spannungen nie schuldig geworden, das legen ihre Erinnerungen nah (Jazz Gitti, Ich habe gelebt, Wien 2014). Das will man ihr hoch anrechnen und das kann man als die seelische Leistung ihres Lebens bewundern.

Nicht erfreulich ist ihre Mythomanie. Sie hat fest an einem Jazz Gitti – Mythos gearbeitet. Ferdinand Bohdal, der nicht-jüdische Vater, rettete seine jüdische Frau trotz eigener Schwierigkeiten mit den Nazis vor der sicheren Vernichtung. Er hatte eine Urkunde gefälscht und war desertiert und versorgte dennoch eine versteckte Frau. Wenn´s wahr ist. Nach dem Krieg wurde ihm gedankt, indem diese Frau, Marthas Mutter, sein Lotterleben akzeptierte. Er hatte „ungefähr so viele Freundinnen“ wie Anzüge im Kasten (30 Stück). Obwohl die toughe Mutter mit Business ausgelastet war, rächte sie sich durch Seitensprünge mit Liebhabern („ständig fesche, junge Männer im Geschäft“). Als sie 1960 verstarb, verwandelte sich der Vater, der angeblich „ein Kämpfer“ gewesen war, in eine halbe Portion und brachte mit nur einer Frau, die ihm jetzt genügte, das Gros von Mutters Erbe durch.

Martha Butbul färbte das Elend ihres Elternhauses bunt. Sie überspielt im Buch auch ihre Hässlichkeit als Kind und als junge Frau und betont stattdessen ihre unbekümmerte und laute Art. Sie hat den Trick ihres Lebens nicht erklärt. Um in den Peer Groups nicht das ideale Opfer zu sein, musste sie stets die „Flucht nach vorne“ antreten. Sie musste lernen, sich selber zu verkleinern, noch ehe die andern sie herabwürdigen konnten. So entwickelte Buthbul schon in jungen Jahren das Talent, andere auf eigene Kosten zu unterhalten, weit über die bloße Nehmer - Qualität hinaus.

Sie gewann einen Wettbewerb für junge Schlager – Talente in einem Wiener Tanzlokal. Unter den Juroren saß Fatty George. Obwohl sie diesen Erfolg sowie ein „Espresso Gitti“ („Gitti“ ist ihr zweiter Vorname) bereits vorzuweisen hat, geht sie ein zweites Mal nach Israel. Sie lebt dort am Rand der jüdischen Familie ihrer Mutter, bis 1971. Diesen langen Aufenthalt kann sie durch ihre Ehe mit einem Marokkaner und durch die Geburt ihrer Tochter Shlomit gut erklären. Er ist auch der am meisten glaubwürdige Teil. Sie hatte eine verheerende Ehe mit einem jüdischen Nordafrikaner, der in Israel nicht als vollgültiger Jude galt, und sie musste einen Lebenskampf durch niedrigste Berufe jahrelang bestreiten. Das kommt den Realitäten dieser Jahre nahe.

Wieder in Wien schuf sie sich Ordnung in Geist und Seele. Sie ließ sich von Izahk Butbul, der ähnlich wie ihr Vater ein hübscher Mann war, jedoch charakterlos, talentlos und faul, sofort scheiden. Sie bezahlte diesen Mann sogar aus und verkaufte ihr Espresso am Mexikoplatz, in dem sie nicht mehr arbeiten wollte. Sie arbeitete stattdessen als Kellnerin im Café „Alt Wien“, wo sie durch ihre Leutseligkeit in Künstlerkreisen eine erste Bekanntheit erlangte. Da sie in einem Lokal ihr eigener Chef sein wollte und etwas Geld auf der Kante hatte, begann sie, ein Lokal selbst zu betreiben. In der Heiligenstätter Straße. In der Probusgasse. Sie erlaubte, dass Jazzmusiker bei ihr auftraten, die in Wien der 1970 er Jahre sehr am Rande standen. Sie selbst hatte mit Jazz nichts am Hut. Sie trat nur zwischen zwei Nummern als Schlagerparodistin auf, um wie einst vor Fatty George einen Schlager wie „Es geht die Lou lila, von Kopf bis Schuh lila, auch das Dessous lila“ als kleine Ablenkung vom Jazz zu trällern.

Ein Witzbold hat den Namen „Jazz Gitti“ erschaffen. Er war nicht ernst gemeint. Der Name stellte noch 1985 bei Wiener Nachtschwärmern ein Missverständnis dar, wenn diese überlegten, ob sie ins „Jazzland“ (am Schwedenplatz) oder zur „Jazz Gitti“ gehen sollten. Als singende Wirtin hatte sie einen Namen, aber keinen als Jazz – Sängerin. Die Herzen in- und ausländischer Musiker gewann sie nicht durch Musikalität, sondern durch derbe Leutseligkeit. „Ich häng euch an den Eiern auf!“, schrie sie z.B. durchs Lokal, wenn sich Gäste schlecht benahmen. Obwohl sie den Wert des Geldes schon kannte, hatte sie erhebliche, wirtschaftliche Sorgen. Ihr Lokal am Bauernmarkt. Ihr Lokal auf der Seilerstätte. Die große Not scheint es trotzdem nicht gewesen zu sein, wenn sie in den Jahren 84 und 85 in der Gruppe „Drahdiwaberl“ oft auftrat und außerdem eine eigene Gruppe namens „Jazz Gitti and her Discokillers“ gründete.

Pariser Familie

Sie trat schon damals im „Roten Engel“ und anderswo oft auf, doch dieses Live - Geschäft musste und wollte sie überwinden, obwohl sie es gern machte und die Mundpropaganda lief. Für die große Bekanntheit und für das große Geschäft bedurfte es des Rundfunk – Multiplikators (heute kann es auch das Internet sein). Den Sprung dorthin machte sie durch ihre Teilnahme an einer Werberahmensendung, die der ORF vor seiner abendlichen „Zeit im Bild“ ausstrahlte. Die öde Werbung kam vor und nach dieser fünfminütigen Sendung vor den Abendnachrichten. Da die Abfolge von Spaß und Werbung stets ein wenig wechselte, konsumierten die meisten Zuschauer in ganz Österreich immer den ganzen Block.

Diese 25 teilige Sendung „Die 50 er kommen“ wird in Butbuls Buch mit keinem Wort erwähnt. Sie enthielt aber ihre ersten, nachhaltigen Fernseh- Auftritte überhaupt. Und zwar parodierte sie z.B. einen Torten - Schlager aus den 1950 er Jahren in einem AIDA – Lokal. Die zweite Gruppe in dieser Sendung, „Schurli und die Motorbienen“, parodierten ebenfalls Schlager und Schnulzen aus der gleichen Zeit. Sie machten das aber feiner und lustiger als Martha Butbul, was ihnen zum Nachteil gereichte. Denn in einem solchen Fernsehformat hat das Geistvolle einen schlechten Stand. Merkbar vermittelt sich hier nur der gröbste Effekt und das war Jazz Gitti, die durch Kleidung und Körpersprache ihren Freak – Bonus steigerte und das Gros des Publikums, also alle schlichten Gemüter, gewann. Die Moderatorin Chris Lohner wirkte feiner, normaler und schwächer als Jazz Gitti, zumal sie schon ein Star war und nur sich selber parodierte. Ihre eigene Funktion in der Serie hat Frau Butbul nicht gefallen. Denn sie war in der Sendung weder das leibhaftige Zentrum noch war sie das Spaß – Kriterium für die ganz Show.

Von 1987 bis 1990 brach sie in nur drei Jahren total durch. Es gab das Album „A Wunda“, damals noch als LP, den „World Music Award“ in Monaco, aus den Händen von Cliff Richard, und ihr erstes Auftauchen im „Musikanten Stadl“. Frau Butbul gab der gespensterhaften Lustigkeit dieser Serie durch ihre Kurzauftritte eine gewisse Frische. Der Gipfelpunkt dieses Höhenfluges war ein Auftritt in der Wiener Stadthalle vor zwölftausend zahlenden Personen. Von der Bühne aus schrie Frau Butbul in ihr riesiges Publikum hinein: „Die kleine Blade vom Mexikoplatz singt heute in der Stadthalle!“ Und das war genau der Satz, den ihr Publikum jetzt von ihr hören wollte. Der irreführende Satz besagte nichts anderes als: Ich und ihr, wir haben es geschafft (We have got it made!, sagen die Amerikaner, wenn sie sich selbst im Team feiern) – Und diesen geschäftlichen Erfolg feiern wir hic et nunc gemeinsam!

Auch die 90 er Jahre waren durchaus ihre Zeit. Die Diskokillers fielen auseinander und sie machte mit anderen Musikern CD s. Aber sie hatte viele Fernsehauftritte und gab mehrere Jahre hindurch im Schnitt hundert Konzerte pro Jahr. Das Live – Geschäft war jetzt einträglicher als früher, weil sie jetzt berühmt und der deutsche Markt dazugekommen war. Ihr gestresster Körper meldete sich zu Wort und sie musste, zwanzig Jahre nach einer Magenverkleinerung überall an ihrem Körper komplizierte Operationen machen lassen. Es mussten Fettschürzen, Fettkugeln, Hautlappen usw. sorgfältig entfernt werden. Diese körperlichen Mängel benennt sie in ihrem Buch schonungslos. Sie hat ihren Körper gewiss nie geliebt und zählt ihren Kampf gegen ihn zu den Niederungen ihres Lebens klar dazu.

„Ich hab gelebt“ ist ja im Grunde ein zweideutiger Titel. Er meint nicht nur die Höhen und die Abgründe eines Lebens, sondern auch, dass die Lebenshöhepunkte voll genossen wurden. Hier ist der Jazz Gitti – Mythos voll gegeben. Denn was waren die Höhepunkte im Leben von Martha Butbul, wenn man die verkauften Karten, die verkauften Tonträger und die Gagen weglässt? Ihr aufgerissener Mund und ihre verdrehten Augen, die auf so vielen Fotos zu sehen sind, sind nicht die Symbole ihres Lebens, sondern die ihrer Kunst. Sie hat dadurch, dass sie keine Lügen erfindet, sondern durch Aufbauschungen und Weglassungen schwindelt, nicht verschwiegen, dass sie die schönen Dinge des Lebens alle extrem hart gewonnen hatte. Nicht fröhlich, nicht spielerisch, sondern ernst und unter Verzicht auf eigenes Wohlgefallen. Das schnelle Auto. Das schöne Haus. Die Luxusreise. Der schöne Mann. Der gute Sex. Ohne großen Einsatz und also ohne Umwege hat Martha Butbul war wahrscheinlich nur das gute Essen und den ehrlichen Applaus des Publikums genossen.

Der Konflikt zwischen ihr und Marika Lichter kommt im Buch nicht vor. Er wurde erst 2017 vor Gericht entschieden. Er sei hier trotzdem erwähnt, weil er Neid, Verachtung und Streit um Kleinigkeiten auch in der Billigkultur verrät. Marika Lichter, die Tanz und Musik professionell erlernt hatte, hatte nicht nur den Charakter, auch die Intelligenz von Martha Butbul unterschätzt. Sie verriet am Telefon, dass sie die Kunst von Jazz Gitti verachtet und trotzdem leichtes Geld durch sie verdienen wollte. Sie wollte Geld dafür haben, dass sie die verachtete Kollegin an den ORF angeblich vermittelt hatte. Doch Jazz Gitti hat niemanden gebraucht, um dem ORF als Teilnehmerin für „Dancing Stars“ vorzuschweben.

Mit dem ORF hat Jazz Gitti immer klaglos kooperiert. Vielleicht hat er deshalb ein so schlampiges Jubel – Porträt geschaffen. Darin ist Martha Butbul einfach eine jazzbegeisterte, großzügige und menschenfreundliche Frau mit einer Naturstimme, die sich alles selbst beigebracht hat. Das ist ein Klappentext, kein sachliches Porträt. Der Klappentext ist undeutlicher als das Buch, in dem sich Jazz Gitti selber darstellt. Es fehlen völlig die wichtigsten Aspekte. Trotz ihres starken Talents, im Sinne von Präsenz und Schwung auf der Bühne, hat diese Künstlerin nie, wie z.B. Trude Herr, auch eine feinere Kunst versucht. Schon der Versuch war ihr offensichtlich fremd. Und sie hat zweitens ihre große Lebenskraft nur für das Aufstehen vom Boden und für das Überleben durch Spaß und Hanswursterei (in der Gruppe) gebraucht und nie für das Nein – Sagen und für das Aufbegehren verwendet. Am Ende des Buches ist folgender Satz recht seltsam: „Ich lebe dafür, Menschen zu unterhalten, egal, ob ich vor Dutzenden auftrete oder vor Tausenden singe.“ Wenn dem so wäre, hätte sie der kommerzielle Erfolg nicht so tief befriedigen dürfen und sie hätte zumindest zeitweise den Zweifel und die Trauer eines Max Böhm, eines anderen Publikumslieblings, verspüren müssen, dessen einsames und sehnsüchtiges Ich durch wirtschaftlichen Erfolg nicht gestillt wurde. - Ein Titel – Vorschlag für die zweite Auflage ihres Buches: „Ich habe für mich gelebt – schwer genug war´ s.“

© M.Luksan, Februar 2022

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