DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Poesie und Oberfläche

Die Entstehung von Poesie kann – logisch gesehen – nur zwei Wege nehmen. Entweder man umschreibt einen Sachverhalt durch blumige Wörter, die zum Sachverhalt andere, fern liegende Nachrichten hinzufügen. Oder man lässt eine Nachricht, die zum Sachverhalt gehört, so geschickt weg, dass die Sache dennoch mitgeteilt werden kann. In der Praxis beschreitet ein Poet in einem einzigen Text beide Wege. Er verdichtet durch Umschreibung, aber auch durch Weglassung. Beispiel für Umschreibung: „Auf der ganzen Welt lässt McDonalds Erdenbürger schlemmen.“ Beispiel für Verknappung: „Nach dem Verzehr eines Big Mac wischt sich der Esser gleich den Mund.“ Bei der Verknappung wurde kein blumiges Wort herbei geholt, um z.B. die fette Semmel zu beschreiben, sondern das Fett des Big Mac wird weg gelassen und durch das Wischen des Mundes indirekt mitgeteilt.

Hans Peter Heinzl, der Kabarettist, zitierte einst folgende Headline aus einer Zeitgeist – Zeitschrift: „Wien ist, wo am 10. November der anständige Bürger in die Zelle wandert.“ Heinzl kritisierte das. Der Schreiber dieses Satzes, sagte er mit Recht, war entweder noch nie im Häfen oder er hat noch nie den Stimmzettel eingeworfen. - Sein Zitat zeigt einen billigen Witz und sie belegt auch den - allgemein geduldeten – Missbrauch von Poesie. Was der Poesie nicht erlaubt ist, nämlich um den Preis einer schönen Form etwas Geistloses zu erzeugen, darf sich der Zeitungstext erlauben. Er behauptet hier, nur um Aufmerksamkeit und Lacher zu erringen, dass die Paravents im Wahllokal eine Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle haben.

Über einen anderen Kabarettisten stand zu lesen: „Hat nicht auch Erwin Steinhauer schon versucht, seine Stimmbänder ins heiß begehrte Rampenlicht zu rücken?“ - Hier hatte nicht die Gedankenlosigkeit eines Schnellschreibers gewirkt, sondern der Schreiber hatte eine Überlegung angestrengt. Eine Umschreibung für „singen“ wurde mit einer für „Bühnenauftritt“ verknüpft. Das ergab den unfreiwillig komischen Effekt, dass Stimmbänder ins Rampenlicht gerückt werden. - Eine Konvention weist unsere Kritik als „Sprachpolizei“ zurück. Gleichsam: Wir sind Schludermeier, wen stört´ s? Hauptsache, dass man uns versteht! - Diese Konvention geht sogar noch weiter und sagt: Für Genauigkeit haben wir leider keine Zeit! - Mit diesem Argument würden sich die Schludermeier auch als Lügner offenbaren. Denn sie haben für jene Frage an E. Steinhauer viel Zeit verloren.

Keiner von den Schludermeiern, Schwätzern und Medienprofis will mit der Oberfläche arbeiten. Das lässt sich generell sagen. Sie wollen alle mit der Schichtung arbeiten. Doch dort, wo die Poesie beginnt, passieren ihnen dann die Fehler. Sie schreiben: „Phil Collins liebt einen Pinguin“ oder „J.R. gibt sich die Mozartkugel“ und halten diese Sätze für schön und geistvoll. Ersteres sind sie vielleicht, zweiteres gewiss nicht. Phil Collins hatte einen Goldenen Pinguin in seinem Wohnzimmer stehen, den er als eine Art Trophäe dort duldete. Larry Hagman dachte nicht daran, sich umzubringen, als die TV Serie „Dallas“ aufhörte, sondern er besuchte Salzburg. In der Mozartstadt hatte er nicht vor, Mozartkugeln zu essen, sondern er wollte in Salzburg eine neue Serie voranbringen. Was also wollten die Journalisten eigentlich sagen?

In den 1980 er Jahren beklagte man bitter die Spaßkultur, über die man heute nicht mehr spricht. Die Digi – Kultur hat die Spaßkultur nicht verringert. In der Tat hat der Zwang, alles unterhaltsam sagen zu müssen, das Amüsement nicht ins Unerträgliche gesteigert. Es hat auch der Narzissmus nicht aufgehört, nur weil nicht mehr so oft vor ihm gewarnt wird. Auch ist die Schrumpfung der Bildung kein großes Thema mehr, wie das in Frankreich und in Deutschland eine Zeitlang der Fall war. Dieses Thema ist heute nicht mehr heiß, obwohl das durchschnittliche Bildungsniveau – in der Mitte Europas - einem neuen Tiefpunkt zustrebt. Jean Francois Lyotard (lebte er noch) könnte darüber jubeln, denn er hatte den „Terror der Bildung“ mehrmals behauptet. Diese Postman, Lasch und Lyotard haben allerdings die Ausbreitung von Oberflächlichkeit richtig vorhergesagt.

Die Oberflächlichkeit ist nicht die Oberfläche. Sie ist nicht der direkt gefasste Sachverhalt, sondern eine missglückte Form der Schichtung. Es ist unklar, warum eine Gesellschaft, die überall sonst die Effizienz bejubelt und anbetet, diese in der Kultur gering schätzt. In den Kultursparten bemühen sich die Formulierungen, die Darstellungen und die Expressionen zu wenig um die Sachen, um das Intentum, sondern sie versuchen überall, das Spielerische, das Unernste, das Zeitlose in der sprachlichen Vorstellung zu betonen. Sogar der Radiosprecher formuliert wie ein Journalist, der zu wenig Material für seinen Artikel hat: „In der Creme de la Creme erlebte er das Handeln der Großen mehr als einmal erste Reihe fußfrei mit.“ Er lehnt es ab, kürzer und genauer zu formulieren: „In der Oberschicht erlebte er die Regierenden hautnah mit.“

Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965
Missglückte Poesie – Nicht einmal das ringförmige Santorin ist zu erkennen.

Der Werbung kann man vorwerfen, dass sie den Blick auf die Welt verstellt. Sie setzt das Produkt in einen produktfernen Konnex hinein. Man kann ihr auch vorwerfen, dass sie manipuliert, belästigt und den realen Raum verstellt. Doch in der Regel funktioniert sie ohne Krampf. Das verdankt sie ihrer Kürze. Der Werbesatz bleibt entweder diskret haften oder er beschäftigt einen als Gedanken - Nuss. Der durch falsche Schichtung erzeugte Unterhaltungskrampf bedeutet einen Zeitverlust, wenn man ihn aufzulösen versucht. „In Sovata geht Fürst Draculas Seele auf Kur“ ist genauso ein falscher Satz wie „Die Ursache für den Ersten Weltkrieg ging durch den Kopf einer Schlange“. Eine Kugel, die Franz Ferdinand traf, ging durch ein Stückchen tätowierter Haut hindurch, dort wo der Kronprinz eine Tätowierung hatte. Sie ging nicht durch eine Schlange, sondern durch die Zeichnung einer Schlange.

Karl Kraus hat solche Kleinigkeiten wohl beachtet. Er übte einen moralischen Realismus, hatte aber nichts dagegen, für Pointen selber die Großsprecherei, die Zweideutigkeit und den Kalauer zu praktizieren. Den Satz eines Journalisten im Interview mit Simon Wiesenthal hätte er wohl auch selbst geschrieben: „Er durchlitt ein Wiesen – Thal der Depression.“ Diese Pointe (dieses Wort) ist nicht Oberfläche, sondern Poesie. Sie ist jedoch eine geistlose Poesie, weil das Tal einer Depression mit einer Wiese nichts zu tun hat. Dennoch gilt auch das als erlaubt, obwohl das Wort zum Sachverhalt Null hinzu fügt. Die Oberfläche kann karg und banal sein, aber auch vielsagend und neu. Die missglückte Schichtung aber ist immer vom Geist abgetrennt und sie vernebelt immer die Oberfläche, die sie nicht vertieft.

Was heute zunimmt, ist vielleicht gar nicht das falsche Wort, sondern der falsche Satz. In ihm offenbart sich die Oberflächlichkeit voll und ganz. (Die offene Frage, welche Umstände dieses Negativum fördern!) Eine Boulevard – Zeitung berichtete von einem Tourismus – Ort aus Niederösterreich, aus Anlass der Eröffnung eines Golfplatzes. Eine Landesrätin eröffnete ein „Ladies Golf Open“. Die Zeitung schreibt: „Die Damen powern sich aus und lernen hinterher den Retzer Kürbis kennen. Wer nicht Golf spielt, erhält die Chance, der Marille zu begegnen, oder ein weinmaliges Erlebnis zu haben.“ Statt die Stimmung der Location zu beschreiben, wird nur die Oberfläche des Geschehens wieder gegeben. Vier Seiten später interviewt eine andere Zeitungsfrau eine bekannte Schauspielerin aus dem „Bergdoktor“. „Die 37 jährige lehnt an der grün gestrichenen Tür ihrer Designer – Küche und wartet auf ein Geräusch ihrer Hightech – Kaffeemaschine, dass diese anzeigt, dass der Capuccino fertig ist.“ Auch hier fehlt das Wichtigste, das zu sagen wäre. Es gibt keine Beschreibung des tatsächlichen Aussehens der Frau und keine Frage nach dem Wert der TV Serie. Die Leser erfahren nur, was sich die Schauspielerin materiell leisten kann. Das ist nicht die Oberfläche dessen, was die Journalistin wirklich erlebt hat, sondern nur das, was für Konsumtratsch wichtig ist. Der Retzer Kürbis und die Wachauer Marille sind hier ein Produkt von 40 Jahren Werbung. Und das Interview ist das Resultat von zweitausend anderen Wochenend-Interviews, die andere Journalisten schon gemacht haben.

© M.Luksan, November 2023

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