Ein Mitglied der Boomer – Generation in Österreich nahm folgenden
Bildungsweg von 1950 bis 1975 (die Musik nicht berücksichtigt).
Der Vater, ein Handwerker und Unternehmer, betonte den Wert
berühmter Bücher und las sonntags aus der „Odyssee“ vor.
Die Mutter, eine Büro-Frau, hörte Radio und las Konsalik und
Simmel. Der Deutschlehrer in der Schule lobte die Verbreitung
von Hemingway und Camus und las in „Literaturpflege“ aus
dem „Zauberberg“ vor. So wusste der Knabe von Anfang an:
Romane mit fiktiver Handlung sind wertvoll. Im verglasten
Bücherschrank der Familie reihte sich Buchrücken an Buchrücken,
jedoch ohne Ordnung und Konnex. B. Traven stand neben H. H. Kirst.
Eleonore Roosevelt neben Hans Grimm. Die Kolportage hielt
den Jungen auf dem untersten Niveau fest. Er erlebte einen
Film wie „Moby Dick“ von John Huston oder „Das Narrenschiff“
von Stanley Kramer als Literatur über die Literatur hinaus. Später
sagte ihm ein Fernsehmann, der von der „Alpensaga“ schwärmte,
dass ein guter Film mit Literatur angeblich nichts zu tun hat.
Erst nach der Matura, als der Jüngling wusste, dass aus ihm kein
Lokführer werden würde, ließ er nur noch Weltliteratur an sich
heran. Rowohlt und Suhrkamp boten ihm die schönste Literatur
preiswert an. Er las „Schau heimwärts Engel“ von Thomas Wolfe
und „Die Grasharfe“ von Truman Capote. Diese bildkräftige,
bezügereiche und gut lesbare Erzählprosa, zu der es kaum
Vergleichbares im deutschen Sprachraum gab, regte ihn zum
Selber – Schreiben an. Er begann mit eigenen Treffen und
Begegnungen und fabulierte sie halb realistisch halb fantastisch
aus. Ihm war kaum bewusst, dass ein Neuanfang das „Gebot
der Stunde“ war. Deshalb hielt er seine Tagebuch - Notizen für
einen geeigneten Inhalt und seinen raffenden Stil für eine
geeignete Form. Er war wie ein junger Maler um 1950, der
an irgendeinen Malstil einer Akademie anknüpfte, die von
1933 bis 1945 in den Händen der Nazis gewesen war. Das
gehörte mit zu seiner Naivität, dass vom braunen NS und vom
schwarzen Christo – Faschismus ein ungewolltes Echo in der
eigenen Kunst erklingen durfte, ohne dass man ihm daraus
einen künstlerischen Vorwurf machen konnte. Als ihn die US -
Erzähler begeisterten und er an das Nachahmen großer
Vorbilder glaubte, hatte Thomas Bernhard den „Frost“ schon
geschrieben und lobte nie wieder Paula Grogger; und hatte
Peter Handke „Die Hornissen“ schon geschrieben und legte sich
gerade Schmähworte gegen das Erzählen zurecht, die er dann
in Princeton vorbrachte.
In den Wiener Theatern von 1967 und 68 war „Make it new“
bereits gut erkennbar. „Nach Damaskus“ von August Strindberg
wurde in Bluejeans gespielt und „Baal“ von Bert Brecht bewältigte
die Hauptdarstellerin barbusig und mit weiß geschminktem
Gesicht. Das Total Neue wurde überall proklamiert, aber es wurde
nirgendwo gesagt, welche Kunst völlig neu beginnen könnte.
Unser Modelltyp wurde nicht belehrt. John Cage konnte mit dem
Total Neuen arbeiten. Er brauchte nur Töne und Geräusche.
Jackson Pollock brauchte nur Farben. Er konnte, lebhaft bis
zur Erschöpfung, vor der Leinwand auf und ab springen und auf
diese Weise die Farben auftragen. Doch Gerhard Rühm war das
verwehrt. Nur mit dem Selbst und mit dem Kunstwollen arbeiten –
das erlaubt ihm die Umgangssprache nicht (er tat es dennoch
und heraus kam – nichts). „Schau heimwärts Engel“ ist ein
schwungvoller und detailreicher Roman, weil sich Wolfe schon
als Halbwüchsiger und als Student Notizen gemacht hatte.
In den 1960 er Jahren gab es auch die „Wiener Aktionisten“ zu
bewundern. Diese Bürgerschrecks erlebte unser Bildungsweg – Typ
mit gespaltenen Gefühlen. Einerseits wurde der Spießer prima
provoziert. Andererseits waren die Aktionen so unoriginell und
langweilig, dass der Schock unabdingbar war. Von der Schlachtung
eines Tieres auf der Bühne hatte der Student nur gehört (sie war in
Deutschland passiert) und er reagierte darauf wie ein Snob. Er fand
sie nur ästhetisch schändlich. Nicht auch als Tierquälerei. Doch er
erlebte Otto Mühl in Wien, wie er Sektflaschen zwischen seinen
Beinen entkorkte und dabei Worte gegen – abwesende - „Wichtel“
ausstieß; und Vali Export, wie sie Peter Weibel als Hund in der
Inneren Stadt herumführte. Das waren neue Scherze schlimmer
Schüler, aber es war nicht völlig neu. Heute, wo ein Teil der
Aktionisten eigene Museen hat und man nun weiß, woher
jeder Einzelne kommt (aus einer NS – belasteten Familie),
zeigen diese frühen „Werke“ die Klarsicht und die Konsequenz
dieser künstlerischen Spekulanten. Sie stellten nur Zerstörung,
nichts Positives dar und ahmten nichts Positives nach.
In Österreich musste für die Umstellung der Kultur nicht nur das
Dritte Reich, auch die österreichische Finsternis ab 1934 überwunden
werden. In der Zeit des Austrofaschismus hatten Rasse – Begriffe
nicht dominiert, doch das Anständige, das Schöne, das Gesunde,
das Tapfere und vor allem das Katholische hatten vorgeherrscht.
All diese Abstraktionen eines Stoffes mussten von den Künsten
ausgeschlossen werden, und das war nicht leicht. Nicht oder nur
wenig darstellen (auf keinen Fall erzählen) und zu diesem Zweck
reduktive Verfahren benutzen, die in Österreichs 1. Republik nicht
oder kaum verwendet worden waren. Dies geschah durch die
verspätete Einführung des Dadaismus (Wiener Gruppe) und durch
die verspätete Einführung des Ab – Ex (die Maler des Otto Mauer).
Die Neue Musik wurde wieder eingeführt (Kurt Schwertsik,
Friedrich Cerha), weil ja die Schönberg Schule einst dagewesen
war. Nur die Wiener Aktionisten wurden nicht eingeführt. Sie
entstanden hier und jetzt. Nicht einmal der „Club Voltaire“ hatte
ähnlich kunstlos agiert wie die Wiener Aktionisten. In Österreich
als Quelle liegt die Bedeutung dieser Künstler - Gruppe, denn
in den Werken liegt sie nicht.
All diese Umstände waren dem Bildungsweg – Typen nicht bewusst.
Soviel Kunstgeschichte – Wissen hatte er nicht. In den 1970 er
Jahren in Wien ging es um Herrscher gegen Beherrschte, um
Faschisten gegen Antifaschisten, um Alte gegen Junge. Das
war ihm bewusst. Die Universität Wien half ihm intellektuell
nicht auf. Er suchte nach Begriffen zur Überwindung der öden
Schemata, die er aber in den Vorlesungen und Seminaren
nicht fand. Er fand außerhalb der Uni, wie von einer inneren
Stimme geleitet, in einem Buch von Claude Levi - Strauss und in
einem Buch von Marc Bloch und in einem Buch von Roman Jakobson
die „strukturale Methode“. Mit ihrer Hilfe ordnete er die kulturelle
Bauchladen – Vielfalt der österreichischen Nation. Die Bücher
selber lieh er aus, denn sie waren in den großen Bibliotheken
Wiens vorhanden. Sie waren dort ganz neu, niemand hatte
sie noch gelesen. Die Professoren in Germanistik, in Geschichte,
in Soziologie usw. kannten die besagten Autoren bereits, sie
erwähnten sie nur nie. Warum nicht – das wäre ein eigenes
Kapitel! - Ein Kulturfunktionär der Stadt Wien zitierte einmal
Roland Barthes und die Festgäste rund um den Modelltyp
schüttelten missbilligend den Kopf, weil sie den Namen noch nie
gehört hatten.
Hermann Nitsch und Politiker in Mistelbach,
2007 (Bildmontage)
Die Modernisierung wichtiger Kunstsparten geschah rasend
schnell. Die neuen Formen, Inhalte, Gesten wurden über
Nacht aufgewertet und als absolut nötig präsentiert. Das
konnte man nur akzeptieren, aber nicht nachvollziehen. Die
Geschwindigkeit war nötig, damit in der Welt der Museen, der
Galerien, der Auktionshäuser, der Konzerthäuser, der Verlage, der
Kunstmessen usw. das Land nicht als „Hinterwald der Kunst“
und nicht als „ Albanien der Kulturpolitik“ verlacht wurde.
Hermann Nitsch war gerade nach Prinzendorf übersiedelt,
da war die Kunstwelt in Wien schon außer sich, nur weil
er in den USA eine Performance hatte machen dürfen (in einem
Saal des Mercer Center in New York) und weil er in Paris
ein Tagesgespräch gewesen war. In der Auslage einer Galerie
in Wien klebte eine Porträt – Fotografie von Arnulf Rainer,
die dieser mit verbundenen Augen irgendwo im Ausland
überkrakelt hatte. Und Bruno Kreisky, dem die Journalisten
damals zu Füßen lagen, brummte bei einem Kunst – Event
die Worte, dass „Otto Mühl derzeit unser wichtigsten Maler“
wäre. Diese Aufwertung von Nitsch, Rainer, Mühl geschah nur
wenige Jahre nach 1968, wo zumindest Mühl nach der Aktion
„Kunst und Revolution“ durch die Justiz des Landes und
durch ein Erscheinungsverbot im ORF blockiert gewesen war.
Die Kunstmoderne war und ist nur ein kleiner Sektor der
Gesellschaft. Durch Gerede wird sie hoch gequirlt. ZB. ein
Beamter des Wiener Kulturamtes sprach in einer Festrede davon,
dass er persönlich nicht ans Lineare glaube. Wenig später hörte
man von ihm, dass er sich für einen höheren Posten beworben hatte.
In der Bewerbung hatte er seinem Schreiben einen Lebenslauf
beigelegt. Das war ein Widerspruch gewesen. Von einem
Preisträger der Literatur las unser Modelltyp in der Zeitung, dass
jener schon seit Jugendjahren seine Ichidentität nicht ernst nähme.
An anderer Stelle stand zu lesen, dass derselbe Dichter nunmehr
nach Wien umgezogen war. Da hatte er sich mit all seinen
Personalien bei einem Wiener Magistrat anmelden müssen.
Bei Unterlassung Geldstrafe. Es gibt also eine Reihe von
Begriffen der Moderne, die außerhalb der Kunstbetriebe nicht die
geringste Gültigkeit besitzen.
Im Frühsommer 1975 sah der Student, unser Modelltyp, die Revue
des Jerome Savary im Rahmen der „Wiener Festwochen“ an.
Er hielt sie für modern, was sie nur in Ansätzen war, und freute sich,
dass hier die Kunst nicht von der Zerstörung der Schönheit, des
Mythos, der Zeit, der Geschichte usw. ausgegangen war, sondern
von konkreten, meist gefälligen Bildern. Von Moses bis Mao. Er
wusste aber bereits 1975, dass ihn in Österreich der Kultur – Konservativismus eher umspielte als die Moderne, und sah deshalb im
Neubeginn und in der Scheuklappenlosigkeit etwas Gutes. Nur
ahnte er damals überhaupt nicht, dass das Echo der Wiener
Aktionisten noch lange nicht verstummt war und speziell in Malerei,
Literatur und Film noch nachhaltig erklingen würde, als Stil und
als Gattung und ohne viel Intellekt etwas Manieriert – Düsteres
sein würde, die „österreichische Miserabilität“.
© M.Luksan, Februar 2023
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