Um 1960 herrschte die überhebliche, aber nicht ganz falsche
Auffassung, dass die zeitgenössische Epik durch das Wegfallen
von Krieg und Bürgerkrieg keine starke Poesie mehr liefern
könnte. Und zwar würden die Dichter wie in Gummizellen leben.
So erklärten abgehobene Historiker das Übermaß an Reflexion
in der Erzählkunst. Sie ignorierten die Vereinsamung und die Angst,
die Schwächungen des Ich, die auf den Einzelnen in den
Aufbaugesellschaften nach dem Krieg ihre Wirkung
nicht verfehlten. Ungeachtet dessen war starke Poesie
weiterhin möglich, die Fantasie war nicht versiegt (die Methoden
des Schreibens mussten freilich etwas verändert werden).
In der Mitte der 1930 er Jahre war die Außenwelt gebieterisch.
Sie war damals quasi – objektiv. Der junge Jean Paul
Sartre ließ sich die Haft eines Spanienkämpfers durch die
Falangisten genau beschreiben, um in dem Text „Die Mauer“
seine Fantasie einzuschränken. So wichtig waren damals
„die Realitäten“. Gleichzeitig bohrte Sartre in seiner Studie
„Das Imaginäre“ theoretisch besonders tief. Er wies nach,
dass die Fantasie nichts Einfaches ist, sondern mit mehreren
„Bewusstseinen“ arbeitet. Besagtes Buch wurde für die
Strukturalisten zur Pflichtlektüre. Der anregende Sartre
traktierte zeitlebens die Rätsel der Fantasie. In „Der heilige
Genet“ ging er über viele Seiten einem Paradox nach. Er
wollte wissen, wie aus einem Dieb und Homosexuellen, der
um sein Leben gelaufen war, ein Poet mit Schönheitsliebe
hatte werden können. In der Autobiografie „Die Wörter“
lieferte er Hinweise darauf, wie er sich selber vom Mythos
des Wunderkindes hatte befreien und zum anregenden Sartre
hatte werden können, der über die Fantasie zeitlebens lieber
sprach als über revolutionäre Taten.
Sartre konstruierte einen subtilen Freiheitsbegriff, indem er
die Frage nach der Freiheit von der Ebene des Revoluzzers
auf die des sprachlichen Stilisten hob. Die befreiende
Wirkung des Schreibens, die ja nur eine facon de parler ist,
nahm er sozusagen ernst. Um 1975 pflegte man von einem
Knast – Schreiber zu sagen: Nur durch sein Schreiben hält er
das Gefängnis aus! - In Wahrheit musste er es auch anders
aushalten. Sartre nahm eine Metapher als Tatsache: Die
Fantasie befreit uns. Zudem machte er einen metaphysischen
Trick. Er legte fest, dass die Fantasie ihr Objekt als ein Nichts
setzt, wohingegen die Wahrnehmung ihren Gegenstand als
ein Seiendes konstituiert. Die Philosophie als Trick – Kiste,
arbeitet heute noch so.
Um 1980 verebbte die Welle der 1968 er Bewegung und der
Geldglaube setzte sich allgemein wieder durch. Damals schrieb
der Gangster Franz Altman der Wiener Polizei, der er entkommen
war, Postkarten aus Buenos Aires. In einer fragte er an, ob es
das Café Tosca noch gäbe. Journalisten widmeten dieser Anfrage
witzige Kurzartikel. Wer in Wien diese Artikel las, wurde mehrfach
angeregt. Durch Altmann und Buenos Aires, die er beide nicht
kannte, und durch das vertraute Wien und das vertraute
Café Tosca. Außerdem kannte er Pistolenmänner, die Glücksspiele
bewachen, aus dem Kino. Dieses Bündel aus Fantasie,
Wahrnehmung, Erinnerung usw. reicherte er durch ein Begleiter-Phantasma an. Er fühlte sich quasi als Begleiter des ihm
unbekannten Kriminellen, der ihm imponierte und dem er Gutes
wünschte.
Ein anderer Fall von Damals handelte von einem farbigen
Sportlehrer aus Tahiti. Dieser wirkte am Wiener Heumarkt als
Catcher und wurde eines Tages von den Wiener Catchern
böse attackiert. Sie warfen ihm vor, ihr Geschäft zu ruinieren,
weil er es gewagt hatte, die verabredeten Niederlagen nicht
mit Weh und Ach, sondern mit ironischer Körpersprache zu
absolvieren. Der fremde Kampfsportler hatte das Schwindelhafte
dieser Kämpfe offenbart. Hier konnte der Leser in seiner
Vorstellung einen Schritt weiter gehen als bei F. Altmann.
Er, der den Heumarkt und die Kämpfe bereits kannte,
konnte mit Hilfe dieser Zeitungsnachricht die Kämpfe
eindeutig negativ bewerten.
Über einen dritten Fall in jener Zeit konnte der Leser quasi
richterlich entscheiden. Letzteres wegen der vielen Schlussfolgerungen und dem Schlussurteil. Der Soziologe Roland Girtler
hatte Josef „Pepi“ Taschner, einen Kriminellen, in den „Club Zwei“
gebracht. In dieser Fernsehsendung hatte Taschner einen
Herzanfall erlitten. ORF – Leute hatten ihn ins Spital gebracht.
Dort war er nach wenigen Tagen wieder quietsch vergnügt
und verlangte von Girtler eine finanzielle Beteiligung an
dem Erfolgsbuch „Der Adler und die drei Punkte“. Girtler
verweigerte ihm das. Der Leser kannte Girtler (von einer
Vorlesung) und er kannte das Buch (er hatte es gelesen),
aber er kannte die Hauptfigur, Taschner, nicht – diese musste
er sich vorstellen. In Jugendjahren hatte er in Sommerfrischen
einen Schelm wie den jungen Taschner als Freund gehabt.
Der Leser verglich nun den erdigen Schmäh von Taschner
mit der sorgfältigen Proleten – Masche von Girtler und Fazit
war: Das Buch war von Taschner. Girtler hatte nur gefragt,
transkribiert und redigiert.
Niki Lauda (mit Wolfgang Fellner), 2011
Deutlich waren auch die Nachrichten über Niki Lauda. Diese
konnte allerdings ein Leser ohne Neigung für Motor – Sport in
seinem Kopf nicht vernetzen. Er brachte seine Fantasie bei diesen Nachrichten nicht in Gang. Er konnte sich die beruflich – technische
Welt, aber auch die private Welt des Niki Lauda (mit den schönen
Frauen) nicht vorstellen. Er hatte keinen Hollywoodfilm über
Autorennfahrer gesehen. Die Hauptfigur selbst war ihm bis auf einen
einzigen Aspekt, dem der Diktion, undurchdringlich. Das war ein
Paradox, weil Lauda von der Formel Eins – Werbung über die
verschiedenen Medien bis zum Film wie wahnsinnig multipliziert
wurde. Die Journalisten erbaten überall seinen Kommentar: zum
Sport, zur Politik, zur Reform der Rechtschreibung. Er war ein
Liebling der kapitalistisch gemanagten Öffentlichkeit. Trotz seiner
Lakonik und seinem Witz war er aber eine unklare Person.
Auf eben diese Diktion und diesen Witz stieß der Leser bei dem
Buch „Taboo“ von Wolfgang Hausner. Wie war einem Skipper,
der allein auf einem Katamaran die Welt umsegelt, die Diktion
von Niki Lauda möglich? Die Antwort war: Ein Motor – Journalist,
der viel über Lauda geschrieben hatte (Herbert Völker), hatte
Hausner als Ghostwriter gedient.
Dass die Fantasie des Lesers (und die des Autors) keine bloße
Entschlüsselung von Zeichen ist, die der Urheber des Textes
gut gewählt und gut angeordnet hat, hat zB. Konstantin
Paustowski indirekt bestätigt. Er schrieb am Ende eines
Geschichten – Buches über seine Sehnsucht nach Exotik in
Jugendtagen: „In der langweiligen Wohnung in Kiew (…) umblies
mich der Wind des Fremdländischen. Ich rief ihn mit Hilfe
meiner kindlichen Fantasie herbei. Er brachte mir den Geruch der
Eibenwälder, den Schaum der Brandung des Atlantik, den Donner
tropischer Gewitter“ Er stellte sich vor, den Bosporus zu
durchfahren. Viele Jahre später fuhr er von Odessa zwei Tage
lang durch die Einöde des Schwarzen Meeres, bis sein Schiff
scharf wendete und in den Bosporus einfuhr: „Wir hatten ein Bild
vor uns wie eine üppige Dekoration von einem Land am Meer.
Die Wirrnis von Bergen, Türmen, Minaretten, Felsen, Arkaden,
Schlössern, Leuchttürmen, Segeln, Zypressen, Masten und
Rahen erschien mir im Sonnenuntergang wie ein bestelltes,
festliches Theater (…) Dieses Städtchen war der Vorhof von
Stambul (…) Mir kam alles unwirklich vor und es erinnerte
mich an Jugendträume. Gleichzeitig war es die Wirklichkeit
(…) Je mehr ich mit eigenen Augen mit dem bekannt wurde, was
ich mir bisher nur vorgestellt hatte, desto klarer wurde mir,
dass die von der Fantasie in die Kenntnis übertragene Welt
bedeutungsvoller und märchenhafter war als die Vorstellung, die
ich mir davon gemacht hatte.“ (K.P., Die Windrose, Zürich 1979,
S. 331 – 333) - Paustowskis Worte sind nicht die Wissenschaft,
aber sie beschreiben die Magie, die durch die verschiedenen
„Bewusstseine“ im Kopf entsteht. Durch Vorstellung, Wahrnehmung,
Bildbewusstsein, Phantasma und Erinnerung entsteht das schöne
Erlebnis. Und die starke Poesie.
© M.Luksan, März 2023
|