Ein junger Autoraser fliegt auf einer Landstraße aus der engen
Kurve und landet im Wald. Beim Aufprall zerbricht eine Metallplatte
in seiner Schulter, die ihm nach dem letzten Verkehrsunfall eingesetzt
worden ist. Oder: Ein junges Paar überfällt auf dem Land die
Filiale einer Sparkasse und nimmt zu seiner Tarnung – vor und
nach der Tat - das Baby einer befreundeten Familie mit. Durch
diesen Säugling halten sich die beiden für unauffällig, werden
aber gerade wegen des Kleinkindes schnell ausgeforscht
und verhaftet. Das sind zwei Beispiele für praktizierte Dummheit.
Für törichtes Leben. Die Massenmedien liefern solche
Geschichten täglich ins Haus und der Nachrichten – Konsument
nimmt sie empört oder schadenfroh, nachdenklich oder
belustigt auf. Es sind heftige Aktionen mit völlig unerwünschten
Folgen, die man durch Annahme von Selbstüberschätzung und
von Unterschätzung der Welt gut erklären kann. Zufall und
Missgeschick spielen hier fast keine Rolle angesichts der falsch
gesehenen Handlungsmöglichkeiten und ignorierten Tatsachen.
Es fällt auch auf, dass sich der Töricht – Handelnde in die
Lage eines Kontrahenten nicht versetzen kann, egal ob das ein
Opfer, ein Mittäter, ein Augenzeuge oder ein Verfolger ist.
Er geht unrealistisch durchs Leben - kann sich auch durch
Entscheidungsfreudigkeit nicht helfen.
Törichte Menschen in der Welt des Reichtums hat Francis Scott
Fitzgerald wiederholt dargestellt. In „Wiedersehen mit Babylon“
stellte er einen Amerikaner in Paris ins Zentrum, der tief fällt.
Zuerst scheint der Mann großartig und unverwundbar, weil er an
der Börse viel verdient und am Montmartre viel ausgibt. Dann kracht
die Börse (worüber sich der Text ausschweigt) und der Börsianer
und seine Frau verhalten sich so dumm und exzessiv, dass sie
ums Leben kommt und er um das Sorgerecht für seine Tochter
bangen muss. Dieser Held ist an sich mittelmäßig und als
Charakter sogar unbestimmt, doch als literarisches Porträt
ist er das rare Beispiel eines flachen Genießers, der zum
Nachdenken gezwungen wird. Der Schlager „Puttin‘ on the
Ritz“ erhält durch die Figur des Charlie Wales einen tieferen
Sinn.
Unvernunft 1942. The Cooler (Ausnüchterungszelle)
in NYC.
Die Dichter wussten immer schon, dass die Weisheit in der
Gesellschaft zu kurz kommt. Deshalb stellten sie immer auch
den Weisheitsmangel dar. Heute ist dieses Thema verpönt und
die Kultur ist dabei offensiver als die Kirchen früher. Die Kirchen
früher haben die Allwissenheit Gottes betont und nicht gesagt,
dass sie weise Gläubige nicht brauchen. Heute ist es selbstverständlich
in Literatur und Journalismus, dass die inoffizielle und nicht -
approbierte Stimme, die die von unten kommt, die Welt nicht
erklären darf. Nur Erlauchte dürfen das, Erleuchtete nicht. Und die
Erlauchten sind sehr vorsichtig mit dem Urteil, andere als „töricht“
zu bezeichnen. Die Politik wiederum benötigt gebildete und
abgeklärte Wähler überhaupt nicht. Der Wirtschaft schließlich
ist die umfassende Bildung ein Dorn im Auge. O – Ton Margarete
Schramböck: „Unsere Gymnasien produzieren an der Wirtschaft
vorbei.“
Kultur und Wirtschaft, die derzeit wie das Weltall auseinander
streben, schließen gleichermaßen Weisheit aus. Die Kultur
z.B. dadurch, dass sie Moderne Kunst fördert, und die Wirtschaft
z.B. dadurch, dass sie den 50 Plus – Personen keine Arbeit
gibt. Unsere Zeit könnte man mit „Glanzzeit der Törichten“
übertiteln. Ein Räuberpärchen stürzt sich ins Leben und will
dort durch eine unerlaubte Tat ein neues Leben anfangen.
Ein Künstler schürft sich das Gesicht an der Wand der
Galerie blutig und tritt so zwischen seinen Bildern bedeutungsvoll
hervor. Durch Schwung und Härte (viel mehr anderes ist
nicht im Spiel) will der Einzelne eine fragwürdige Tat laut
und glanzvoll machen. Er ist zwar mutig, aber er ist ein Tor.
Er erwartet sich zu viel vom Leben - er erwartet sich zu
viel von der Kunst - und überschätzt in jedem Fall die
Wirkung seines Handelns.
Eine Kultur, die den Einzelnen nicht beruhigt, nicht begeistert
und auch sonst nicht ausgleicht und entwickelt, wird zumindest
gleichgültig. Wenn Kultur nicht beachtet und nicht gesucht wird,
wird der Blick ganz frei für das banale Leben. Der Einzelne sieht
dann nur noch dieses. Das materielle Leben verändert sich -
ungeachtet aller derzeitigen Krisen – zum Besseren. Bravo!
Doch das kulturelle Leben macht immer ärgere Proklamationen.
Bis etwa 1960 lobten das Stück „Die Nashörner“ von E. Ionesco
und der Film „Zwölf Uhr Mittags“ von F. Zinnemann Werte
des Einzelnen, die für zutreffend gehalten wurden. Dann
veränderten sich die Werte und man deutete die gleichen
Sachverhalte konformistisch. Der Einzelne, der sich jetzt verweigerte,
jetzt vor der Gefahr nicht floh etc. war nicht bloß minder
interessant, er war jetzt schädlich für das Kollektiv. O – Ton
Carsten Bresch: „Die Werte des Einzelnen müssen destruiert
werden, damit die Menschheit eine Chance hat.“ Die Zeitungen,
die Funkhäuser, die Verlage, die Fernsehsender arbeiteten
wie wahnsinnig an der Veränderung des Männerbildes, noch
ehe die Uniprofessoren das machten.
Unvernunft 1965. Warten auf die Beatles in London.
Die Weisheit steht der Torheit - und der Ideologie antagonistisch
gegenüber. Die Ideologie gibt das Teilstückhafte für das Ganze
aus, ist also schlecht, und verbindet sich manchmal mit der
Torheit. Der Ideologe ist dann listig und töricht zugleich. Ein
gutes Beispiel dafür ist „Eine STADT. Ein BUCH.“ Der Roman
eines Dichters oder einer Dichterin wird in hoher Auflage gedruckt
und öffentlich verschenkt. Das war die Aktion des Roten Wien, den
Ärmsten der Armen Weltliteratur zu übergeben. Was aber in
den 1920ern sinnvoll war, ist heute töricht. Die Leute schätzen
dieses Buchgeschenk fast nicht. Sie wollen nicht wissen,
ob ihre Verhältnisse durch Literatur dargestellt sind und wie
sich das liest. Heutige Bildungsschwache wollen überhaupt
kein Buch – sie wollen ein Smartphone. Zwar erinnert sich die SP
durch diese Aktion an sich selber, doch die Zeiten haben sich
geändert. Durch die Sache wird nur Steuergeld vergeudet -
und der Buchmarkt verzerrt.
Ärger als die Hybris des Lebens ist die Hybris des Geschwätzes.
Sagten schon die alten Philosophen. Wenn jemand sein Leben
falsch lebt, bezahlt nur der Agierende mit seinem Leben dafür.
Der Zuseher hält sich aus dem Unglück des anderen heraus
und zieht unter Umständen eine Lehre aus dem tragikomischen
Unfug. Durch das großsprecherische Reden wird jedoch der
Zuhörer in falsche Vorstellungen und Beurteilungen hinein
gezogen, an die er vielleicht fester und länger glaubt als der
Schwätzer. Die Proklamationen der Kunstmoderne fallen
teilweise unter das hybride Reden. ZB. die Manifeste von Breton,
die eine Kunst und ein Denken beschreiben wollen, haben
eine Menge Künstler ungut beeinflusst. „Kühnheit“, schreibt
Breton z.B., „liegt in der Entfernung der Realitäten.“ Auch
der Satz „In der Wirklichkeit ziehe ich es vor, zu fallen“ ist
an Hybris kaum zu übertreffen.
Er ist der Prototyp des Schwätzers mit dem höchsten Anspruch,
der sich ans eigene Reden gar nicht hält. Er wollte Marx und
Rimbaud verbinden, die Welt und das Leben gleichzeitig
verändern, aber er schaffte nur surrealistische Netzwerke –
über Frankreich hinaus - mit ihm selbst als dem Papst
des Ganzen, die nicht lange hielten. Die feudale Wohnung in
Paris, die seine erste Frau, eine Bankierstochter, gekauft
hatte und die sie nach der Scheidung verließ, bewohnte der
Polizistensohn bis zu seinem Ableben. Die Republik gab einem
Platz in Paris seinen Namen, kaufte aber die Wohnung nicht.
Sie richtete Breton kein Museum ein.
Vom törichten Leben erfahren wir in der Regel aus den Medien,
wohingegen das törichte Reden von uns erlebt werden kann.
Es umgibt uns immer und überall. Abgesehen von den vielen
Ideologien werden Scheinwerte im täglichen Leben aufgerichtet,
die man als Gutwollender anfangs glaubt. ZB. die große
Freiheit, die gelingende Kommunikation und der Erfolg sind drei
Dinge, die die Kultur behauptet (Werbung), aber nicht diskutiert.
Jurien, Vorstände, Kritiker – Cliquen und Beratergruppen
prüfen heute die Proklamationen sofort, sehr viel später die
Kulturwissenschaftler. Nicht Einzelne, die gegen andere Einzelne
streiten, sondern Gremien sagen uns heute die Regeln der
Bewertung und der Produktion. Dabei haben sie den Geist, der an
sich der Zweck des Lebens sein könnte, total herab gestuft. Sie
sagen nicht einmal, dass das Gros der Menschen nicht nach ihm
verlangt (und seiner auch nicht bedarf), sondern sie sagen, dass
er keinen Wert hat und nur noch eine winzige Elite (als die
sie sich selbst nicht sehen und die nach Macht verlangt, nach der
sie selbst nicht streben) sich seiner noch bedient. Durch die
Herabstufung des Geistes wird die Weisheit verstümmelt. Sie kann
nicht nur nicht die Form des Geistes annehmen, sie kann auch
nicht lobend auf ihn hinweisen.
Unvernunft 1989. Jugendliche randalieren
in Berlin - Ost.
© M.Luksan, April 2023
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