Der ästhetisch zweideutige junge Künstler, der sich auf
nichts Kollektives beziehen lässt, wird in der kleinen Welt
der Kultur nicht weit kommen. In der Welt, wo jeder jeden
kennt, muss er eine anerkannte Kunstideologie vertreten
oder der Politik einer anerkannten Partei nahe stehen, damit
man von seiner künstlerischen Zwiespältigkeit für einen
Moment absieht und sich näher mit ihm beschäftigt. Diese
erste Einordnung muss möglich sein, oder der Einzelne wird
ignoriert. In der weiten Welt der Kultur ist man nicht so kleinlich.
Dort wird der Einzelne auch ohne das Kastel – Denken
erfasst. ZB. die junge Susan Sontag begann mit großen
Widersprüchen: Sie pries in einer Hochkultur – Zeitung den
Wert der massentauglichen Kultur. Das war ein neuer Zugang
zum Thema der anspruchslosen Kultur. Ferner schwor sie
in der kapitalistischen Riesenstadt New York auf Werte,
die man sich durch Geld nicht kaufen kann (Kreativität,
Bildung). Sie war aber insofern eine echte Amerikanerin,
als sie die europäischen Kulturen nicht höher einschätzte
als die der USA.
Die weite Welt der Kultur war in New York für Susan Sontag
sehr hilfreich für eine schnelle Karriere. Das Netzwerk aus
Personen und Institutionen, das ihr half, hat Benjamin Moser in
dem Buch „Sontag“ (München, 2022) ausführlich beschrieben.
Sie begann in der „Partisan Review“, nachdem diese vom
Geruch des Kommunismus befreit worden war. Der Herausgeber
dieser Zeitung war „Der Wohltäter“ Roger Straus (dem die Sontag
ihren ersten Roman widmete). Er war gewiss ein Medien - Tycoon
mit sehr viel Macht, der aber – im Unterschied zu den Springer,
Dichand, Kirch in Europa - vor allem für Highbrow – Medien
wirkte. Durch ihn gelangte die Sontag auch in das Magazin
„New York Review of Books “, wo die Rezensionen noch
begehrter waren als die der „New York Times“ oder die des
„New Yorker“. Straus war auch Mitbesitzer des Verlags „Farrar,
Straus und Giroux“, wo die Sontag fast alle ihre Bücher
herausbrachte.
Die Autoren und Autorinnen, die in den Straus – Medien schrieben,
hatten mit der Sontag eine Eigenschaft gemeinsam. Sie verachteten
alle die Middlebrow – Kultur ganz und gar. Diese galt ihnen als
spießig und tödlich für die Kreativität. In ihrer Kritik gingen sie
weiter als die Intellektuellen in Wien, die Boulevard und Semi-Trash
nur sehr vorsichtig kritisieren. Die Straus-Medien waren
und sind übrigens mit dem Guggenheim Museum und mit
dem Kunsthandel eng verbunden. Auch dadurch erklärt
es sich, dass Susan Sontag und die Mitglieder der Family
geradezu leidenschaftlich für die Kunstmoderne schrieben.
Dadurch nahmen sie die ältere und – scheinbar – mächtigere
New Yorker Kritiker – Gruppe gegen sich ein. Diese Lionel
Trilling, Edmund Wilson, Daniel Bell usw. sahen sich
selber als den Damm „gegen die Beliebigkeit, den Nihilismus
und die Verschmutzung der Kultur“. Sie waren selber Juden
und kritisierten nun die jüdischen Modernisten mit den
schärfsten Worten. ZB. Susan Sontag wurde „Schwindlerin“,
„Hexenmeisterin“, „Swingerin“ genannt. Dennoch kam es nie
zu Gerichtsprozessen, Ohrfeigen oder lebenslanger Ignoranz.
Anders als die andern Modernisten wollte die Sontag - wie
gesagt - die Lowbrow-Kultur voll verstehen und teilweise
aufwerten. In ihrer Beschäftigung mit Kitsch, Camp, Werbung,
Hollywood usw. stieß sie auf Andy Warhol, der in der East Forty-Seventh
Street gerade seine „Factory“ gegründet hatte. Er galt um
1964 kurze Zeit als „der“ Designer in den USA, nur weil er
Schuhe sehr erfolgreich beworben hatte. Der Sontag fiel die
Gespaltenheit des jungen Mannes auf. Hier der bleiche, introvertierte ,
homosexuelle Stotterer und dort der lässige, kaugummikauende
Dandy, der sich mit redenden Intellektuellen umgab und selber
als wortfauler Boulevard – Promi auftrat.
Dieser Mensch ohne jede Tiefe (Warhol sah sich selber so) war
als solcher die inkarnierte Wiederholung, die inkarnierte Oberfläche.
Er durchschaute jedoch schnell das eine oder andere Phänomen,
das sich die Sontag erst mühevoll und theoretisch erklären musste.
Sie ging zu ihm und erlaubte ihm sieben Probeaufnahmen,
bis sie ihre typische Lebendigkeit und Redelust verloren
hatte und nur noch das äußerliche Bild „der“ Sontag darbot,
das Warhol einzig haben wollte. Die Sontag, wie sie ist, und „die“
Sontag, wie sie auftritt (diskutiert, Männer kennen lernt und in der
Disco tanzt) wurden ihr bald selber zum Problem.
Susan Sontag 1966
Als sie und Warhol einander kennen lernten, um 1965, sah es in
ganz NYC so aus, als ob alle hellen und quicken Brights ein
bestimmtes Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ und
ein anderes in „Das Sein und das Nichts“ genau gelesen und
sich geistig anverwandelt hätten. Das An – sich – für – sich – sein
war damals eine Neuheit, über die die Intellektuellen in New York
diskutierten (während man es in Wien kaum kannte. Dort
wurden Hegel, Sartre und andere Meisterdenker eisig ignoriert.)
Nicht nur Warhol, auch die Sontag fühlte sich im Kapitalismus als
Objekt und überlegte, wie sie dem Objekt – Sein entkommen
könnte. Durch psychische Souveränität. Der unguten Passivität steht diese als Gegenpol gegenüber.
In Wien hätte man Einiges erläutern können. ZB. das Problem,
dass der Einzelne den Eindruck kontrollieren will, den er bei
anderen Menschen hinterlässt. Das Buch „Wir alle spielen Theater“
(dt. Titel) von Erving Goffman war 1959 in den USA erschienen
und eigentlich eine Pflichtlektüre für Wien. Doch der Theaterstadt
war das zu intellektuell. Auch Goffman hatte „seinen“ Sartre
gelesen, zumal er ihn für seine Soziologie benötigte. Um 1975
rief der polnische Philosoph Adam Schaff, als ihm Studenten
widersprachen, verächtlich in den Hörsaal hinein: „Tun Sie bitte
nicht so, als ob in Wien Das Sein und das Nichts von irgend
jemandem je gelesen worden wäre!“ Auch eine andere
Diskussion, die Susan Sontag wichtig war, die über den Autor
als den Urheber eines Textes (die peinliche Frage, ob ein Text
nicht vielleicht von mehreren Autoren geschrieben ist), war nie
bis nach Österreich gelangt.
Dabei sah sich Österreich seit dem PEN – Kongress 1955 in
der Wiener Hofburg als ein Land der Literatur. Viele Sendungen,
Seiten, Anthologien wurden nur für die Poesie gemacht.
Der „Österreichische Schriftstellerverband“, bereits seit 1945,
stand trotz der „Ehemaligen“ in seinen Reihen in engem
Austausch mit dem österreichischen PEN. Dieser wurde
elitär und ließ eines Tages verschiedene Autoren nicht
mehr an sich heran. Die die draußen waren, fanden keine
Inwendigen mehr, die sie als PEN - Mitglieder empfahlen.
Fazit: Die „Grazer Autorenversammlung“ wurde gegründet.
Zwei große Nachwuchs – Förderer gab es auch. Diese
waren einander nicht grün und betreuten zwei verschiedene
Schützlings – Gruppen (H. Weigel und F. Torberg). In diese
Welt trat der Wichtigtuer Wolfgang Kraus ein, der seine
„Österreichische Gesellschaft für Literatur“ bereits 1961 gegründet
hatte. In den 1970ern hamsterte er Funktionen. Deshalb
war er auch im Außenministerium für Kultur zuständig und
kämpfte von dort aus gegen die neu gegründete „Alte Schmiede“
an (diskret – denn das BM für Außenpolitik und die AS waren
damals beide SPÖ).
Dennoch ist der Raum z.B. für Literatur in Österreich recht
übersichtlich. Er ist nicht divers und vielfältig, wie man meinen
könnte. Erstens ist die Öffentlichkeit für Kunst und Literatur
quasi verwaltet (Beamte in den Magistraten, Pseudo – Freie in
lebenslangen Geschäftsführer – Positionen in Vereinen,
subventionierte Besitzer von Zeitungen usw.) Zweitens ist
der alleinige Geldgeber für Literatur und Kunst der Staat
(die Reichen geben in Österreich für Kunstschätze, aber nicht
für Kunstproduktion Geld aus). Da die Märkte in Österreich
viel zu klein sind und alle vom Staat abhängen, will in der
Öffentlichkeit niemand anecken. So gibt es in Österreich
auch die wohl begründete, scharfe Kritik an einer Gegenposition
überhaupt nicht.
Die Wahrheit ist, dass nicht nur die Duchamp, Malewitsch und
Schönberg in Österreich einst sehr verachtet, nicht besprochen und
dann Heilige in den Archiven wurden. Auch den Nitsch, Rainer und
Mühl ist in der 2. Republik das gleiche Schicksal widerfahren.
Zuerst wusste man nur, dass sie Sittlichkeitsstrolche, Ferkel und
Schmierer waren. Dann kam der ausländische Blitz und sie
waren plötzlich „ganz Große“, über die man auch später
nicht viel sagen, nur raunend sprechen wollte. Dieses Kapitel
hängt mit der Intellekt – Ferne zusammen. Nur von den
Medien ausgewählte Personen dürfen öffentlich abstrakt und
kompliziert formulieren. Die andern nicht. Früher war der
Intellekt in Österreich eine Sache der Juden. Doch auch die
jüdischen Kritiker in Wien haben einst die Kunstmoderne nicht
oder nicht genug geprüft. Sie wollten sich vielleicht anpassen.
So wurde die Kunstmoderne schon damals zur Kröte, die
man nicht zurückweisen kann, die man schlucken muss.
Die junge Susan Sontag explodierte vor Intellekt. Sie entdeckte
Halbwahrheiten der Kunstmoderne. ZB. die „New York School“ der
Malerei befand zu Recht, dass ein junger Maler in der Lage sein
sollte, seine Kreativität ohne die Kontrolle und ohne die
Beurteilung durch eine Schule zu entfalten. Doch die School sagte
nicht: Während der Künstler auf die Schule verzichtet, muss
er irgendwo Messwerte für seine Kunst finden. - Die jungen
Maler sagten: Messwerte gibt es nicht! - Doch die Sontag
sagte: Ich will sie finden!
Sie, die ursprünglich ganz mit der Tradition brechen wollte
und dabei die Billigkultur entdeckte, brach letztlich nicht
ganz mit der Tradition und fand sogar (vielleicht ähnlich
wie R. Barthes) die „Hybris des Kaputten“ in der
Kunstmoderne. Aber das ist eine andere Geschichte...
Jedenfalls hatte ihre weite Welt der Kultur zwar auch einen
Geldgeber und eine Abhängigkeit, aber keinen Geldgeber,
der alle bezahlte und von allen eine sprachliche Zurückhaltung
verlangte. Ihr wurde die Zwiespältigkeit erlaubt – und
der scharfe Intellekt. Außerdem brauchte sie keine Angst
vor dem Boulevard zu haben, weil niemand in ihrem Umfeld
vom Boulevard in irgendeiner Weise abhängig war.
© M.Luksan, Juni 2023
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