Helmuth Schönauer, Gegenwartsliteratur 2627
Der Fotosammler
Eine sehr nahe liegende, aber offensichtlich selten eingesetzte Erzählform ist das
Fantasieren beim Fotoschauen. Wann immer jemand sich durch die ausgedruckten Fotos
oder JPEGS scrollt, es entsteht dabei so etwas wie eine innere Erzählung, halb
Bild-bezogen, halb in die Vergangenheit schweifend.
Martin Luksan macht im übertragenen Sinn seine Fotoschatzkiste auf und lässt neben den
Bildern gleich ganze Geschichten herausspringen. Da geht es auf die Insel Madagaskar,
jemand segelt vielleicht in Muße daran vorbei, aber im politischen Inneren des
Gefüges treten Figuren hervor, die das Land steuern, wenn auch ohne festen
Kurs.
Während man sich noch fragt, wie diese Geschichten zusammengestellt sind, treten wie
in einem Bühnenstück diverse Quellen auf und erzählen von ihren Stärken und
Schwächen. Die Verbindung zwischen der Ethnologie und den Nazis wird
hervorgehoben, dabei entpuppt sich eine irre Rassenlehre oft als Grundlage für ein
Navi, mit dem fremde Gebiete durchforscht werden.
Ein Aufsatz über die Germanistik im Dritten Reich erzählt, warum Vieles in der
Literaturbetrachtung auch heute noch einem militärischen Überdruck untergeordnet
ist.
In dieser Betrachtungsweise haben auch Irrtümer, Sackgassen und Unglücke Platz.
Der Hoffnungsträger Madagaskars stirbt, weil er keine Zukunft mehr sieht, er vergiftet
sich mit Zyankali und fällt aus dem Bild heraus. „Im Todeskrampf fällt er vom
Sessel, auf dem er tot hatte sitzen wollen.“ (61)
Allmählich verfestigen sich die Sequenzen zu einem Bildungsgefüge, worin ein
Icherzähler vermehrt als Erwachsenenbildner auftritt und den Bildungsprozess
einer ganzen Epoche begleitet. Welche Geschichten brauchen wir zum Träumen,
welche Storys sollen uns in die Zukunft begleiten, was hat das vorhandene Wissen
mit uns zu tun?
„Es gibt Dinge, wo die Vorstellung keine Einzelheiten liefert.“ (129) Die Dämmerung
ist vielleicht so ein Zustand. Zwischendurch setzt sich der Erzähler von der Fotokiste
ab und beginnt handfest seine eigene Geschichte zu erzählen. „Jetzt kommt meine
Fantasie.“ (132)
Ein lebenserfahrener Erzähler wird immer fester mit seiner Geschichte und wohl auch
mit der Glaubwürdigkeit seines Erzählfadens. Der Held wird plötzlich mit Wissen
ausgestattet und einer Unsterblichkeit für die Zukunft, denn dieser Held gibt nicht
auf.
Martin Luksan stellt ein beeindruckendes Modell vor, wie man aus lebensprallen
Fotos und Unterrichtsdokumenten einen starken Erzählstrang machen könnte,
der durchaus das Zeug zu einem Haltegriff hat.
Wenn man sich überlegt, wie viele Fotos in den Fotodateien unbeschriftet herumliegen
und darauf warten, dass sie vielleicht bei einem Hackerangriff erlöst und vernichtet
werden, dann schätzt man diese Weisheit des Erwachsenenbildners, dass Bildung
täglich neu verpixelt werden muss. – Eine überzeugende Erzählmethode.
In: schoenauer-literatur.com
| | Der Fotosammler Fantasien | Martin Luksan
Edition Keiper, Graz 2017. S.85-92. |
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