DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Traum und Spielfilm

Der Träumende geht eine breite und dunkle Straße dahin, ohne dass er weiß, ob er lange Hosen und einen Mantel trägt. Er sieht sich nicht von außen. Das ist die Sinneswahrnehmung im Traum. Er fühlt, dass er etwas trägt und dass er, weil die Straße so abschüssig ist, zu Fall kommen kann. Würde man ihn mitten im Traum aufwecken und fragen: Was sahst du? würde er sagen: die Dunkelheit! - Diese Dunkelheit hat zum Beispiel Alfred Hitchcock sagen lassen, dass er einen Traum nie in hellen Farben verfilmen würde. Ferner ist dem Erlebenden im Traum der räumliche Überblick nicht möglich. In unserem Fall sieht er nur die Breite, die Abschüssigkeit und die Dunkelheit der Straße. All das sieht er wie ein fast Blinder - er spürt mehr als er sieht. Plötzlich geht er nicht mehr in der Mitte, sondern am Rand der Straße, ohne dass er die Veränderung seiner Position beschlossen hätte. Er geht einfach am Rand, ohne zu sehen, was dort ist, und er trägt etwas auf der Schulter. Dieses Ding, das ein Spaten oder eine Heckenschere sein kann, ist in ein Tuch eingewickelt.

Ein Traum könnte für den Körper des Träumenden einen physiologischen Nutzen haben. Das denkt die Wissenschaft schon lange, aber sie weiß nicht: ob und welchen Nutzen? Es ist aber wissenschaftlich sicher, dass die Erregung im Gehirn, die während des Leichtschlafes gemessen werden kann, durch den Kortex fein weg gearbeitet wird. Der Traum ist die Deutung dieser Erregung. Man würde gerne wissen, ob diese Aktivität im Schlaf nicht auch ohne das Zutun des Vorderhirns - in ungefähr der gleichen Zeit – wieder verschwinden würde. Dann wäre der Schlafende zwar auch erregt, aber ohne das Pseudoerleben des Traumes. Man weiß nicht, ob diese Deutung durch den Kortex für den Menschen lebenswichtig ist.

Was aber seit langem sonnenklar ist, ist die geistig mindere Qualität des Traumes. Die den Traum fundierende Gehirntätigkeit wird mangelhafter ausgeführt als zB. bei der Wahrnehmung. Man muss sich nur die Traumbilder genau anschauen: Die Wahrnehmung ist unscharf; das Gesichtsfeld ist unvollständig; und es gibt keine Reflexion. In unserem Beispiel wechselt die Ich-Figur ihre Position auf der Straße, ohne die Absicht, das zu tun, gefasst zu haben. Es wäre auch typisch für einen Traum, dass sie diese Absicht deutlich hat, aber die Straßenmitte nie verlässt. D.h. der Handelnde handelt als Getriebener, er entscheidet seine Handlungen nicht selbst. Auch wenn er Entscheidungen fasst, er führt sie im Traum nicht aus.

Mit dem Film „Spellbound“, 1945, hat Alfred Hitchcock die Tradition der Traumbilder mit der schwankenden Kamera und mit dem Bodennebel verlassen. Er wollte einen „rein visuellen Traum“ und glaubte auch, dass es einen solchen gäbe. Einen mit spitzen und harten Konturen, „härter als die Bilder des eigentlichen Films“. Deshalb engagierte er für „Spellbound“ Salvadore Dali, „wegen der schneidenden Konturen seiner Bilder (…), wegen der langen Schatten, der unendlichen Entfernungen, der Fluchtlinien, die sich im Unendlichen treffen“ (A.H. In: Francois Truffaut, Mr. Hitchcock wie haben Sie das gemacht?, München, 13.Auflage 1973 S. 156). Was er von Dali dann bekam und was er selber noch verstärkte, waren surrealistische Bilder, aber keine Traumbilder.

Der Reigen Max Ophüls
Pseudo–Nähe von Schwarzweißfilm und Traum. „Der Reigen“ von Max Ophüls, 1950

Der Traum ist nicht nur vom Spielfilm, sondern auch vom realen Leben weit entfernt. Das reale Leben kennt die Klarsicht, die Übersicht und die Absicht, auf die die Tat folgt. Ein Ich-Held sitzt z.B. verkühlt im Bus und fährt zu einem Treffpunkt mit festgelegtem Zeitpunkt. Durchs Fenster sieht er den Rand der Straße ganz genau. Seine Krankheit hindert ihn nicht am scharfen Sehen. Da er stark hustet, verlässt er seinen Sitzplatz und stellt sich zur pneumatischen Tür, weil dort niemand steht. Er will mit seiner Krankheit niemanden anstecken. Seine Beschwerden hören nicht auf, nur seine Taschentücher gehen zu Ende. Der Bus fährt auf den nächsten Halt zu, hinter dem das Schild einer Trafik zu sehen ist. In dem Moment fasst der Held eine Absicht. Er steigt aus, kauft sich Taschentücher und wartet auf den nächsten Bus.

Im realen Erleben herrscht der Zufall. Wie im Traum. Doch der Kauf in der Trafik und das Warten auf den nächsten Bus bilden eine Sinneinheit, die es im Traum nicht gibt. Die Masse dieser Sinneinheiten im Leben entzieht sich jedem Überblick und jeder Messung. Neben dem Sinn, der als Umsetzung der Absicht oder als Erfüllung der Erwartung verstanden werden kann, kann ein Menschenleben auch als schicksalhaft gesehen werden. Z.B. der Ich-Held verfehlt sein Treffen, weil er zu spät kommt, und lernt auf der Rückfahrt im Bus die Frau seines Lebens kennen. Dieser Frau folgt er ins Ausland und wird dort ein erfolgreicher Geschäftsmann. Diese Fügung ist ohne sein Zutun passiert, aber sie bindet ähnlich wie die Mikroabsicht des banalen Handelns die Aktionen und Zeitpunkte aneinander.

Das Leben des Einzelnen ist ohne Sinn und kann auch nicht als Story erzählt werden. Es ist indifferent gegenüber Kunst. Es enthält jedoch winzige Sinneinheiten, die Zufall und Notwendigkeit verbinden und in punkto Zahl unüberschaubar sind. Es ist Zufall, dass der Ich-Held den Höhepunkt seiner Verkühlung im Bus erlebt und dass sich bei der Haltestelle die Trafik befindet. Es ist Notwendigkeit, dass der Held aussteigt, die Taschentücher kauft und den Zeitpunkt des Treffens verfehlt. Von einer höheren Warte aus werden diese Zufälle als „Schicksal“ bezeichnet. Der Held trifft die Frau, freundet sich mit ihr an und macht, ihr nachfolgend, sein Glück im Ausland. Die alte Literatur hat diesen Zufall kindlich verherrlicht.

Für den Spielfilm gilt nun etwas, das ihn vom Traum und vom realen Erleben scharf unterscheidet: die Reduktion von Zufall. Wenn der Held im Bus fährt und dabei einen in Tuch eingewickelten Gegenstand bei sich hat, muss der Filmemacher allerhand begründen. Er muss die Busfahrt mit der vorhergehenden und der nachfolgenden Sequenz verbinden. Das transportierte Objekt muss er vollständig erklären (zumal es rätselhaft im Bild ist). Und die Welt, die der Bus durchfährt, muss er genau zeigen. Z.B. ein Bankräuber tauscht sein Auto, mit dem er die Flucht antrat, gegen den Bus. Er sitzt nun mit dem Geld und mit einer Flinte, die er in einen Regenmantel eingewickelt hat, im Bus und beobachtet den Verkehr. Um der Polizeisperre zu entkommen, fährt er mit dem Bus in Richtung Tatort zurück. Durchs Fenster sieht er die Polizeiautos in die entgegengesetzte Richtung fahren. So arbeitet der Film und so ist er auch witzig. Nur leider sind die meisten Fantasien nicht neu. In unserem Fall ist es eine Fantasie aus „Getaway“ (R: S. Peckinpah), 1972.

© M.Luksan, April 2023

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