Der Träumende geht eine breite und dunkle Straße dahin,
ohne dass er weiß, ob er lange Hosen und einen Mantel trägt.
Er sieht sich nicht von außen. Das ist die Sinneswahrnehmung
im Traum. Er fühlt, dass er etwas trägt und dass er, weil die
Straße so abschüssig ist, zu Fall kommen kann. Würde man ihn
mitten im Traum aufwecken und fragen: Was sahst du? würde er
sagen: die Dunkelheit! - Diese Dunkelheit hat zum Beispiel
Alfred Hitchcock sagen lassen, dass er einen Traum nie in hellen
Farben verfilmen würde. Ferner ist dem Erlebenden im Traum
der räumliche Überblick nicht möglich. In unserem Fall sieht er
nur die Breite, die Abschüssigkeit und die Dunkelheit der
Straße. All das sieht er wie ein fast Blinder - er spürt mehr als
er sieht. Plötzlich geht er nicht mehr in der Mitte, sondern
am Rand der Straße, ohne dass er die Veränderung seiner
Position beschlossen hätte. Er geht einfach am Rand, ohne zu
sehen, was dort ist, und er trägt etwas auf der Schulter. Dieses
Ding, das ein Spaten oder eine Heckenschere sein kann, ist
in ein Tuch eingewickelt.
Ein Traum könnte für den Körper des Träumenden einen
physiologischen Nutzen haben. Das denkt die Wissenschaft
schon lange, aber sie weiß nicht: ob und welchen Nutzen?
Es ist aber wissenschaftlich sicher, dass die Erregung im Gehirn,
die während des Leichtschlafes gemessen werden kann, durch
den Kortex fein weg gearbeitet wird. Der Traum ist die Deutung
dieser Erregung. Man würde gerne wissen, ob diese Aktivität
im Schlaf nicht auch ohne das Zutun des Vorderhirns -
in ungefähr der gleichen Zeit – wieder verschwinden würde.
Dann wäre der Schlafende zwar auch erregt, aber ohne das
Pseudoerleben des Traumes. Man weiß nicht, ob diese Deutung
durch den Kortex für den Menschen lebenswichtig ist.
Was aber seit langem sonnenklar ist, ist die geistig mindere Qualität
des Traumes. Die den Traum fundierende Gehirntätigkeit wird mangelhafter ausgeführt
als zB. bei der Wahrnehmung. Man muss sich nur die Traumbilder
genau anschauen: Die Wahrnehmung ist unscharf; das
Gesichtsfeld ist unvollständig; und es gibt keine Reflexion.
In unserem Beispiel wechselt die Ich-Figur ihre Position auf der
Straße, ohne die Absicht, das zu tun, gefasst zu haben.
Es wäre auch typisch für einen Traum, dass sie diese Absicht
deutlich hat, aber die Straßenmitte nie verlässt. D.h. der
Handelnde handelt als Getriebener, er entscheidet seine
Handlungen nicht selbst. Auch wenn er Entscheidungen fasst,
er führt sie im Traum nicht aus.
Mit dem Film „Spellbound“, 1945, hat Alfred Hitchcock die
Tradition der Traumbilder mit der schwankenden Kamera und
mit dem Bodennebel verlassen. Er wollte einen „rein visuellen
Traum“ und glaubte auch, dass es einen solchen gäbe.
Einen mit spitzen und harten Konturen, „härter als die Bilder des
eigentlichen Films“. Deshalb engagierte er für „Spellbound“
Salvadore Dali, „wegen der schneidenden Konturen seiner Bilder
(…), wegen der langen Schatten, der unendlichen Entfernungen,
der Fluchtlinien, die sich im Unendlichen treffen“ (A.H. In:
Francois Truffaut, Mr. Hitchcock wie haben Sie das gemacht?,
München, 13.Auflage 1973 S. 156). Was er von Dali dann bekam
und was er selber noch verstärkte, waren surrealistische Bilder,
aber keine Traumbilder.
Pseudo–Nähe von Schwarzweißfilm und Traum.
„Der Reigen“ von Max Ophüls, 1950
Der Traum ist nicht nur vom Spielfilm, sondern auch vom
realen Leben weit entfernt. Das reale Leben kennt die Klarsicht,
die Übersicht und die Absicht, auf die die Tat folgt. Ein Ich-Held
sitzt z.B. verkühlt im Bus und fährt zu einem Treffpunkt mit
festgelegtem Zeitpunkt. Durchs Fenster sieht er den Rand der
Straße ganz genau. Seine Krankheit hindert ihn nicht am scharfen
Sehen. Da er stark hustet, verlässt er seinen Sitzplatz und stellt
sich zur pneumatischen Tür, weil dort niemand steht. Er will mit
seiner Krankheit niemanden anstecken. Seine Beschwerden hören
nicht auf, nur seine Taschentücher gehen zu Ende. Der Bus
fährt auf den nächsten Halt zu, hinter dem das Schild einer
Trafik zu sehen ist. In dem Moment fasst der Held eine Absicht.
Er steigt aus, kauft sich Taschentücher und wartet auf den
nächsten Bus.
Im realen Erleben herrscht der Zufall. Wie im Traum. Doch der
Kauf in der Trafik und das Warten auf den nächsten Bus bilden
eine Sinneinheit, die es im Traum nicht gibt. Die Masse dieser
Sinneinheiten im Leben entzieht sich jedem Überblick und jeder
Messung. Neben dem Sinn, der als Umsetzung der Absicht oder
als Erfüllung der Erwartung verstanden werden kann, kann
ein Menschenleben auch als schicksalhaft gesehen werden.
Z.B. der Ich-Held verfehlt sein Treffen, weil er zu spät kommt, und
lernt auf der Rückfahrt im Bus die Frau seines Lebens kennen.
Dieser Frau folgt er ins Ausland und wird dort ein erfolgreicher
Geschäftsmann. Diese Fügung ist ohne sein Zutun passiert,
aber sie bindet ähnlich wie die Mikroabsicht des banalen
Handelns die Aktionen und Zeitpunkte aneinander.
Das Leben des Einzelnen ist ohne Sinn und kann auch nicht als
Story erzählt werden. Es ist indifferent gegenüber Kunst. Es
enthält jedoch winzige Sinneinheiten, die Zufall und Notwendigkeit
verbinden und in punkto Zahl unüberschaubar sind. Es ist
Zufall, dass der Ich-Held den Höhepunkt seiner Verkühlung im
Bus erlebt und dass sich bei der Haltestelle die Trafik befindet.
Es ist Notwendigkeit, dass der Held aussteigt, die Taschentücher kauft
und den Zeitpunkt des Treffens verfehlt. Von einer höheren Warte
aus werden diese Zufälle als „Schicksal“ bezeichnet. Der Held
trifft die Frau, freundet sich mit ihr an und macht, ihr nachfolgend,
sein Glück im Ausland. Die alte Literatur hat diesen Zufall
kindlich verherrlicht.
Für den Spielfilm gilt nun etwas, das ihn vom Traum und vom
realen Erleben scharf unterscheidet: die Reduktion von Zufall.
Wenn der Held im Bus fährt und dabei einen in Tuch eingewickelten
Gegenstand bei sich hat, muss der Filmemacher allerhand begründen.
Er muss die Busfahrt mit der vorhergehenden und der nachfolgenden
Sequenz verbinden. Das transportierte Objekt muss er vollständig
erklären (zumal es rätselhaft im Bild ist). Und die Welt, die der
Bus durchfährt, muss er genau zeigen. Z.B. ein Bankräuber
tauscht sein Auto, mit dem er die Flucht antrat, gegen den Bus. Er
sitzt nun mit dem Geld und mit einer Flinte, die er in einen
Regenmantel eingewickelt hat, im Bus und beobachtet den
Verkehr. Um der Polizeisperre zu entkommen, fährt er mit dem
Bus in Richtung Tatort zurück. Durchs Fenster sieht er die
Polizeiautos in die entgegengesetzte Richtung fahren. So
arbeitet der Film und so ist er auch witzig. Nur leider sind
die meisten Fantasien nicht neu. In unserem Fall ist es
eine Fantasie aus „Getaway“ (R: S. Peckinpah), 1972.
© M.Luksan, April 2023
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