Gerd Leitgeb, als er beim KURIER wirkte, schrieb einst den
Satz: Wir fördern die Erlauchten, nicht die Erleuchteten! - Das
war einerseits vernünftig gesprochen, wenn man an Mussolini
und Hitler denkt, auch an den österreichischen Journalismus
der 1920 er Jahre, andererseits ist´ s eine Ideologie. Der Satz
bedeutet auch, theatralisch formuliert: Komme uns, o Mensch,
nicht mit einer Kritik, die das Establishment noch gar nicht
approbiert hat. Sei Präsident, Direktor, Minister oder Chefredakteur,
dann stelle öffentlich etwas in Frage! Bist du unbekannt,
so schweige still! Eine einzige Ausnahme machen wir: Das
ist der Kabarettist! Dieser bleibt, sofern er nicht Rundfunk –
verbreitet wird, auf seinen Keller beschränkt.
Kritik darf nicht von unten kommen, das ist in Österreich
Tradition. Diese hat mit der Ausrottung des republikanischen
Systems, des Protestantismus und des Jakobinismus
im Habsburgerreich zu tun. Die Historiker haben dazu
geforscht, sie haben es nicht vertuscht, doch man hört
und liest darüber nur sehr wenig. Der Katholizismus bewachte
die Öffentlichkeit. Zwischen den Weltkriegen wurde die Kritik
des Einzelnen innerhalb von Partei geduldet (innerhalb von
Partei gegen alles außerhalb von Partei). Nach 1945 wurde
sie im künstlerischen Untergrund geduldet. Heute gibt es sie
im Internet unter der Bedingung, dass rituell vor dem
Internet gewarnt wird. Die großen Medien und damit die
sogenannte seriöse Öffentlichkeit filtern die Kritik von
namenlosen oder ranglosen Personen nicht nur berechtigt,
sondern auch unberechtigt aus.
Diese Zensur, über die niemand spricht und die in diesem Sinn
auch nicht besteht, hat keine Ähnlichkeit mit der des Metternich.
Sie ist nicht geschrieben und sie beruht auf Selbstzensur. Jeder
oder jede, die beim Verschwinden von Nachrichten des
„Frühjournals“ im „Morgenjournal“ (ORF) beteiligt war, oder
jeder oder jede, die Moderationen für Werberahmensendungen
(ORF) verfasst hat, oder jeder oder jede, die je für eine Zeitung
geschrieben hat, weiß um das Wegstreichen von an sich
treffenden Wörtern und Sätzen nur deshalb, weil sie jemandem
missfallen könnten. Diese Selbstzensur ergibt sich im
Journalismus wie von selbst, dürfte aber in Österreich gesteigert
sein.
Dem strukturbedingten „Schuldigwerden“ weicht jener Journalismus
aus, der politische Themen meiden und wohlwollend berichten
möchte. ZB. Walfrid Reismann, ein Autor aus Niederösterreich
mit Schulabschluss in Wien, bei den Schulbrüdern in Strebersdorf, begann beim KURIER als Schreiber von Kolumnen (das „Kleine
Bezirksgericht“, „Durchgeschaut“, “Reismann geht durch Wien“).
Er hat dieser Zeitung primär unterhaltsame Texte geschenkt
und ist dafür von Eberhard Strohal 1971 mit großer Ignoranz
bestraft worden. Er wollte über Yassir Arafat in der Wüste berichten
und Strohal sagte nur: Lassen Sie das lieber, Herr Reismann,
Sie sind ja kein Außenpolitiker! - Da die Anpassung dieses
Journalisten löblicherweise nie total gewesen ist, war damit sein
Wirken für den KURIER beendet.
Reismann und Curd Jürgens.
W. Reismann ist das Beispiel eines Journalisten, der die Welt
primär gut finden, Routine vermeiden und eine poetische Ader
in sich nicht unterdrücken wollte. Routine vermeiden ist
etwas Edles. Seinen persönlichen Stil entfalten, das wollte er,
und das „Profil“ bot ihm dazu Gelegenheit. Es war die zweite
Zeitung, bei der er länger war. Sie bot freilich kein wirklich gutes
Gehalt, so wie er es vorher und nachher bei HÖR ZU, der
Österreich – Ausgabe der deutschen Fernsehzeitung, bezogen
hat. Die Zeit bei „Profil“ regte ihn aber an, denn diese Zeitung
war – zumindest in den 1970 ern – die am Meisten kritische in
Österreich. Er konnte sich dort eine Schärfe wie bisher nie zuvor
erlauben. Nicht nur bei Holocaust – Themen, auch bei Porträts
wie zB. über H. Qualtinger, den er realistisch einfing.
Wer zB. über Jazz-Gitti aus Anlass ihres Lebensberichtes
schreiben möchte, darf das Faktum nicht verschweigen, dass
Gitti die singende Ulknudel nicht deshalb wählte, weil das den Leuten
so gut gefiel, sondern weil das der einzige Weg war, sich als
monströs aussehender Teenager selbst zu verspotten, ehe das
die Gleichaltrigen machten. Es ist auch kein Lebensporträt
von Udo Jürgens denkbar, bei dem man weglässt, dass er
sich durch forcierte Freundlichkeit zum Lieblingssänger von
Spitzenpolitikern gemacht hat (O – Ton Jürgens: Fest
anpacken und immer freundlich sein, dann wirst du eines Tages
zu denjenigen gehören, die ganz oben sein werden!) - Der
wohlwollende Journalismus verstößt gegen das Prinzip der
vollständigen Aspekte, weil er hofft, dass die Wahrheit auch
beim Weglassen der Schattenseiten einer Persönlichkeit
mitgeteilt werden kann.
Nach seiner Zeit bei „Profil“ ging Reismann nicht zu Hans Dichand,
der ihm mehr als einmal ein Angebot gemacht hat, sondern
er ging zu HÖR ZU. HÖR ZU bezahlte eine höhere Gage als die
Kronen Zeitung. Nun porträtierte er hauptsächlich fernsehpräsente
Schauspieler und Künstler. Das tat er als Chefreporter in
Nobellokalitäten, wo das Magazin sämtliche Spesen aller
am Zustandekommen des Interviews Beteiligten bezahlte.
Berühmte Künstler waren erfreut und gingen aus sich heraus,
offenbar wissend, dass Reismann (so wie Roman Schließer
auch) nur das Gute und Vorteilhafte bringen werde. In jenen
Porträts vereinigte sich die prinzipielle Affirmation dieses
Journalisten mit seiner Formulierungsgabe. Reismann
formulierte persönlich, unter Weglassung schicker journa-
listischer Rhetorik. Sein Buch „Zeitenblicke“ enthält einen Teil
dieser Porträts. Nüchterne Bewunderung. Gestus von Leben
und Lebenlassen. Kritik an den Glitzerwelten nur dann, wenn
Reismann diese in Watte packen konnte.
Reismann und Oskar Werner.
Nach dem Tod von Axel Springer (1985) wurde die österreichische
Ausgabe von HÖR ZU eingestellt, Reismann hätte nach Hamburg
übersiedeln müssen, um weiter für das Magazin arbeiten zu können.
So landete er bei Kurt Falk, der gerade DIE GANZE WOCHE gegründet
hatte. Verglichen mit den Zeitungen davor machte Reismann
einen Schritt zu einem Skandalblatt hin. Siehe DIE GANZE WOCHE,
August 1986, Nr, 34. : Weltstar der Wiener Oper: Gelähmt,
verarmt, verwirrt. - Jahrzehntelang zählte sie zu den schönsten und
besten Mozart- und Strauß – Sängerinnen. Hilde Güden: versteckt
sich - Die Möglichkeiten von Reismann schienen eingeschränkt,
denn das Pauschalieren und Weglassen von Details ist kein
Kennzeichen seines Stils. Er schaffte es trotzdem, die
Vorstellungen des wilden Falk in puncto Skandal - Schreierei
zu mildern. Er schrieb relativ gescheite Kolumnen (Scheibenwischer)
und lancierte und redigierte historische Serien über verschiedene
Epochen. Er schrieb sie auch selber.
In dieser letzten Zeit seines journalistischen Wirkens ist nicht
nur die sprachliche Affirmation deutlich, es werden auch die
Grenzen seiner Anpassung sichtbar. Bei HÖR ZU hatte
Reismann nicht persönlich gegenhalten müssen, doch jetzt
in der GANZEN WOCHE wurde es nötig. Er musste nicht
nur den wohlwollenden Ton für DIE GANZE WOCHE finden,
sondern auch den Herausgeber von der Notwendigkeit
dieses Tons überzeugen. In der GANZEN WOCHE, sagte
Reismann (im Filminterview mit Herwig Libowitzky), bin
ich 19 Jahre geblieben. Das wurde in der Branche als
„kleines Wunder“ bezeichnet. Denn mein Herausgeber Kurt
Falk galt als sehr eigenwilliger Mensch, um nicht zu sagen,
als „Narr“ (…) Die Leute haben mich gefragt: Wie hältst du es
mit diesem Menschen so lange aus? - In dieser Zeitung
stritten offenbar zwei Persönlichkeiten ständig über Details
der Blattlinie und nicht immer zog der Arbeitnehmer gegenüber
dem Arbeitgeber den Kürzeren.
W. Reismann wird als Chronist, nicht als Poet bestehen bleiben.
Peter Rapp sagt über ihn (im Libowitzky – Film): Er hat meine
Karriere mitverfolgt, ich die seine. Er bei HÖR ZU, ich im Fernsehen.
Ich hab mir immer gedacht: Der ist eigentlich kein Journalist,
sondern ein Schriftsteller. - Doch Reismann hat seine Schreibbegabung
nicht ausgereizt. Nachdem Kurt Falk gestorben war, hat er nichts
Neues mehr versucht. Es ist witzig, dass ausgerechnet der
unterschätzte Rapp die diskreten Abweichungen des Reismann
so deutlich erlebt hat. Denn ungewöhnlich waren beide, der
lässige Moderator genauso wie der sorgfältige Lohnschreiber,
trotz ihrer Affirmation. Sie haben durch die Zeiten hindurch
Persönlichkeit bewahrt. Rapp wie Reismann: Gegen die
Anmassungen der Chefs wie gegen den Ansturm der Moderne.
© M.Luksan, Juni 2024
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