Die Entstehung von Poesie kann – logisch gesehen – nur zwei
Wege nehmen. Entweder man umschreibt einen Sachverhalt durch
blumige Wörter, die zum Sachverhalt andere, fern liegende
Nachrichten hinzufügen. Oder man lässt eine Nachricht, die zum
Sachverhalt gehört, so geschickt weg, dass die Sache dennoch
mitgeteilt werden kann. In der Praxis beschreitet ein Poet in
einem einzigen Text beide Wege. Er verdichtet durch Umschreibung,
aber auch durch Weglassung. Beispiel für Umschreibung: „Auf
der ganzen Welt lässt McDonalds Erdenbürger schlemmen.“
Beispiel für Verknappung: „Nach dem Verzehr eines Big Mac
wischt sich der Esser gleich den Mund.“ Bei der Verknappung wurde
kein blumiges Wort herbei geholt, um z.B. die fette Semmel
zu beschreiben, sondern das Fett des Big Mac wird weg
gelassen und durch das Wischen des Mundes indirekt mitgeteilt.
Hans Peter Heinzl, der Kabarettist, zitierte einst folgende
Headline aus einer Zeitgeist – Zeitschrift: „Wien ist, wo am 10.
November der anständige Bürger in die Zelle wandert.“ Heinzl
kritisierte das. Der Schreiber dieses Satzes, sagte er mit Recht,
war entweder noch nie im Häfen oder er hat noch nie den Stimmzettel
eingeworfen. - Sein Zitat zeigt einen billigen Witz und sie belegt
auch den - allgemein geduldeten – Missbrauch von Poesie.
Was der Poesie nicht erlaubt ist, nämlich um den Preis einer
schönen Form etwas Geistloses zu erzeugen, darf sich der
Zeitungstext erlauben. Er behauptet hier, nur um Aufmerksamkeit
und Lacher zu erringen, dass die Paravents im Wahllokal eine
Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle haben.
Über einen anderen Kabarettisten stand zu lesen: „Hat nicht auch
Erwin Steinhauer schon versucht, seine Stimmbänder ins heiß
begehrte Rampenlicht zu rücken?“ - Hier hatte nicht die
Gedankenlosigkeit eines Schnellschreibers gewirkt, sondern der
Schreiber hatte eine Überlegung angestrengt. Eine Umschreibung
für „singen“ wurde mit einer für „Bühnenauftritt“ verknüpft. Das
ergab den unfreiwillig komischen Effekt, dass Stimmbänder ins
Rampenlicht gerückt werden. - Eine Konvention weist unsere
Kritik als „Sprachpolizei“ zurück. Gleichsam: Wir sind Schludermeier,
wen stört´ s? Hauptsache, dass man uns versteht! - Diese
Konvention geht sogar noch weiter und sagt: Für Genauigkeit
haben wir leider keine Zeit! - Mit diesem Argument würden sich
die Schludermeier auch als Lügner offenbaren. Denn sie
haben für jene Frage an E. Steinhauer viel Zeit verloren.
Keiner von den Schludermeiern, Schwätzern und Medienprofis
will mit der Oberfläche arbeiten. Das lässt sich generell
sagen. Sie wollen alle mit der Schichtung arbeiten. Doch dort,
wo die Poesie beginnt, passieren ihnen dann die Fehler. Sie
schreiben: „Phil Collins liebt einen Pinguin“ oder „J.R. gibt sich
die Mozartkugel“ und halten diese Sätze für schön und
geistvoll. Ersteres sind sie vielleicht, zweiteres gewiss nicht.
Phil Collins hatte einen Goldenen Pinguin in seinem Wohnzimmer
stehen, den er als eine Art Trophäe dort duldete. Larry
Hagman dachte nicht daran, sich umzubringen, als die
TV Serie „Dallas“ aufhörte, sondern er besuchte Salzburg.
In der Mozartstadt hatte er nicht vor, Mozartkugeln zu essen,
sondern er wollte in Salzburg eine neue Serie voranbringen.
Was also wollten die Journalisten eigentlich sagen?
In den 1980 er Jahren beklagte man bitter die Spaßkultur,
über die man heute nicht mehr spricht. Die Digi – Kultur
hat die Spaßkultur nicht verringert. In der Tat hat der Zwang,
alles unterhaltsam sagen zu müssen, das Amüsement nicht
ins Unerträgliche gesteigert. Es hat auch der Narzissmus
nicht aufgehört, nur weil nicht mehr so oft vor ihm gewarnt
wird. Auch ist die Schrumpfung der Bildung kein großes
Thema mehr, wie das in Frankreich und in Deutschland
eine Zeitlang der Fall war. Dieses Thema ist heute nicht
mehr heiß, obwohl das durchschnittliche Bildungsniveau –
in der Mitte Europas - einem neuen Tiefpunkt zustrebt.
Jean Francois Lyotard (lebte er noch) könnte darüber jubeln,
denn er hatte den „Terror der Bildung“ mehrmals behauptet.
Diese Postman, Lasch und Lyotard haben allerdings die
Ausbreitung von Oberflächlichkeit richtig vorhergesagt.
Die Oberflächlichkeit ist nicht die Oberfläche. Sie ist nicht der
direkt gefasste Sachverhalt, sondern eine missglückte Form
der Schichtung. Es ist unklar, warum eine Gesellschaft, die
überall sonst die Effizienz bejubelt und anbetet, diese in
der Kultur gering schätzt. In den Kultursparten bemühen sich
die Formulierungen, die Darstellungen und die Expressionen
zu wenig um die Sachen, um das Intentum, sondern sie
versuchen überall, das Spielerische, das Unernste, das
Zeitlose in der sprachlichen Vorstellung zu betonen. Sogar
der Radiosprecher formuliert wie ein Journalist, der zu
wenig Material für seinen Artikel hat: „In der Creme de la
Creme erlebte er das Handeln der Großen mehr als einmal
erste Reihe fußfrei mit.“ Er lehnt es ab, kürzer und
genauer zu formulieren: „In der Oberschicht erlebte er die
Regierenden hautnah mit.“
Missglückte Poesie – Nicht einmal das
ringförmige Santorin ist zu erkennen.
Der Werbung kann man vorwerfen, dass sie den Blick auf die
Welt verstellt. Sie setzt das Produkt in einen produktfernen
Konnex hinein. Man kann ihr auch vorwerfen, dass sie
manipuliert, belästigt und den realen Raum verstellt. Doch
in der Regel funktioniert sie ohne Krampf. Das verdankt sie ihrer
Kürze. Der Werbesatz bleibt entweder diskret haften oder er
beschäftigt einen als Gedanken - Nuss. Der durch falsche
Schichtung erzeugte Unterhaltungskrampf bedeutet einen
Zeitverlust, wenn man ihn aufzulösen versucht. „In Sovata
geht Fürst Draculas Seele auf Kur“ ist genauso ein falscher
Satz wie „Die Ursache für den Ersten Weltkrieg ging
durch den Kopf einer Schlange“. Eine Kugel, die Franz
Ferdinand traf, ging durch ein Stückchen tätowierter Haut
hindurch, dort wo der Kronprinz eine Tätowierung hatte.
Sie ging nicht durch eine Schlange, sondern durch die
Zeichnung einer Schlange.
Karl Kraus hat solche Kleinigkeiten wohl beachtet. Er übte
einen moralischen Realismus, hatte aber nichts dagegen,
für Pointen selber die Großsprecherei, die Zweideutigkeit und
den Kalauer zu praktizieren. Den Satz eines Journalisten
im Interview mit Simon Wiesenthal hätte er wohl auch
selbst geschrieben: „Er durchlitt ein Wiesen – Thal der
Depression.“ Diese Pointe (dieses Wort) ist nicht Oberfläche,
sondern Poesie. Sie ist jedoch eine geistlose Poesie,
weil das Tal einer Depression mit einer Wiese nichts zu
tun hat. Dennoch gilt auch das als erlaubt, obwohl das Wort
zum Sachverhalt Null hinzu fügt. Die Oberfläche kann karg
und banal sein, aber auch vielsagend und neu. Die
missglückte Schichtung aber ist immer vom Geist abgetrennt
und sie vernebelt immer die Oberfläche, die sie nicht
vertieft.
Was heute zunimmt, ist vielleicht gar nicht das falsche Wort,
sondern der falsche Satz. In ihm offenbart sich die Oberflächlichkeit voll und ganz. (Die offene Frage, welche Umstände
dieses Negativum fördern!) Eine Boulevard – Zeitung berichtete
von einem Tourismus – Ort aus Niederösterreich, aus Anlass
der Eröffnung eines Golfplatzes. Eine Landesrätin eröffnete
ein „Ladies Golf Open“. Die Zeitung schreibt: „Die Damen powern
sich aus und lernen hinterher den Retzer Kürbis kennen.
Wer nicht Golf spielt, erhält die Chance, der Marille zu begegnen,
oder ein weinmaliges Erlebnis zu haben.“ Statt die Stimmung
der Location zu beschreiben, wird nur die Oberfläche des
Geschehens wieder gegeben. Vier Seiten später interviewt
eine andere Zeitungsfrau eine bekannte Schauspielerin
aus dem „Bergdoktor“. „Die 37 jährige lehnt an der grün
gestrichenen Tür ihrer Designer – Küche und wartet auf ein
Geräusch ihrer Hightech – Kaffeemaschine, dass diese anzeigt,
dass der Capuccino fertig ist.“ Auch hier fehlt das Wichtigste,
das zu sagen wäre. Es gibt keine Beschreibung des
tatsächlichen Aussehens der Frau und keine Frage nach dem
Wert der TV Serie. Die Leser erfahren nur, was sich die
Schauspielerin materiell leisten kann. Das ist nicht die Oberfläche
dessen, was die Journalistin wirklich erlebt hat, sondern
nur das, was für Konsumtratsch wichtig ist. Der Retzer
Kürbis und die Wachauer Marille sind hier ein Produkt von
40 Jahren Werbung. Und das Interview ist das Resultat
von zweitausend anderen Wochenend-Interviews, die
andere Journalisten schon gemacht haben.
© M.Luksan, November 2023